| # taz.de -- Die USA 75 Jahre nach Hiroshima: Die Liebe zur Atombombe | |
| > Noch immer hält sich der Mythos, die Atombomben auf Hiroshima und | |
| > Nagasaki seien nötig gewesen, um den Krieg rasch zu beenden. Und Trump | |
| > rüstet auf. | |
| Bild: Ein Journalist besichtigt im September 1945 Hiroshima, im Hintergrund die… | |
| New York taz | „Es ist frustrierend“, sagt Kai Bird von der New Yorker | |
| Cuny-Universität, „wir haben große nationale Debatten über die Sklaverei, | |
| über den Rassismus, und über Frauenrechte. Aber vor der Atombombe machen | |
| wir halt. Die lieben wir immer noch.“ | |
| [1][75 Jahre nach den Bombardements von Hiroshima und Nagasaki], befinden | |
| sich die USA mitten in der aufwendigsten Modernisierung ihres | |
| Atomwaffenarsenals. Ihr Präsident will die nukleare Abschreckung ausbauen. | |
| Kokettiert mit der Möglichkeit neuer Atomtests. Und hat bereits drei | |
| atomare Abrüstungsabkommen aufgekündigt. Ein viertes – das letzte bislang | |
| verbliebene – will er im nächsten Jahr auslaufen lassen. | |
| Donald Trump wiederholt auch, was Generationen von Präsidenten vor ihm | |
| gesagt haben, dass nämlich die Atombomben den Krieg beendet und für globale | |
| Stabilität gesorgt hätten. | |
| „Mythen“, kontern Bird und drei andere auf Atomfragen spezialisierte | |
| Historiker von verschiedenen US-Universitäten. Sie haben ihr Leben lang | |
| über die Bomben geforscht. Zum Jahrestag veranstalten sie jetzt Webinare, | |
| um ihre Landsleute mit den historischen Fakten zu konfrontieren. | |
| ## Es ging nicht um Japans Kapitulation | |
| Ihre Forschung widerspricht der Darstellung, dass die Atombomben notwendig | |
| und gerechtfertigt waren. Sie wissen, dass Japan im Frühsommer 1945 | |
| militärisch am Boden war. Dass es bereits mehrfach seine Bereitschaft | |
| signalisiert hatte zu kapitulieren – immer vorausgesetzt, es könnte Kaiser | |
| Hirohito behalten. Und dass außerdem Stalin für Anfang August 1945 | |
| angekündigt hatte, Tokio den Krieg zu erklären, was die japanische | |
| Niederlage noch weiter beschleunigt hätte. „Präsident Harry Truman wusste | |
| all das“, sagt Historiker Peter Kuznick: „er hat es in seinem Tagebuch und | |
| an seine Frau geschrieben. Aber er wollte die Bomben“. | |
| Generationen von Schulkindern in den USA haben gelernt, dass die Bomben am | |
| 6. und 9. August 1945 den Krieg beendet haben. Und dass sie eine Invasion | |
| abgewendet hätten, die blutig geworden wäre. Auch PolitikerInnen aller | |
| Parteien sehen weiterhin den Nutzen der Atombombenabwürfe, die | |
| Hunderttausende ZivilistInnen verstrahlten und töteten. Die Demokratin | |
| Susan Rice schrieb in ihrer kürzlich erschienenen Autobiographie, dass | |
| Präsident Truman damit ihrem Vater einen Kampfeinsatz in Japan erspart | |
| habe. | |
| „Es ist die alte Geschichte des amerikanischen Exzeptionalismus“, sagt | |
| Kuznick, „darin können wir nur Kriege führen, die ‚gut‘ sind“. Der Ch… | |
| Nuclear Studies Institute an der American University in Washington, DC, | |
| reist jedes Jahr mit StudentInnen nach Hiroshima und Nagasaki (dieses Jahr | |
| musste er die Reise wegen er Pandemie zum ersten Mal streichen). Nach | |
| seiner Ansicht steigen die Chancen auf die überfällig atomkritische Debatte | |
| in den USA mit dem Faktor Zeit. Weil jüngere AmerikanerInnen kritischer | |
| seien und weil die Veteranen des Zweiten Weltkriegs allmählich abtreten. | |
| Im Jahr 1995 bestimmten die Veteranen noch die Auseinandersetzung mit den | |
| Atombomben. Als das Smithonian Institutiion in Washington zum 50 Jahrestag | |
