| # taz.de -- Die Potsdamer Straße als neue Toplage: Warten auf das Wirtschaftsw… | |
| > Schmuddelkind, schick – die Potsdamer Straße ist beides. Auch Sony Music | |
| > richtet sich nun hier ein, „Im Wirtschaftswunder“ heißt das Bauprojekt. | |
| Bild: Hinter der Hochbahn bereits im Umbau zum „Wirtschaftswunder“, die alt… | |
| Aus der Ferne sieht es so aus, als habe sich der Verpackungskünstler | |
| Christo an der früheren Zentrale der Berliner Commerzbank ausgetobt. Die | |
| Fassade des siebenstöckigen Gebäudes an der Potsdamer Straße in Schöneberg | |
| ist mit weißer Folie verkleidet. Auf dem Baugerüst hinter dem Vorhang hört | |
| man Maschinen hämmern und bohren und Arbeiter schreien. Drei riesige Kräne | |
| schweben über der Baustelle, die sich um den ganzen Block bis zur | |
| Steinmetzstraße erstreckt. | |
| Bis Ende 2020 soll hier ein „New Work Areal mit hoher Aufenthaltsqualität“ | |
| öffnen. „Im Wirtschaftswunder“ heißt das Projekt der Pecan Development, d… | |
| das Vorhaben auf dem ehemaligen Gelände der Commerzbank realisiert. Zu den | |
| Kosten macht Pecan keine Angaben. Von insgesamt 27.000 Quadratmeter | |
| Bürofläche, die hier entstehen, sind 16.000 Quadratmeter bereits vermietet: | |
| KWS Saat, eines der größten Pflanzenzüchtungsunternehmen der Welt, zieht | |
| mit 350 Leuten ein. Und, für die Musikszene interessant: Sony Music verlegt | |
| seinen deutschen Hauptsitz und die Zentrale Continental Europe von München | |
| an die Potsdamer Straße. Rund 400 Arbeitsplätze und ein Aufnahmestudio | |
| richtet der weltweit zweitgrößte Musikkonzern ein, der damit nach 15 Jahren | |
| an die Spree zurückkehrt. | |
| Oft wird behauptet, Berlin sei für die Kreativbranche nicht mehr | |
| interessant. Jan Kunze, als Projektentwickler von Pecan Development | |
| zuständig für das Bauvorhaben an der Potsdamer Straße, sieht das anders: | |
| „Berlin ist international hochspannend für Nutzer aus dem kreativen | |
| Bereich.“ Philipp von Esebeck, Finanzchef von Sony Music Deutschland, | |
| Continental Europe und Afrika, sagt, dass Berlin zwar nicht mehr das sei, | |
| was es vor 20 Jahren war. Dass aber, anders als anderswo in Deutschland, | |
| hier immer noch viel entstehen könne. „In München ist alles fertig“, so | |
| Esebeck. „Berlin ist der deutlich größere Teich, an dem man fischen kann, | |
| was kreative Talente angeht.“ ([1][Interview mit Philipp von Esebeck]) | |
| Noch ist unklar, welche weiteren Unternehmen das Pecan-Projekt beziehen. | |
| Auch für die 3.000 Quadratmeter im Erdgeschoss für kleine Läden und | |
| Gastronomie werden noch Mieter gesucht. Eines lässt sich aber schon jetzt | |
| sagen: Mit der Ankunft von Sony & Co erfährt nun auch der südliche Teil der | |
| Potsdamer Straße eine deutliche Aufwertung. | |
| Denn anders als der nördliche Teil der Straße, in dem sich zunehmend teure | |
| Galerien, Boutiquen und Restaurants breit machen, hat das südliche Pendant | |
| noch viel von seiner ursprünglichen Geschäftsstruktur und Mischung bewahrt. | |
| Einzelne Gentrifizierungsopfer indes sind aber auch dort schon zu beklagen: | |
| Die autonomen Jugendzentren [2][Drugstore und Potse] haben ihre Räume nach | |
| 46 Jahren verloren. | |
| ## Eine der verkehrsreichsten Straßen | |
| Die Potsdamer Straße, mal liebevoll, mal verächtlich auch Potse genannt, | |
