# taz.de -- Konferenz zur atomaren Abrüstung: Die Weltuntergangsuhr tickt | |
> Die fünf Atommächte haben sich darauf geeinigt, ein weitere Verbreitung | |
> von Atomwafffen zu verhindern. Doch die gemeinsame Erklärung ist eine | |
> Farce. | |
Bild: Noch immer ein Thema: Aktivist:innen demonstrieren für die Abschaffung v… | |
GENF taz | Die seit fast zwei Jahren grassierende Coronapandemie hat nicht | |
nur die Gefahren von Atomwaffen weitgehend aus dem Medien und dem | |
öffentlichen Bewusstsein verdrängt, sondern auch die Befassung der | |
internationalen Staatengemeinschaft mit diesem drängenden Problem | |
verhindert. Am Dienstag, statt wie ursprünglich geplant im April 2020, | |
sollte in der New Yorker UNO-Zentrale die 10. Konferenz zur Überprüfung des | |
Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NPT) beginnen, auch bekannt als | |
Atomwaffensperrvertrag. Allerdings wurde sie Ende 2021 noch einmal | |
verschoben, voraussichtlich auf August oder September. | |
Am Montag veröffentlichten die fünf ständigen Vetomächte des | |
UN-Sicherheitsrates (P5) dennoch eine gemeinsame Erklärung: Der Inhalt, sie | |
seien bereit zu atomarer Abrüstung und wollen eine weitere Verbreitung von | |
Atomwaffen verhindern, [1][steht dabei dermaßen im Widerspruch] zu ihrem | |
tatsächlichen Handeln, dass sie die große Mehrheit der übrigen 186 | |
NPT-Vertragsstaaten wohl kaum beeindrucken werden. | |
Seit der Aushandlung des NPT im Jahr 1968 und seinem Inkrafttreten im März | |
1970 verpflichteten sich 186 Staaten mit ihrem Beitritt zum Verzicht auf | |
Atomwaffen. Im Gegenzug wird ihnen die „uneingeschränkte Nutzung“ der | |
Nukleartechnologie für „zivile Zwecke“ wie etwa für die Energiegewinnung | |
garantiert. Die fünf Vetomächte im UN-Sicherheitsrat USA, Sowjetunion, | |
Frankreich, Großbritannien und China, die bis zum 1. Januar 1970 bereits | |
atomare Sprengsätze gezündet hatten, sicherten sich mit dem NPT den | |
exklusiven Status einer offiziellen Atomwaffenmacht. Allerdings | |
verpflichteten sich die fünf Mächte auch zu Verhandlungen zur Abrüstung der | |
eigenen Atomwaffen. | |
Dem NPT nicht beigetreten sind lediglich Israel, Indien und Pakistan, die | |
seit 1970 zu „inoffiziellen“ Atomwaffenstaaten wurden, sowie der 2011 nach | |
der Abspaltung vom Sudan neu entstandene Staat Südsudan. Nordkorea, das | |
inzwischen auch Atomsprengköpfe getestet hat, verkündete 2003 seinen | |
Austritt aus dem Abkommen. | |
Die NPT-Konferenzen, die von 1970 bis 2015 regelmäßig alle fünf Jahre | |
durchgeführt wurden, dienen zur Überprüfung der Umsetzung des Abkommens und | |
seiner Einhaltung durch die insgesamt 191 Vertragsstaaten. Als erfolgreich | |
gilt die Konferenz, wenn sie mit einer im Konsens aller Teilnehmerstaaten | |
beschlossenen Abschlusserklärung endet. Das gelang bereits 2015 nicht, weil | |
die fünf offiziellen Atomwaffenmächte ihre Abrüstungsverpflichtungen des | |
NPTs nach Einschätzung einer großen Mehrheit der anderen 186 | |
Vertragsstaaten nicht oder nur völlig unzureichend erfüllen. | |
Noch schlechter waren die Voraussetzungen für einen Erfolg zum | |
ursprünglichen Termin der 10. Konferenz im April 2020. Denn damals waren | |
die USA unter Präsident Donald Trump und in der Folge auch Russland aus dem | |
1987 vereinbarten INF-Abkommen zum Verbot landgestützter | |
Mittelstreckenraketen ausgestiegen, einem der wichtigsten | |
Rüstungskontrollabkommen aus der Zeit des Kalten Krieges. Inzwischen | |
betreiben beide Seiten erneut die Entwicklung oder gar bereits die | |
Stationierung von potenziell mit Atomsprengköpfen bestückbaren | |
Mittelstreckenraketen. | |
Auch die Hoffnung auf eine friedliche und nachhaltige Beilegung des | |
Konflikts um Irans nukleare Aktivitäten durch das 2015 unter Obama | |
ausgehandelte Abkommen zur verlässlichen Begrenzung dieser Aktivitäten auf | |
ausschließlich zivile Zwecke waren durch den 2018 vollzogenen Austritt der | |
Trump-Administration wieder verflogen. In den vergangenen zwei Jahren haben | |