| eine Ausstellung organisierte, die sich nicht nur mit dem Heldentum der | |
| US-amerikanischen Kriegspiloten, sondern auch mit dem Leiden der Opfer in | |
| Japan befasste, liefen US-amerikanische Veteranenverbände Sturm. Die | |
| Ausstellung wurde abgesagt. | |
| ## Neue Atomwaffen als Top-Priorität | |
| Dieses Mal sorgt Trump für die komplizierte Gemengelage. Er hat die von | |
| seinem Amtsvorgänger eingeleitete atomare Modernisierung massiv | |
| aufgestockt. Barack Obama war in Atomfragen hin und her gerissen. Zu Beginn | |
| seiner Amtszeit sprach er von einer „atomwaffenfreien Welt“. [2][Später | |
| besuchte er, als erster US-Präsident im Amt, Hiroshima.] Aber dann stimmte | |
| er der Modernisierung des us-amerikanischen Atomwaffenarsenals zu, lehnte | |
| allerdings den Bau neuer Atomwaffen ab. | |
| Heute nennt Trumps Verteidigungsminister Marc Esper die Modernisierung und | |
| die Entwicklung neuer Waffen eine „Top-Priorität um das amerikanische Volk | |
| zu schützen.“ Unter anderem wollen die USA in den nächsten Jahren neue | |
| atomare Sprengköpfe für U-Boote und für bodengestützte Raketen entwickeln. | |
| Nach gegenwärtigem Stand wird die auf 30 Jahre angelegte Modernisierung | |
| mehr als 1.6 Billionen Dollar verschlingen. | |
| Dass diese atomare Aufrüstung andere Länder unter Druck setzen wird, ist | |
| dabei einkalkuliert. „Wir wissen, wie man Rüstungswettläufe gewinnt“, sag… | |
| Trumps neuer internationaler Experte für Atomwaffen, Marshall Billingslea | |
| im Frühjahr in Wien. | |
| Nachdem sämtliche US-Präsidenten, Republikaner wie Demokraten, seit dem | |
| Ende des Zweiten Weltkriegs gesagt haben, dass ein neuerlicher Einsatz von | |
| Atombomben verhindert werden müsse und nachdem alle versucht haben, neue | |
| internationale Mechanismen zu diesem Zweck zu schaffen, geht Trump in die | |
| entgegengesetzte Richtung. Er ist aus zahlreichen internationalen Abkommen | |
| ausgetreten – darunter auch aus den für Atomwaffenkontrolle relevanten | |
| Verträgen. | |
| ## Trump und der Rückzug aus internationalen Abkommen | |
| Trump hat das [3][Atomabkommen mit dem Iran] verlassen, hat den von Ronald | |
| Reagan unterzeichneten [4][INF-Vertrag] über Mittelstreckenraketen | |
| ausgesetzt und hat den [5][Open Skies Vertrag] verlassen, mit dem die | |
| Unterzeichnerstaaten gegenseitig ihre Rüstungsvorräte überwachen. | |
| Als nächstes schickt er sich an, den neuen [6][START-Vertrag], über die | |
| Reduzierung der atomaren Waffenarsenale von Russland und USA, im Februar | |
| auslaufen zu lassen. Obama hatte das bilaterale Abrüstungsabkommen 2010 mit | |
| Moskau unterzeichnet. Trump sagt, er sei nur zu einer Verlängerung bereit, | |
| wenn auch China betreten würde. Es ist eine Pose. Denn auch er weiß, dass | |
| China daran kein Interesse hat. | |
| „Ohne die internationalen Verträge, die für Inspektionen und andere | |
| Kontrollen sorgen, fallen wir in die 60er Jahre zurück“, warnt Martin | |
| Sherwin, Geschichtsprofessor an der George Mason Universität in Washington. | |
| Sherwin glaubt, dass die Initiative zu einem Ende des atomaren Wettrüstens | |
| aus den USA kommen muss. | |
| „Wir halten an unserer Erstschlagdoktrin fest und wir verstehen uns | |
| weiterhin als Weltpolizist“, sagt er, „damit sind wir zugleich das Problem | |
| und die einzige Nation, die potenziell für eine Marginalisierung oder | |
| Abschaffung von Atomwaffen sorgen kann“. | |
| ## Der lang gehegte Mythos der gerechtfertigten Atombomben | |
| Der Mythos von den gerechtfertigten Atombomben reicht in die 40er Jahre | |
