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# taz.de -- Die Katastrophe der ersten Atombombe: Little Boy, little Girl
> Vor 75 Jahren explodierte die Atombombe über Hiroshima. Im Friedenspark
> wirbt vor allem die Statue eines kleinen Mädchens für den Weltfrieden.
Bild: Hiroshima nach Abwurf der Bombe
Es kann heiß werden in Hiroshima. Die Hafenstadt liegt ziemlich weit im
Süden des japanischen Archipels, auf derselben Breite wie Los Angeles,
Marokkos Hauptstadt Rabat oder die Insel Kreta. Im August klettert die
Quecksilbersäule leicht auf einen Wert von 32 Grad und mehr.
Nobuko Oshita hat sich deshalb selbst eine luftige Schuluniform für die
Sommermonate genäht. Der Unterricht in der Ersten Mädchen-High-School der
Präfektur Hiroshima ist Anfang August 1945 allerdings ausgesetzt. Zusammen
mit ihren Klassenkameradinnen ist die 13-Jährige an diesem Montag schon in
den frühen Morgenstunden in die Innenstadt gegangen.
Bis auf wenige Ausnahmen sind dort fast alle Häuser noch traditionell aus
Holz gebaut – und wie durch ein Wunder bislang von US-amerikanischen
Luftangriffen praktisch vollständig verschont geblieben. Nun sollen die
Jugendlichen Häuser abbrechen und Feuerschneisen legen, um bei einem
Angriff das Schlimmste zu verhindern. Auch Tetsuo Kitabayashi ist zu dieser
Arbeit eingeteilt. Der Zwölfjährige hat sich eine Wasserflasche an seinen
Einsatzort mitgebracht.
Selbst Shininchi Tetsutami ist schon am frühen Morgen vor dem Haus der
Familie mit seinem Dreirad unterwegs. Schließlich ist es ein sonniger
Morgen – und die Eltern des Zweijährigen halten die drei B29-Bomber der
US-Luftwaffe für harmlose Aufklärungsflieger. Schließlich hat die
staatliche Radarüberwachung den Luftalarm für Hiroshima wieder aufgehoben.
Und um Treibstoff zu sparen sind – anders als früher im Zweiten Weltkrieg –
keine Abfangjäger der angezählten Japaner mehr aufgestiegen.
Das Dreirad von Shininchi Tetsutami gibt es heute noch. Als „Little Boy“,
wie die US-Piloten die vier Tonnen schwere Uranbombe mit der Sprengkraft
von 12.500 Tonnen TNT nennen, [1][am 6. August 1945 um 8.16 Uhr und zwei
Sekunden in 600 Metern Höhe und 250 Meter von ihrem geplanten Zielpunkt
entfernt explodiert], wird das Dreirad mit seinem kleinen Besitzer von
einem heißen Lichtblitz regelrecht verbrannt.
## Die Wucht der Bombe
Der Lichtball in der Luft mit einem Durchmesser von 250 Metern ist im Kern
mehr als 1 Million Grad heiß. Temperaturen von 3.000 bis 4.000 Grad, die
Druckwelle und die radioaktive Strahlung verdampfen an der Erdoberfläche
70.000 bis 80.000 Menschen im Umkreis von 500 Metern. Der folgende
Feuersturm zerstört 70.000 Häuser. Und der als Hitzewolke aufsteigende
Atompilz kontaminiert mit seinem nachfolgenden Fallout noch größere
Gebiete. Bis zum Jahresende sterben insgesamt 140.000 Menschen, so schätzt
man.
Die Verantwortlichen des Manhattan-Projekts – [2][des
US-Atomwaffenprogramms] – haben Ähnliches erwartet: „Little Boy“ ist der…
heikel, dass der Chef des Abwurfteams, Captain William S. Parsons, die
Sprengladungen und Zünder erst auf dem Flug nach Japan angebracht hat.
Tetsuo Kitabayashi ist 600 Meter von der Detonation entfernt. Obgleich
schwer verletzt, kann er sich in den nächsten Stunden bis in die Nähe
seines Elternhauses durchschlagen. Seine Eltern verbinden notdürftig seine
Wunden. Aber am nächsten Tag ist er tot. Nur seine Wasserflasche bleibt
zurück und liegt heute hinter Glas im Friedensmuseum neben dem Ground Zero
in Hiroshima.
Dort hängt auch die Schuluniform von Nobuko Oshita. Das Mädchen hat es 800
Meter entfernt von hier erwischt. Sie ist zu einer Fabrik geflohen. Männer
eines Rettungstrupps haben sie nach Hause gebracht. Dort ist sie gestorben.
Ebenso wie der kleine Shininchi Tetsutami, auch wenn der in 1,5 Kilometer
Entfernung von Ground Zero gespielt hatte. Sein Vater bringt es nicht übers
Herz, den Kleinen allein in ein leeres Grab zu legen. Shininchi kommt im
Garten der Familie unter die Erde – zusammen mit seinem Dreirad. Erst 40
Jahre später wird er exhumiert und ins Familiengrab umgebettet. Sein
Dreirad kommt ins Museum.
Fast mit klinischer Präzision haben die Kuratoren des Friedensmuseums
recherchiert, wie der Abwurf der ersten Atombombe das Leben der Menschen in
Hiroshima für immer verändert. Es ist die Nüchternheit, die Besuchern auch
ein Dreivierteljahrhundert später noch kalte Schauer über den Rücken und
nicht wenigen Tränen in die Augen treibt. An verschiedenen Stellen liegen
Taschentücher aus für diejenigen, die es übermannt. Dies ist kein Ort für
Schuldzuweisungen. Die aggressive japanische Expansionspolitik und der
Angriff auf Pearl Harbor kommen ebenso wenig zur Sprache wie Vorwürfe an
die Amerikaner. Ausführlich wird vielmehr spätere zivile Hilfe durch das
Internationale Rote Kreuz und US-Hilfsorganisationen thematisiert.
