# taz.de -- Destabilisierung auf dem Balkan: Europas blinder Fleck | |
> In einem offenen Brief warnen Intellektuelle vor gefährlichen Tendenzen | |
> auf dem Balkan. Adressiert ist er an die westlichen Staaten. | |
Bild: Sloweniens Ministerpräsidenten Janez Janša soll das umstrittene Non-Pap… | |
SPLIT taz | In einem aufrüttelnden Brief an die EU, die USA und die | |
Nato-Regierungen haben über 250 Intellektuelle und Kenner*innen des | |
Balkan vor einer weiteren Fehleinschätzung der dortigen Lage gewarnt. Seit | |
2018 hätten sich die politischen Koordinaten in der Region dramatisch | |
verändert, behaupten die Unterzeichner*innen, zu denen die | |
Menschenrechtlerin Vesna Pešić aus Belgrad, die Professor*innen Nenad | |
Čanak aus Sarajevo, Florian Bieber aus Graz, Vesna Pusić aus Kroatien und | |
der Schriftsteller Aleksandar Hemon aus Sarajevo gehören. | |
Anlass zur Sorge gäben vor allem die Diskussion über Grenzveränderungen | |
sowie eine zunehmenden Akzeptanz von ethnonationalistischen Positionen | |
innerhalb der westlichen Gemeinschaft. Das alles könne zu neuen Konflikten | |
und Menschenrechtsverletzungen führen. | |
Die Unterzeichner spielen damit auf die Veröffentlichung von sogenannten | |
Non-Papers an, in denen die Veränderung von Grenzen auf dem Balkan | |
vorgeschlagen wird. So soll Bosnien und Herzegowina zwischen Serbien und | |
Kroatien aufgeteilt werden, es bliebe nur noch ein kleiner muslimischer | |
Reststaat übrig. Auch Nordmazedonien soll Territorien an ein Großalbanien | |
(Albanien und Kosovo) verlieren. | |
Das [1][umstrittene Non-Paper] soll Sloweniens Ministerpräsidenten Janez | |
Janša in Umlauf gebracht haben, der ab dem 1. Juli der EU vorsitzt. Der | |
streitet das zwar ab, aber es ist ja nicht ungewöhnlich, Testballons | |
loszuschicken und Unruhe zu stiften. Im Falle Bosnien und Herzegowinas ist | |
das gelungen. Die Menschen sind verunsichert. | |
## Im Dunkeln | |
Die Urheberschaft des Non-Papers bleibt zwar weiter im Dunkeln und wird | |
inzwischen dem ehemaligen CIA-Balkan-Direktor Steve Meyer zugeschrieben, | |
der für den serbischen Nationalistenführer in Bosnien, Milorad Dodik, | |
lobbyiert und seit Jahren Grenzveränderungen auf dem Balkan propagiert. Es | |
zeichnet sich aber ab, dass sich auch die Regierungen der EU-Staaten | |
Ungarn, Slowenien, Bulgarien und Griechenland nicht von dem Papier | |
distanzieren. | |
Die Verfasser des Briefes stellen fest, dass seit geraumer Zeit auf der | |
Weltbühne tiefgreifende Veränderungen stattgefunden haben, „die die | |
liberale internationale Ordnung untergraben und illiberale Akteure | |
stärken“. Bis 2008 habe der Balkan als westlicher hauptsächlich | |
europäischer Interessenbereich gegolten. Der Balkan sollte friedlich und | |
frei sein, mit einer EU-Beitrittsperspektive sollten Anreize für die | |
Bevölkerungen geschaffen werden, Demokratie und Rechtsstaat zu entwickeln. | |
Aber diese Politik sei ein „bürokratischer Autopilot“ geblieben, der sich | |
mehr und mehr mit den lokalen Eliten verbunden habe. Diese „Zombie-Politik“ | |
erlaubte der Nato und der EU eine Erweiterungspolitik fortzusetzen, ohne | |
die grundlegenden Konflikte zwischen den Staaten lösen zu helfen. | |
Diese Art der Beitrittsperspektive zur EU genügte schon vor Jahren nicht | |
mehr, um den Balkan zu stabilisieren, erklären die Autoren. Die Situation | |
sei mit dem Auftreten Russlands und Chinas, den Entwicklungen in mehreren | |
EU-Staaten und der Präsidentschaft von Donald Trump komplizierter geworden. | |
Akteure wie die Türkei, versuchten, ihre Politik auf dem Balkan | |
durchzusetzen. | |
## Negativer Trend | |
Dieser „Cocktail von Faktoren“ beschleunigte den negativen Trend für die | |
Demokratisierung des Balkan. Die einzige positive Entwicklung habe in | |
Nordmazedonien stattgefunden. Dort wurde der rechtsgerichtete Premier | |
Nikola Gruevski 2016 gestürzt, „aber nicht wegen der westlichen Politik, | |
sondern sogar gegen sie“. Der Aufstand der Bevölkerung zwang EU und USA | |
dazu, Neuwahlen durchzusetzen. | |
Auch in der [2][Kosovopolitik] wurden 2018 Grenzveränderungen diskutiert – | |
was es ermöglichte, dass jetzt wieder über dieses Thema geredet wird. Die | |
Verfasser*innen fordern eine Neuorientierung der Balkanpolitik des | |
Westens. | |
4 May 2021 | |
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[1] /Grenzziehungen-auf-dem-Balkan/!5762008 | |
[2] /Grenzaenderungen-auf-dem-West-Balkan/!5532869 | |
## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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