| führt vom Kleistpark zum Potsdamer Platz. Täglich durchfahren sie | |
| Abertausende Autos, die Straße ist eine der verkehrsreichsten der Stadt. | |
| Gleich am Kleistpark steht das Kammergericht, bis Mauerfall war es Sitz des | |
| Alliierten Kontrollrats, in der Nazizeit verhängte dort der | |
| Volksgerichtshof unter Roland Freisler seine Todesurteile. | |
| Hausbesetzungen und Straßenschlachten prägten Anfang der 80er-Jahre das | |
| Gesicht der Straße, die damals noch ein Bankenstandort war. Vor der | |
| Zentrale der früheren Commerzbank, wo jetzt das „Wirtschaftswunder“ | |
| entsteht, starb am 21. September 1981 der Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay. | |
| Bei einem Polizeieinsatz nach Häuserräumungen wurde er von einem BVG-Bus | |
| überfahren. In den 90er-Jahren traf sich auf der Potsdamer Straße die | |
| Drogenszene. Mittlerweile sind an Stelle der ausgemergelten Junkies, von | |
| der Polizei vertrieben, Obdachlose aus Osteuropa getreten. Vor den | |
| türkischen Obst- und Gemüseläden sieht man sie betteln, in den Hinterhöfen | |
| Mülltonnen durchstöbern. | |
| Eines aber hat sich immer gehalten: die Prostitution. Seit Ende des 19. | |
| Jahrhunderts existiert rund um den Bülowbogen ein Rotlichtmileu. Anders als | |
| früher, als es auf der Straße noch viele Bordelle gab, handelt es sich | |
| heute aber um eine von Drogensucht und organisiertem Menschenhandel | |
| diktierte Armutsprostitution, die weitgehend auf der Straße abgewickelt | |
| wird. | |
| Die Kreuzung Kurfürstenstraße mit dem heruntergekommenen Sexkaufhaus LSD – | |
| Love, Sex and Dreams – auf der einen und dem nicht weniger | |
| heruntergekommenen Woolworth auf der anderen Seite markiert die | |
| Gebietsgrenze. Nördlich gehört die Potsdamer Straße zum Bezirk Mitte, | |
| südlich zu Tempelhof-Schöneberg. Das LSD sei kürzlich für 40 Millionen Euro | |
| verkauft worden, heißt es. Auch Woolworth soll die Baupläne für eine | |
| Aufstockung zu Büroetagen in der Schublade liegen haben. | |
| ## Mittlerweile eine Toplage | |
| Immobilienexperten zufolge explodieren die Büromieten in Berlin gerade. Die | |
| Potsdamer Straße mit ihrer Anbindung an drei U-Bahn-Linien sei „eine | |
| Toplage“, heißt es. Nach Informationen der taz zahlt Sony Music pro | |
| Quadratmeter 30 Euro Miete – also 240.000 Euro im Monat – an die Pecan | |
| Development. | |
| Der Schöneberger Norden – mit dem südlichen Teil der Potsdamer Straße, wo | |
| sich nun der [3][Musikkonzern] ansiedelt – stand lange unter | |
| Quartiersmanagement. Ein Drittel der Bevölkerung lebt dort von | |
| Transferleistungen. Mehr als jedes zweite Kind ist von Kinderarmut | |
| betroffen. Größter Eigentümer in dem Gebiet ist die städtische | |
| Wohnungsbaugesellschaft Gewobag, was eine gewisse Mietenstabilität | |
| garantiert. | |
| Aber man kennt es aus anderen Bezirken, wie das mit der Gentrifizierung | |
| funktioniert, wenn Softwareentwickler mit hohem Einkommen einen Kiez | |
| fluten, die Mieten explodieren und familiengeführte Geschäfte nicht mehr | |
| mithalten können. | |
| Die Kreuzberger haben rechtzeitig die Reißleine gezogen, als Google im | |
| früheren Umspannwerk in der Ohlauer Straße einen Campus mit 300 | |
| Arbeitsplätzen für Start-ups einrichten wollte. Eine vergleichbare | |
| Protestbewegung gibt es im Schöneberger Norden nicht. Dafür aber eine | |