| zurück. Kurz vor den Bombardements von Hiroshima und Nagasaki sprachen sich | |
| sieben der acht Fünf-Sterne Generäle von US-Navy und Armee dagegen aus. Sie | |
| nannten die Atombomben militärisch unnötig und moralisch verwerflich. „Die | |
| Japaner sind bereit, zu kapitulieren“, sagte der spätere Präsident, General | |
| Dwight Eisenhower bei der Potsdamer Konferenz im Juli 1945: „es ist nicht | |
| nötig, sie mit diesem schrecklichen Ding zu schlagen“. | |
| Admiral William Leahy, der Truman als Stabschef diente, schrieb in seinen | |
| Memoiren: „Der Einsatz dieser barbarischen Waffe in Hiroshima und Nagasaki | |
| hatte keinen materiellen Nutzen in unserem Krieg gegen Japan. Die Japaner | |
| waren schon besiegt und bereit, zu kapitulieren.“ | |
| Aber Trumans Außenminister James Byrnes drängte zu dem Einsatz. Er wollte | |
| die US-Position bei den Verhandlungen über die Nachkriegsordnung in Europa | |
| verbessern und gegenüber der Sowjetunion Stärke zeigen. Und er wollte nicht | |
| zulassen, dass Stalin, der nach seiner Kriegserklärung gegen Japan in | |
| rasanter Geschwindigkeit die japanisch besetzten Gebiete in China und Korea | |
| eroberte, wie der Sieger des Kriegs im Pazifik aussähe. | |
| Die große US-Öffentlichkeit bejubelte zunächst die Atombomben auf Japan. | |
| Doch die Stimmung schlug in ihr Gegenteil um, als der New Yorker im Jahr | |
| 1946 eine erschütternde [7][Reportage von John Hersey] über die Opfer in | |
| Hiroshima veröffentlichte. | |
| ## „Veränderung kann nur von unten kommen“ | |
| Wenig später begann die publizistische Gegenoffensive. Kriegsminister Henry | |
| Stimson veröffentlichte einen [8][Text im Harper's Magazine]. Darin legte | |
| er das Fundament für den Mythos, der sich bis heute gehalten hat. Wider | |
| besseres Wissen schrieb Stimson damals, dass Japan erst wegen der | |
| Atombomben kapituliert habe und dass es ohne die Bomben zu einer | |
| Bodeninvasion mit Hunderttausenden toten US-Soldaten gekommen wäre. Der | |
| Kalte Krieg hatte begonnen. In den USA sollten Schulkinder bald lernen, | |
| dass sie bei einem sowjetischen Atomangriff unter ihr Pult flüchten sollten | |
| – [9][„duck and cover“]. | |
| Es war das vorläufige Ende der Diskussion über Atomwaffen in den USA. Erst | |
| in den 1960er und dann erneut in den 1980er Jahren flackerte sie erneut | |
| auf. Am 12. Juni 1982 demonstrierte eine Million Menschen in New York gegen | |
| den atomaren Rüstungswettlauf im Kalten Krieg. | |
| Der politische Ökonom Gar Alperovitz, der vierte im Bund der Historiker, | |
| ist überzeugt, dass die Welt in den letzten 75 Jahren ganz einfach Glück | |
| gehabt hat, dass es zu keiner atomaren Konfrontation gekommen ist. „Das | |
| wird nicht noch einmal so lange gut gehen“, prophezeit der Autor von | |
| „Atomic Diplomacy: Hiroshima and Potsdam“ und „The Decision to Use the | |
| Atomic Bomb“. | |
| Von den Spitzen von Politik und Militär erwartet Alperovitz keine | |
| Kehrtwende. Die Atombombenproduktion und Lagerung in den USA ist so | |
| „gerecht“ über fast alle Bundesstaaten des Landes verteilt, dass die | |
| Mehrheit der gewählten PolitikerInnen – DemokratInnen und RepublikanerInnen | |
| – dadurch Arbeitsplätze und Steuergelder in ihren Wahlkreisen haben. Die | |
| Veränderung, sagt Alperovitz, kann nur von unten kommen. | |
| 6 Aug 2020 | |
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| [7] https://www.newyorker.com/magazine/1946/08/31/hiroshima | |
| [8] https://harpers.org/archive/2017/12/terms-of-surrender/ | |
| [9] https://www.youtube.com/watch?v=zMnKNHNfznE | |
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