sich die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen | |
Abschluss der NPT-Überprüfungskonferenz noch weiter verschlechtert. | |
Denn „sowohl die USA und Russland als auch praktisch jeder andere atomar | |
bewaffnete Staat ist mitten in teuren und umfangreichen nuklearen | |
Modernisierungskampagnen, die mit wachsenden Atomwaffenzahlen in den | |
militärischen Lagern enden“, stellte das renommierte Stockholmer | |
Internationale Friedensforschungsinstitut (Sipri) in seinem Jahresbericht | |
2021 fest. Und auch die vier inoffiziellen Atomwaffenmächte Indien, | |
Pakistan, Israel und Nordkorea rüsten laut Sipri atomar auf. | |
Zwar sank die Anzahl nuklearer Waffen im Vergleich zum Vorjahr, besorgt ist | |
die Sipri aber vor allem über die Zahl der „einsatzbereiten“ | |
Atomsprengköpfe, die bereits auf Raketen montiert sind oder sich auf | |
aktiven Stützpunkten befinden. Ihre Zahl stieg im Jahresvergleich 2020 auf | |
2021 von 3.720 auf 3.825. Bei den USA und Russland kamen jeweils rund 50 | |
hinzu. Etwa 2.000 dieser Sprengköpfe werden Sipri zufolge in höchster | |
Einsatzbereitschaft gehalten, fast alle von Russland und den USA. | |
Bei der verharmlosend als „Modernisierung“ bezeichneten atomaren Aufrüstung | |
werden immer mehr Waffensysteme entwickelt, die zerstörungsstärker, | |
zielgenauer, schneller und flexibler einsetzbar sind als ihre Vorgänger – | |
und damit gefährlicher und unberechenbarer für den Gegner. Das gilt für die | |
geplanten Nachfolgesysteme der US-Atombomben in Rheinland-Pfalz, für deren | |
Einsatz auch die Ampelkoalition neue Kampfflugzeuge anschaffen will, ebenso | |
wie die von Russland entwickelte Hyperschallrakete „Zirkion“, die mit einer | |
Geschwindigkeit von 10.000 Stundenkilometern dem Gegner jede Vorwarnzeit | |
und Abwehrchance nimmt. Derartige Waffen senken die Schwelle zum Einsatz | |
und bewirken das Gegenteil von „Stabilität und Vorhersehbarkeit“, die die | |
P5 laut ihrer gemeinsamen Erklärung angeblich anstreben. | |
Über Chinas Atomwaffenbestrebungen gibt es bislang kaum offizielle | |
Informationen der Regierung in Peking. Laut Sipri mehren sich allerdings | |
die Indizien, dass China anstrebt, die Zahl seiner weitreichenden, nuklear | |
bewaffneten ballistischen Raketen zu verdoppeln oder zu verdreifachen. | |
Möglicherweise auf bis zu 1.000 einsatzfähige Raketen mit atomaren | |
Sprengköpfen bis zum Jahr 2030. China werde „sein Atomwaffenarsenal aus | |
Gründen der Zuverlässigkeit und Sicherheit weiterhin modernisieren“, | |
erklärte Fu Cong, Leiter der Abteilung für Rüstungskontrolle im | |
chinesischen Außenministerium, am Dienstag in Peking. | |
Eine Umsetzung dieser chinesischen Pläne dürfte die Bedrohungswahrnehmungen | |
und die atomaren Aufrüstungsbefürworter im benachbarten Indien stärken. | |
Indien und China haben zahlreiche Konflikte über die Wasserressourcen im | |
Tibet-Hochland und den Grenzverlauf zwischen beiden Ländern. Eine atomare | |
Aufrüstung Indiens würde wiederum zu entsprechenden Maßnahmen beim | |
benachbarten Erzfeind Pakistan führen. Neben China betreiben auch | |
Frankreich und Großbritannien teure Programme zur „Modernisierung“ ihrer | |
Atomwaffenarsenale. Alle drei Staaten verweigern bis heute mit Blick auf | |
ihre Atomwaffen jegliche Teilnahme an bilateralen oder multilateralen | |
Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen. | |
Ohne Ergebnis, mehr Konfliktpotenzial | |
Auch die aktuelle Entwicklung des Konflikts um das iranische | |
Nuklearprogramm dürfte einen Konsens bei der NPT-Überprüfungskonferenz eher | |
erschweren. Die Verhandlungen zur Rettung des 2015 unter US-Präsident Obama | |
vereinbarten Abkommens treten seit Monaten auf der Stelle und drohen | |
endgültig zu scheitern. Damit wächst die Gefahr einer militärischen | |
Auseinandersetzung mit dem Iran, möglicherweise unter Beteiligung der USA, | |
Israels, Saudi-Arabiens und anderer Golfstaaten. | |
Um ein solches oder ähnliche Konfliktszenarien zu verhindern, hatte bereits | |