| Interessengemeinschaft Potsdamer Straße mit einer rührigen Vorsitzenden. | |
| Aber muss es wirklich so schlimm kommen? Manche sehen in der Veränderung | |
| auch eine Chance. | |
| ## Eine Festung für härtere Zeiten | |
| Ein Ausbund an Schönheit war das Haus der Commerzbank nicht, das derzeit | |
| unter dem Projektnamen „Im Wirtschaftswunder“ für Sony Music & Co umgebaut | |
| wird. In ihrem 1983 erschienenen Buch über die Potsdamer Straße sprechen | |
| Benny Härlin und Michael Sontheimer von einem grobschlächtigen Klotz. „Die | |
| dunkelbraune metallbeschlagene Festung scheint bestens für härtere Zeiten | |
| gerüstet zu sein.“ Gemeint waren die Straßenschlachten zwischen Polizei und | |
| Hausbesetzern, die seinerzeit hier an der Potsdamer Straße Ecke Bülowstraße | |
| tobten. | |
| Die braunen Platten an der siebenstöckigen Fassade werden derzeit nun unter | |
| Lärm und Getöse abmontiert und mit einem Lift in die Tiefe geschafft. | |
| Jan Kunze, Geschäftsführer der Projektentwickler der | |
| Grundstückseigentümerin Pecan Development, überlegt genau was er sagt, | |
| bevor er spricht. Ob er sich als Gentrifizierer sehe? „Gute Frage.“ | |
| Schweigen. Man müsse das so sehen, sagt Kunze, Mitte vierzig, schlank, | |
| großes dunkles Brillengestell, dann: „Wir haben einen nach außen | |
| verschlossenen Bankenstandort vorgefunden. Einen schweren, dunklen | |
| Gebäudekomplex. Nach außen geschlossene Fassade, nach innen versiegelte | |
| Parkflächen für Autos.“ | |
| Anstelle der Parkplätze schaffe man in der Innenanlage nun Grünflächen. | |
| Mikroklima und Geräuschkulisse würden sich so deutlich verbessern. Davon | |
| profitiere auch die Nachbarschaft, selbst wenn der grüne Innenbereich an | |
| sich den künftigen Mitarbeitern vorbehalten bleibe. | |
| Auch die im Erdgeschoss entstehende Ladenzeile komme der Umgebung zugute. | |
| Man müsse das auch im Vergleich zu vorher sehen, sagt Kunze. | |
| „Kreativbranche und Namen wie Sony Music stehen doch für einen ganz anderen | |
| Livestyle als eine Bank.“ | |
| ## Undurchsichtiges Geflecht | |
| Die Baugenehmigung für die Pecan sei bereits erteilt gewesen, als er Ende | |
| 2016 ins Amt kam, erzählt Jörn Oltmann, grüner Baustadtrat von | |
| Tempelhof-Schöneberg. „Ich halte die Ansiedlung von Sony aber für einen | |
| Gewinn – nicht nur für Berlin, auch für den Schöneberger Norden.“ | |
| Hat er keine Angst vor einer Gentrifizierung? Sind Drugstore und Potse kein | |
| warnendes Beispiel? Den autonomen Jugendzentren war Ende 2018 ihr | |
| Treffpunkt in der Potsdamer Straße 180 gekündigt worden. 46 Jahre hatten | |
| sie dort ihre Werkstätten, Probe- und Konzerträume. Das Gebäude, einst im | |
| Besitz der BVG, war in den letzten Jahren mehrfach verkauft worden. Die | |
| neue Eigentümerin verbirgt sich hinter einem undurchsichtigen | |
| Firmengeflecht. Nun wird vermutet, dass sich der internationale Coworking- | |
| und Coliving-Riese Rent24 auf der Etage von Drugstore und Potse ausbreiten | |
| will. Rent24 ist schon Mieter im Haus und im Nachbargebäude. | |
| So offensichtlich wie bei den Jugendclubs, sagt Oltmann, sei | |
| Gentrifizierung selten. Normalerweise erfolge Verdrängung eher schleichend. | |
| Schon im Wohnungszusammenhang könne man diese Prozesse schwer greifen, im | |
| gewerblichen sei es noch schwieriger. Dass die südliche Potsdamer Straße | |
