| # taz.de -- Demokratie und Konzerne in der Schweiz: Radikale Bürgerlichkeit | |
| > Verstöße gegen Menschenrecht und Umweltschutz von Schweizer Konzernen | |
| > sollen vor Gericht. Abgestimmt wird Ende November. | |
| Bild: Weht am Balkon: das schweizer „Ja“ zur Konzernverantwortungsinitiative | |
| Am Sonntag, 29. November, stimmen Schweizer Bürgerinnen und Bürger darüber | |
| ab, ob Großunternehmen mit Sitz in der Schweiz bei ihren internationalen | |
| Tätigkeiten Menschenrechte und Umweltstandards berücksichtigen müssen. Tun | |
| Unternehmen dies nicht, sollen sie in der Schweiz dafür haftbar gemacht | |
| werden; dies gilt auch für Tochterunternehmen oder Firmen, die effektiv von | |
| dem Schweizer Unternehmen kontrolliert werden. | |
| Traditionell wurden Menschenrechte als bürgerliche Grundfreiheiten | |
| gegenüber dem Staat verstanden. Spätestens durch die Entfesselung | |
| kapitalistischer Praktiken durch Globalisierung und Deregulierung wurde | |
| aber sichtbar, dass auch private und gerade Westliche Akteure | |
| entscheidenden Einfluss auf die Realisierbarkeit von Grundrechten haben. | |
| Gemeinsame Bemühungen lokaler NGOs, investigativer Journalisten und | |
| internationaler Solidaritätsnetzwerke haben in den letzten Jahren eine | |
| Vielzahl drastischer Verletzungen von Menschenrechten und Umweltstandards | |
| im Umfeld von Rohstoffmultis aufdecken können. Ein Beispiel hierfür ist die | |
| Luft- und Umweltverschmutzung mit Schwefeldioxid, Blei und Arsen durch | |
| [1][die durch Glencore] kontrollierte Silbermine in Cerro de Pasco (Peru), | |
| als Folge derer viele Menschen und insbesondere Kinder an | |
| Schwermetallvergiftungen leiden. | |
| Andere Beispiele sind Umweltschäden, welche der [2][Ölmulti Texaco (heute | |
| Chevron) im ecuadorianischen Amazonasgebiet] hinterließ, Menschenrechts- | |
| und Arbeitsrechtsverletzungen in den Textilfabriken von Walmart und der | |
| rechtlich folgenlose Großbrand in einer Textilfabrik von KiK in Pakistan, | |
| bei dem 258 Menschen ums Leben kamen. | |
| Lange wurden solche internationalen Großkonzerne aus der Pflicht genommen. | |
| Statt rechtlich verbindlicher Maßnahmen appellierten „Soft Law“-Ansätze w… | |
| die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte an die | |
| Verantwortung von Unternehmen, anstatt ihnen eine Sorgfaltspflicht | |
| zuzuweisen. | |
| ## Das Ziel: Verbindliche Standards | |
| Kritik hieran übten bislang vor allem NGOs, aber auch Vertreter aus dem | |
| Globalen Süden. Auf Initiative von Ecuador und Südafrika wurde 2014 in der | |
| UN eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe eingesetzt, welche seither die | |
| Entwicklung eines verbindlichen Abkommens zu Wirtschaft und Menschenrechten | |
| vorantreibt. | |
| Einem globalen Trend folgend, will die [3][Schweizer | |
| Konzernverantwortungsinitiative] nun Großkonzerne an internationale Umwelt- | |
| und Menschenrechtsstandards binden, sie zu einer Sorgfaltsprüfung | |
| verpflichten und haftbar machen für Schäden, die sie oder von ihnen | |
| kontrollierte Unternehmen verursacht haben. Ähnliche Mechanismen gelten | |
| bereits in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden. Und auch die | |
| Große Koalition ringt um ein Lieferkettengesetz, nachdem die freiwillige | |
| Integration von Menschenrechten in Unternehmensprozesse nicht ausreichend | |
| war. Auf EU-Ebene gibt es ebenfalls Vorstöße; voraussichtlich 2021 soll ein | |
| erster Entwurf eines Lieferkettengesetzes vorgelegt werden. | |
| Dass die Schweizer Abstimmung so am Puls der Zeit in der europäischen | |
| Debatte über die Haftung von Großkonzernen ist, ist aus verschiedenen | |
| Gründen bemerkenswert. | |
| Erstens zerschlägt der Initiativtext den gordischen Knoten globaler | |
| Wertschöpfungsketten, indem er die Sorgfaltspflicht der in der Schweiz | |
| ansässigen Unternehmen für alle von ihnen kontrollierten Unternehmen und | |
| sämtliche Geschäftsbeziehungen ausdehnt. Die Frage der Kontrolle wird | |
| hierbei nicht juristisch definiert, sondern auf tatsächliche Verhältnisse | |
| und wirtschaftliche Machtausübung, also empirische Kriterien, ausgerichtet. | |
| ## Verschachtelungen unterlaufen | |
| Verschachtelte Unternehmensstrukturen, die den steuerlichen Hauptsitz von | |
| den Machenschaften ihrer Tochterunternehmen abschirmen sollen, werden | |
| hierbei also unterlaufen. Eine Begrenzung der Initiative ist gleichwohl, | |
| dass die Haftung sich nicht auf die gesamte Wertschöpfungskette bezieht. | |
