Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Fortschreitende Digitalisierung: Was für ein Scheiß
> Die beknackte Digitalwelt wird immer weiter ausgebaut. Dabei haben wir
> eigentlich eine prima echte Welt, um die wir uns kümmern sollten.
Bild: Tschüss analoge Welt: Demonstration eines digitalen Exo-Skeletts 2019 in…
Für einige Phänomene des Lebens fehlt mir jegliches Verständnis. Neben
religiösem Fanatismus und Duftkerzen zählt dazu auch der Glaube an das Heil
durch [1][Digitalisierung]. Zugegeben, es ärgert mich, dass ich seit 14
Jahren ständig dieselben Anträge für unseren Sohn mit der Hand ausfülle und
per Post verschicke – und dass ich immer noch nicht seine
Krankenkassennummer auswendig weiß. Immerhin muss ich nicht jedes Mal
unsere Adresse nachschlagen, deren Buchstaben ich auf jedem einzelnen Blatt
in zu schmale, schwarz umrandete Rechtecke malen soll.
Ich kann das nicht mit personalisierten Vorlagen online erledigen – aber
woanders bauen sie ein [2][Metaversum]? Wozu, außer um nie wieder in eine
Behörde zu müssen, brauchen wir das bitteschön? Wir haben doch ansonsten
eine prima echte Welt. Vielleicht sollten wir uns erst mal um deren Erhalt
kümmern? Mit dieser beknackten Digitalwelt wollen doch nur wieder Leute
Geld verdienen, indem sie Nutzerdaten sammeln, um uns dann mit Werbung zu
verstrahlen. Ich habe schon lange aufgegeben Cookies abzulehnen, aber ich
räche mich dafür, indem ich NIEMALS eine Anzeige anklicke.
Ich bin ohnehin so sozialisiert worden, keiner [3][Werbung] zu glauben.
„Reine Volksverblödung“ hat mein Vater gesagt. Darum durften wir Zuhause
auch keine Privatsender schauen. Statt Knight Rider zu gucken, waren wir
gezwungen, draußen zu spielen. Und Spinat mit Blubb gab’s auch nie. Eine
schwere Kindheit! Wir kannten natürlich trotzdem alle Werbeslogans, allein
schon, weil die anderen sie ständig aufgesagt und gesungen haben.
Wir hatten zum Glück auch Freunde, wo wir mal sehen konnten wie ein dicker
Mensch durch die Decke kracht, weil er einen falschen Fruchtquark gegessen
hatte. Doch Dank meines Vaters habe ich bis heute eine Kaufhemmung bei
allen stark beworbenen Marken und halte die Existenz von Gefrierbrand für
die Erfindung einer Plastiktütenfirma.
## Lernapps sollen vorteilhaft sein? Kapier ich nicht
Auch meine Tochter würde ich am liebsten von Werbung fernhalten. Natürlich
ist das unmöglich, solange wir nicht in einem Erdloch wohnen – besonders
seit die Schule digital sein soll und Material in kostenlosen Lernapps
hochlädt. Von einem Wettbewerbsmodus und den Reklamebannern abgesehen,
bieten diese aus meiner Sicht nichts, was über Oldschool-Karteikarten für
Vokabeln hinausgeht – trotzdem wird’s gemacht. Kapier ich nicht.
Und wie kann es sein, dass Menschen in Konzerte gehen, wo statt echter
Musiker alterslose Avatare auf der Bühne stehen? So einen Scheiß hätte ich
erst im Metaversum erwartet. Ob es dort noch ganz normale Menschen gibt?
Also mit dickem Hintern, kleinem Busen, Pickeln oder Behinderungen und so?
Solange wir beim Zahnarzt noch Stempelabdrücke in einem Bonusheftchen
brauchen, um bei der Krankenkasse (die jeden dieser Besuche selbst
abgerechnet hat) zu beweisen, dass wir wirklich dort waren, sollten wir
dringend die Finger vom Bau einer virtuellen Parallelwelt lassen. Es
scheint mir so sinnvoll, wie unser Streben nach Unsterblichkeit, obwohl wir
doch noch nicht mal gelernt haben, im Augenblick glücklich zu leben.
Außerdem müssten wir seit [4][Star Trek] Next Generation wirklich wissen,
wie gefährlich das Holodeck sein kann! Aber die Zukunft wiederholt sich ja
bekanntlich, also muss das Metaversum wohl sein.
Mir bleibt nur, meiner Tochter so sehr auf die Nerven zu gehen, wie mein
Vater mir früher, indem ich sie zwinge, wenigstens ihre Kindheit mit echten
Dingen zu verbringen. Zum Glück hat sie Zuhause auch noch ihren brutal
analogen Bruder, der uns vorlebt, wie glücklich man sein kann, ohne
Selbstoptimierung oder Konsum (außer natürlich dem von
High-Carb-Nahrungsmitteln). Willi zeigt uns, dass wir keine pseudo Welt
brauchen, in der wir so sein können, wie wir wollen, sondern nur eine, in
der wir so sein wollen, wie wir sind!
15 Feb 2022
## LINKS
[1] /Digitalisierung/!t5011441
[2] /Facebooks-Metaverse/!5812202
[3] /Werbung/!t5008805
[4] /Star-Trek/!t5018545
## AUTOREN
Birte Müller
## TAGS
Analog-Hipster
Medien
Werbung
Digitalisierung
Schwer mehrfach normal
Games
Schule
Google
Virtual Reality
## ARTIKEL ZUM THEMA
Eine virtuelle Tour durch „Roblox“: Im Cabrio durchs Metaversum
30 Millionen Menschen auf der Welt spielen täglich „Roblox“. Sie züchten
Haustiere, backen Pizzen oder bauen Häuser. Was treibt sie an?
Digitalisierung in Schulen: Eine lernende Organisation
Das Leibniz-Gymnasium in Berlin-Kreuzberg ist Teil eines Modellprojekts zum
digitalen Lernen. Der Weg ist steinig – und birgt Überraschungen.
Vorwürfe gegen Google und Meta: Werbemarkt manipuliert
Mehrere US-Bundesstaaten werfen den Techriesen die Manipulation des
Online-Werbemarkts vor. Führungskräfte sollen an illegalen Absprachen
beteiligt gewesen sein.
Facebooks „Metaverse“: Weniger Demokratie wagen
Das neue „Metaverse“ von Facebook verspricht „echten Blickkontakt“ in
Meetings – birgt aber auch Gefahren für die Autonomie der Nutzer*innen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.