| von Gentrifizierung bislang weitgehend verschont geblieben ist, führt | |
| Oltmann vor allem auf die Gewobag zurück, die in Schöneberg Nord 3.000 | |
| Wohnungen und 400 Gewerbeeinheiten vorhält. | |
| An dem früheren Bankenstandort tue der Potsdamer Straße eine Entwicklung | |
| aber gut, meint der Baustadtrat. Die Läden in der Umgebung würden davon | |
| profitieren. Aber man müsse die Neuen auch in die Pflicht nehmen. „Unter | |
| der Fragestellung: Sony, was kannst du für deinen Kiez tun, wenn du dahin | |
| ziehst?“ | |
| ## Lebensqualität und Aufwertung | |
| Einen halben Kilometer weiter nördlich ist zu sehen, was passiert, wenn | |
| neue kaufkräftige Menschen in einem Kiez Einzug halten. Nukleus der | |
| Gentrifizierung ist der 2013 fertiggestellte Park am Gleisdreieck. An | |
| dessen Rändern und in den Seitenstraßen der Potsdamer Straße sind viele | |
| Eigentumswohnungen entstanden. Er habe nichts gegen die Veränderungen, sagt | |
| Stephan von Dassel, grüner Bezirksbürgermeister von Mitte. „Wenn wir | |
| wollen, dass mehr Lebensqualität in eine Straße zieht, hat das auch etwas | |
| mit Aufwertung zu tun.“ | |
| Grundstückseigentümer in der Potsdamer Straße ist auch die Immobilienfirma | |
| Arnold Kuthe. Ihr gehören das Gelände, auf dem das Wintergarten Varieté | |
| steht, und die Mercator Höfe, in denen bis 2009 der Tagesspiegel gedruckt | |
| wurde. In einer weißgetünchten Fabrikhalle dort hat Andreas Murkudis, Sohn | |
| griechischer Einwanderer und Bruder des Modedesigners Kostas Murkudis, 2010 | |
| einen Concept Store aufgemacht. Vorn an der Straße hat er noch einen | |
| Einrichtungsladen. Murkudis, graugesträhntes Haar, Dreitagebart, Hemd und | |
| Hose dunkelblau, sagt, er sei der Erste gewesen. Galerien, Boutiquen, | |
| Fachgeschäfte und Restaurants sind ihm an die Potsdamer Straße gefolgt. In | |
| Mitte, wo sein erstes Geschäft war, sei es ihm zu touristisch geworden, | |
| erzählt Murkudis, der seine Produkte in kleinen Stückzahlen weltweit bei | |
| Manufakturen einkauft. | |
| Das Teuerste in Murkudis Laden ist ein handgewebter Teppich aus Nepal mit | |
| Kolibris, die aussehen wie gemalt. 25.000 Euro kostet das Stück. Kleidung | |
| fängt bei ihm bei 60 Euro an und endet bei 3.000 Euro. 40 Angestellte | |
| arbeiten für Murkudis. Über seinen Umsatz und die Höhe der Gewerbemiete | |
| schweigt er sich aus. | |
| Er komme aus einem linken Haushalt, erzählt der 58-Jährige. Seine Eltern, | |
| die Griechenland 1949 nach dem Bürgerkrieg in Richtung DDR verlassen | |
| mussten, seien Kommunisten gewesen. Als Gentrifizierer sehe er sich nicht. | |
| „Wir haben hier niemanden verdrängt.“ Die meisten Läden hätten leer | |
| gestanden, einige täten das immer noch. „Natürlich grenzt man mit so einem | |
| Ladenkonzept gewisse Leute aus“, gibt Murkudis zu. Aber gute Dinge hätten | |
| nun mal ihren Preis, dafür seien sie nachhaltig und langlebig. | |
| Alteingesessene Geschäfte in der Nachbarschaft wie die Fleischerei Staroske | |
| oder der von der libanesischstämmigen Familie Harb geführte | |
| Gemischtwarenladen profitierten außerdem von der neuen Kundenklientel. Er | |
| sei hier zur Schule gegangen und kenne die Gegend wie seine Westentasche, | |
| erzählt Murkudis. „Die Potsdamer Straße ist eine der hässlichsten Straßen | |