| Ähnlich wie in der Debatte über das deutsche Lieferkettengesetz bleibt die | |
| Rolle unabhängiger Vertragspartner und Zulieferer weitgehend außen vor. | |
| Zweitens ist die Schweiz mit günstigen Steuerbedingungen und als weitgehend | |
| krisenfreier wirtschaftsfreundlicher Standort auch nach der Einebnung des | |
| Bankgeheimnisses im Jahr 2018 [4][eine Oase für internationale | |
| Großkonzerne]. Neben Pharmagiganten, Maschinenherstellern und global | |
| agierenden Lebensmittelkonzernen wie Nestlé sind dies vor allem im | |
| Rohstoff- und Mineralölhandel aktive Unternehmen wie [5][Glencore, Vitol | |
| und Mercuria – genau die Akteure also, die sich immer wieder im Zentrum von | |
| Umwelt- und Menschenrechtsskandalen wiederfinden]. Sollte selbst die | |
| Schweiz eine Sorgfaltspflicht und Haftung für internationale Großkonzerne | |
| einführen, wäre das ein starkes Zeichen für die Regulierbarkeit des | |
| Kapitalismus und womöglich der Sargnagel für das Feigenblatt der | |
| freiwilligen Verantwortung. | |
| Drittens verfügt die Schweiz zwar über eine lange Tradition demokratischer | |
| Mitbestimmung, progressive Vorlagen haben es aber trotzdem traditionell | |
| schwer, eine Mehrheit zu finden. Während sich die Mehrheit der | |
| Stimmbeteiligten gegen Mindestlöhne, Grundeinkommen, einen längeren | |
| gesetzlichen Ferienanspruch oder eine bundesweite Erbschaftssteuer | |
| aussprach, waren Initiativen gegen Zuwanderung oder den Islam – | |
| vorangepeitscht von der populistischen Schweizerischen Volkspartei auf dem | |
| Zenit ihres Einflusses – in den 2000er Jahren erfolgreich. | |
| Dass die Konzernverantwortungsinitiative gute Erfolgsaussichten hat, zeigt | |
| auch, dass sich die Mehrheitsverhältnisse in der Schweiz verändern und die | |
| öffentliche Debatte nicht mehr so stark von rechtspopulistischen Parolen | |
| dominierbar ist. | |
| ## Hysterie auf der Gegenseite | |
| Viertens wird die Initiative von einer breiten Koalition sozialer Akteure | |
| getragen, die bis weit ins bürgerliche Lager reichen. So sind es vor allem | |
| bürgerliche Politiker*innen und Organisationen aus dem kirchlichen Umfeld, | |
| die neben Gewerkschaften und internationalen NGOs den Abstimmungskampf | |
| führen. Die Notwendigkeit einer stärkeren Kontrolle der Global Players des | |
| Kapitalismus ist nicht mehr nur Anliegen der Globalisierungsgegner, sondern | |
| auch der Parteien der bürgerlichen Mitte, inklusive vieler Christ- und | |
| Freidemokraten. Sogar einzelne Unternehmer*innen setzen sich aktiv für die | |
| Initiative ein. | |
| Statt eines linksradikalen Vorstoßes, wie die Abstimmungsgegner in ihrer | |
| oft hysterischen Gegenkampagne suggerieren, liefert die Initiative einen | |
| radikal bürgerlichen Entwurf zur Regulierung des Kapitalismus. | |
| Auch das Argument der Gegner*innen, die Initiative schade dem | |
| Wirtschaftsstandort Schweiz, hat damit womöglich weniger Überzeugungskraft | |
| – zumal sich die Initiative weitgehend auf Großunternehmen und | |
| Mittelstandsfirmen, die in einem Risikosektor tätig sind, beschränkt. In | |
| den letzten Jahren ist öffentliche Kritik an transnationalen Unternehmen | |
| und Banken zunehmend lauter geworden. | |
| Dass man die großen Kapitalisten nicht mehr frei walten und schalten lassen | |
| darf, scheint mehrheitsfähig(er) geworden zu sein. Wären „die Kleinen“ | |
| betroffen, hätte die Initiative in der Schweiz bestimmt einen schwereren | |
| Stand. Der Ausgang der Abstimmung ist zwar noch offen, ungewöhnlich für | |
| progressive Initiativen ist jedoch, dass gemäß letzten Umfragen die | |
| Befürworter*innen so kurz vor der Abstimmung noch immer deutlich vorne | |
| liegen. | |
| Trotz der bestehenden Einschränkungen wäre es ein beachtlicher Schritt für | |
| internationale Bestrebungen, verbindliche Regeln für transnationale | |
| Unternehmen zu schaffen, wenn Sorgfaltspflicht und Haftung von | |
| Großkonzernen bei Menschenrechts- und Umweltstandardverletzungen bald in | |
| der Schweizer Verfassung verankert wären. | |
| 24 Nov 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Steinkohleabbau-in-Kolumbien/!5718410 | |
| [2] /Oeko-Desaster-in-Ecuador-mit-Folgen/!5567290 | |
| [3] https://konzern-initiative.ch/ | |
| [4] /Ergebnis-des-neuen-Schattenfinanzindex/!5478080 | |
| [5] https://brotfueralle.ch/vitol-und-die-menschenrechte/ | |
| ## AUTOREN | |
| Tobias Eule | |
| Laura Affolter | |
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