die Überprüfungskonferenz 2010 den UNO-Generalsekretär aufgefordert, | |
spätestens 2012 eine Konferenz einzuberufen über die Schaffung einer | |
massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten. Wegen der | |
– von Washington unterstützten – Weigerung Israels, an einer solchen | |
Konferenz teilzunehmen, hat sie bis heute nicht stattgefunden. Auch von | |
einer Umsetzung dieses zwölf Jahre alten Beschlusses werden viele | |
Teilnehmerstaaten der aktuellen NPT-Konferenz ihre Zustimmung zu einer | |
Abschlusserklärung abhängig machen. | |
133 der 191 NPT-Vertragsstaaten haben 2017 das UNO-Abkommen zum | |
vollständigen Verbot von Atomwaffen unterzeichnet | |
(Atomwaffenverbotsvertrag), das im Januar letzten Jahres in Kraft getreten | |
ist. Damit haben sich die Rahmenbedingungen für den internationalen Diskurs | |
über Atomwaffen verändert. Die Delegationen der USA, Deutschlands und | |
anderer Nato-Staaten bei der NPT-Konferenz wollen dem Vernehmen nach ihre | |
scharfen Angriffe auf das UNO-Verbotsabkommen und seine angebliche | |
„Unvereinbarkeit“ mit dem NPT nicht fortsetzen, um eine Polarisierung zu | |
vermeiden. | |
Bereits angesichts der gefährlichen Lage Anfang 2020 stellten die | |
Atomwissenschaftler des US-amerikanischen „Bulletin of Atomic Scientists“ | |
damals die Zeiger ihrer Weltuntergangsuhr auf 100 Sekunden vor 12 Uhr – so | |
nah wie noch nie, seit diese Uhr 1947 in Betrieb genommen wurde. Anfang | |
2021 wiederholten sie diese Einstellung. Sollte die NPT-Konferenz Ende | |
dieses Monats ergebnislos enden, würde das älteste und gemessen an der Zahl | |
seiner Vertragsstaaten multilateralste Abkommen zur Eindämmung der atomaren | |
Gefahren noch weiter geschwächt. Dann werden sie die Zeiger der | |
Weltuntergangsuhr wahrscheinlich noch weiter vorrücken. | |
4 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Vor-Konferenz-zur-atomaren-Abruestung/!5825663 | |
## AUTOREN | |
Andreas Zumach | |
## TAGS | |
Verbot von Atomwaffen | |
Abrüstung | |
Schwerpunkt Iran | |
Atomwaffen | |
António Guterres | |
Verbot von Atomwaffen | |
Verbot von Atomwaffen | |
Verbot von Atomwaffen | |
Atomwaffen | |
Heiko Maas | |
Hiroshima | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
US-Vorwürfe an Russland: Verstoß gegen Abrüstungsvertrag | |
Die USA werfen Russland vor, keine Inspektionen im Rahmen des | |
Abrüstungsvertrags „New Start“ mehr zuzulassen. Moskau macht dafür die | |
Sanktionen verantwortlich. | |
Atomwaffenkonferenz in New York: Wachsende Bedrohung | |
Bei einer Konferenz zum Atomwaffensperrvertrag warnen Politiker und | |
Diplomaten vor nuklearer Eskalation. Abrüstung scheint in weiter Ferne. | |
Aktivist über Atomwaffenverbotsvertrag: „Sehr starke Botschaften“ | |
Leo Hoffmann-Axthelm ist zufrieden: Bei der ersten Staatenkonferenz zu | |
einem Atomwaffenverbot habe die Bundesregierung einen guten Auftritt | |
hingelegt. | |
Weltweites UNO-Atomwaffenverbot: Gegen den Trend zur Aufrüstung | |
Die Vertragsstaaten des UNO-Abkommens beschließen bei einer Konferenz | |
Zusatzvereinbarungen. Die Bundesregierung bleibt bei ihrem Nein. | |
Ampel-Haltung zu Nuklearwaffen: Der grüne Atom-Spagat | |
Am Dienstag beginnt die erste Staatenkonferenz des | |
Atomwaffenverbotsvertrags, mit einem Beobachter des Außenamts. Die | |
Teilnahme ist umstritten. | |
Vor Konferenz zur atomaren Abrüstung: Leere Versprechen | |
Die Erklärung der fünf offziellen Atomwaffenstaaten, eine Welt ohne | |
Atomwaffen zu erreichen, ist irreführend. Das Gegenteil passiert. | |
Stockholm-Initiative zu Atomwaffen: Standleitungen statt Armdrücken | |
Bei der atomaren Abrüstung folgt Außenminister Maas mit der | |
Stockholm-Initiative einer Strategie der kleinen Schritte. Zu kleinen, | |
sagen Kritiker | |
Die USA 75 Jahre nach Hiroshima: Die Liebe zur Atombombe | |
Noch immer hält sich der Mythos, die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki | |
seien nötig gewesen, um den Krieg rasch zu beenden. Und Trump rüstet auf. |