| Berlins.“ Es sei gut, dass sie sich wandele. „Eine Spielhölle, die Leuten | |
| das Geld aus der Tasche zieht, ist echt nicht schützenswert.“ | |
| ## Von Gentrifizierung vertrieben | |
| Das Ave Maria, ein christlicher Devotionalienladen, ist von der | |
| Gentrifizierung vertrieben worden. Nach 20 Jahren musste das Geschäft an | |
| der Potsdamer Straße aufgegeben werden, die Gewerbemiete wurde verdoppelt. | |
| In dem Schaufenster, in dem früher handgeschnitzte Engel ausgestellt waren, | |
| hängt nun ein „Travel-Suit“ für 1.005 Euro. Darunter weiße Sneaker für … | |
| Euro. Eine Boutique ist jetzt hier, während das Ave Maria doch noch Glück | |
| hatte und in einer Seitenstraße unterkam, direkt neben dem Absturzladen | |
| Kumpelnest 3.000. | |
| Vor dem Eingang der Begine im südlichen Teil der Potsdamer Straße stehen | |
| Blumentöpfe. Sie sind mit Rosen und Lavendel bepflanzt. „Wir sind das | |
| schmuddelige Schöneberg“, sagt Beate Seifert, die neben ihr sitzende | |
| Barbara Hoyer lacht. Die Frauen, kurze Haare, um die 60, gehören zu den | |
| Betreiberinnen von Berlins einziger Kneipe, die ausschließlich für Frauen | |
| ist. „Lesen macht lesbisch“, steht auf einem Plakat im Schaufenster. „Seit | |
| der MeToo-Debatte gibt es einen neuen Feminismus“, erzählt Hoyer. Bei | |
| manchen Veranstaltungen reiche der Platz inzwischen kaum noch aus. | |
| Vor dem Eurogida-Supermarkt auf der anderen Straßenseite werden Melonen, | |
| Stückpreis 1,40 Euro, aufgestapelt. Fluktuation in einer urbanen Gegend sei | |
| ganz normal, sagt Baustadtrat Jörn Oltmann. „Aber es muss auch Konstanten | |
| geben, auf die man sich verlassen kann.“ Die Gewobag, die türkischen Obst- | |
| und Gemüseläden, die Begine und der Rewe-Markt – das sind für Oltmann | |
| Konstanten im Kiez. | |
| Seit 2002 ist der Rewe in der Potsdamer Straße 129 um die Ecke der | |
| Kurfürstenstraße im Besitz der Familie Ahmet. „Aldi, Penny, Reichelt, alle | |
| haben damals zugemacht nach dem Motto: Zu viel Rotlicht, kannste | |
| vergessen“, erzählt Sulaf Ahmet, Sohn eines aus dem Irak kommenden Kurden | |
| und einer ehemaligen DDR-Bürgerin. „Und nun beneiden uns alle um den | |
| Umsatz.“ Ahmet senior, unter Saddam Hussein Kulturattaché in Ostberlin, war | |
| mit der Familie in den 80er Jahren in den Westen geflohen. Das Geschäft in | |
| der Potsdamer Straße floriert mitterweile so gut, dass die Söhne Sulaf und | |
| Soran in der Bautzener Straße einen zweiten Rewe aufgemacht haben, ein | |
| dritter in der Kurfürstenstraße folgt. Die Ahmet-Söhne, der eine Ende | |
| dreißig, der andere Mitte vierzig, engagieren sich aber auch im Kiez. Die | |
| Suppenküche der Schöneberger Zwölf-Apostel-Gemeinde haben sie regelmäßig | |
| mit Lebensmitteln unterstützt. | |
| ## Das schützende Bollwerk | |
| Das Geheimnis der Brüder ist, dass sie den Spagat hingekriegt haben, sich | |
| mit ihrem Sortiment auf alle Nutzergruppen der Gegend einzustellen. Ihr | |
| Supermarkt in der Potsdamer Straße ist die Schnittstelle, wo sich die | |
| KiK-Fraktion mit der Gucci-Fraktion trifft. Abends, wenn die härtere | |
| Klientel unterwegs ist, steht Security am Eingang. Aber für die | |
| Prostituierten lege er seine Hand ins Feuer, sagt Sulaf Ahmet. Noch nie sei | |
| bei ihm eine der Frauen beim Diebstahl erwischt worden. | |
| Wenn es ein Bollwerk gibt, das die Potsdamer Straße vor Gentrifizierung | |