## Im Friedenspark
Es ist ein Ort zum Schweigen und Entsetzen darüber, dass noch immer
Hunderte Atomsprengköpfe in den Arsenalen der Militärs – auch im
rheinland-pfälzischen Büchel – lagern. Nur die große Friedensglocke drauß…
im Park durchbricht die Stille, die mancher Tourist nur schwer erträgt.
Kaum zu glauben, dass Hiroshima außerhalb des Friedensparks heute eine
beliebte Millionenstadt ist. Die Aioibrücke – das eigentliche Abwurfziel –
hat man leicht reparieren können. Sie ist erst 35 Jahre später durch einen
Neubau ersetzt worden. Daneben erinnert eigentlich nur noch die
Backsteinruine der Industrie- und Handelskammer an die Detonation. Man hat
sie als Mahnmal stehen lassen. Vom Friedenspark rumpelt die Straßenbahn
durch belebte überdachte Geschäftsstraßen mit Hunderten kleinen Läden und
Garküchen zum Hauptbahnhof.
„In Hiroshima kann man wirklich gut leben“, sagt unterwegs der
Gesundheitsökonom Andreas Scheller. Der Professor für Public Health &
Welfare ist auf dem Weg zur Arbeit an der Hiroshima International
University, wo er Japanern die Vorzüge des deutschen Gesundheitswesens
vermittelt. Seit Jahren wohnt er mit Familie in der Stadt. Die Spätfolgen
der Strahlung ließen sich bis heute im Boden und Grundwasser nachweisen,
glaubt er. Aber eine ernsthafte Gefahr gebe es nicht.
Es sind eher die mentalen Spätfolgen, die manche Opfer – in Japan nennt man
sie Hibakusha – bis heute quälen. Viele können nach der Detonation nicht
die Leichen ihrer Angehörigen bergen. Tausende Opfer sind komplett
zerstrahlt. Oft ist nur ein Schatten der Körper an Hauswänden erhalten
geblieben. Schuldgefühle und Lethargie sind weit verbreitet.
Viele Überlebende entwickeln Jahre später Grauen Star, Haarausfall, innere
Blutungen. Die Betroffenen – und selbst ihre Kinder, denen man
fälschlicherweise Gendefekte unterstellt – werden in der japanischen
Gesellschaft jahrzehntelang stark diskriminiert. Erst ab 1968 erhalten sie
kostenlose medizinische Versorgung. Manche geben sich den Behörden aus
Scham erst jetzt zu erkennen.
## Tausend elegant gefaltete Flieger
Sadako Sasaki übersteht die Detonation unbeschadet. Als der Feuerball über
der Stadt explodiert, spielt die Zweijährige in ihrem Elternhaus in 1.600
Metern Entfernung. Während sie in den Armen ihrer Mutter aus dem
Feuerinferno entkommt, geht der tückische schwarze Regen über beiden
nieder. Trotzdem wächst Sadako zu einem athletischen Mädchen heran. Sie
gehört zu den sportlich leistungsstärksten Kindern in ihrer Klasse.
Als Sadako sich im November 1954 eine leichte Erkältung einfängt, denken
sich ihre Eltern und Geschwister deshalb zunächst wenig dabei. Aber die
Symptome wollen nicht weggehen. Am Nacken bilden sich Beulen wie bei Mumps.
Erst eine gründliche Untersuchung im Februar 1955 bringt Gewissheit:
„Leukämie, längstens ein Jahr zu leben, Hospitalisierung dringend
empfohlen.“
Sadako Sasaki hat schon viel mitgemacht, als am 3. August ein dicker
Briefumschlag mit gefalteten Papierkranichen im Krankenhaus des Roten
Kreuzes in Hiroshima eintrifft. Die gelten in Japan seit alters her als
Glücksbringer. Wer tausend dieser eleganten Flieger falte, der dürfe sich
etwas wünschen, erzählt jemand der inzwischen Zwölfjährigen, um sie zu
trösten.
Sadako Sasaki beginnt mit der Arbeit. 1.600 Kraniche faltet sie in den
nächsten 10 Wochen, und hofft bis zum Schluss. Mitte Oktober steigt ihr
Fieber auf über 40 Grad. Sie verliert allen Appetit. Am 24. Oktober
schwillt ihr linkes Bein an zu einem riesigen schweren Klumpen. Am nächsten
Morgen ist es vorbei. Die örtliche Zeitung vermerkt lapidar „Tod eines
Patienten mit A-Bomben-Schäden“.
Aber Sadako Sasaki wird nicht vergessen. Ihre Freundinnen falten weiter
Origamikraniche und ihre Geschichte rührt bald Menschen auf der ganzen
Welt. Über 3.000 Schulen spenden in den Folgejahren 5,4 Millionen Yen für
ein Friedensdenkmal der Kinder. Am 5. Mai 1958 entfaltet Sadako Sasaki
unweit von Ground Zero als Plastik ihre Flügel. In den Schaukästen darum
herum werden die Papierkraniche ausgestellt, die Kinder in Erinnerung an
sie und in der Hoffnung auf Frieden gefaltet haben. Auch Exemplare aus
Deutschland waren zu bewundern.
8 Aug 2020
## LINKS
[1] /Atombombenabwurf-in-Japan/!5700243
[2] /Die-USA-75-Jahre-nach-Hiroshima/!5705679
## AUTOREN
Martin Wein
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Hiroshima
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