| schützt, ist es das Rotlichtmilieu. Darauf konnte man sich in der | |
| Vergangenheit verlassen. Und nun? | |
| Fast alle Brachflächen, auf die sich die Frauen bisher mit den Freiern | |
| zurückgezogen haben, sind zugebaut. „Es gibt nicht mehr viele | |
| Verrichtungsorte im öffentlichen Raum“, sagt Polizeirat Dominik Freund vom | |
| zuständigen Abschnitt 41. „In zehn Jahren wird die Prostitution | |
| verschwunden sein, weil es dann keine Nischen mehr gibt“, prognostiziert | |
| der Bürgermeister von Mitte Stephan von Dassel. Dem Grünen wäre das nur | |
| recht. Stünde es in seiner Macht, hätte er das Quartier längst zu einem | |
| Sperrgebiet erklärt. | |
| Zumindest, was die Anbahnung betreffe, werde die Prostitution vor Ort | |
| bleiben, sind dagegen der Polizeirat und der Baustadtrat von | |
| Tempelhof-Schöneberg Oltmann überzeugt: „Dazu ist der Strich viel zu | |
| gefestigt.“ Außerdem: Der Straßenstrich gewährleiste für die | |
| Sexarbeiterinnen auch einen gewissen Schutz durch soziale Kontrolle, sagt | |
| Oltmann. | |
| Warum musste es ausgerechnet die Potsdamer Straße für Sony Music sein, Herr | |
| von Esebeck? Der Finanzchef des Entertainmentkonzerns, Ende vierzig, | |
| fränkischer Dialekt, sucht nicht lange nach einer Antwort. Da, wo es „ein | |
| bisschen rougher, kreativer“ ist, fühle sich Sony Music besser aufgehoben | |
| als neben schicken Geschäften. | |
| ## Der Ruf der Potse | |
| Regine Wosnitza geht auf die Barrikaden, wenn sie solche Sätze hört. „Der | |
| Ruf der Potse als hippes raues Pflaster wird benutzt, statt sich erst mal | |
| in den Kiez einzubringen – das ärgert mich.“ Die 59-Jährige mit dem | |
| strubbeligen Kurzhaarschnitt ist Vorsitzende der Interessengemeinschaft | |
| Potsdamer Straße. Im Kiez ist die Kommunikationswissenschaftlerin so eine | |
| Art Jeanne d’Arc. Nach dem Motto „leben und leben lassen“ setzt sie sich | |
| dafür ein, dass die Lebensqualität steigt, gleichzeitig aber niemand | |
| verdrängt wird. Alle Versuche, für die gekündigten Jugendclubs Potse und | |
| Drugstore neue Proberäume zu finden, sind bisher aber gescheitert. | |
| In München habe sich die Gegend, in die Sony Music vor gut fünf Jahren | |
| gezogen war, „wahnsinnig entwickelt“, sagt von Esebeck. Viele Agenturen, | |
| Start-ups und Künstler seien gefolgt, „und die bauen da jetzt weiter“. | |
| Jan Kunze hat für die Pecan Development inzwischen mitgeteilt, man habe | |
| sich entschlossen, einen sozialen Beitrag für den Kiez zu leisten. „Wir | |
| sind uns bewusst, dass wir dort ein großer Player sind und sich daraus eine | |
| Verpflichtung ergibt.“ In welcher Form dieser soziale Betrag geleistet | |
| wird, sei aber noch nicht entschieden. | |
| Philipp von Esebeck ließ für Sony Music wissen, die Idee sei vielleicht gar | |
| nicht so schlecht, junge Musiker, die keine Proberäume hätten, zu | |
| unterstützen. „Vielleicht“, so der Sony-Mann, „ist da auch jemand dabei, | |
| der später bei uns unter Vertrag kommen kann.“ | |
| Das Baugrundstück an der Potsdamer Straße ist von einer Bretterwand | |
| umgeben. Nachts, wenn die Maschinen ruhen, sieht man Frauen vor einer Lücke | |
| im Zaun um Freier werben. Das „Wirtschaftswunder“ ist schon voll im Kiez | |
| angekommen. | |
| 5 Jun 2019 | |
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