# taz.de -- Rahmenvertrag EU-Schweiz: Singapur in den Alpen | |
> Die Schweiz verhandelt nicht mehr mit der EU über ein Rahmenabkommen. Das | |
> freut vor allem Rechte. Einige haben dafür viel Geld investiert. | |
Bild: Alphörner und Steuerparadies: Die Schweizer wollen ihre Werte bewahren | |
Die Schweiz und die EU bleiben auch in Zukunft durch eine enge | |
Partnerschaft verbunden.“ Der Mann, der das am Mittwoch verkündet, ist | |
Ignazio Cassis, Außenminister der Schweiz und bis 15.45 Uhr zuständig für | |
die Aushandlung des Rahmenabkommens mit der Europäischen Union; bis | |
Regierungschef Guy Parmelin mitteilte, die [1][Schweiz werde die seit | |
sieben Jahren laufenden Verhandlungen einseitig beenden]. Seither rätselt | |
die Schweiz, was jetzt passieren wird. | |
Das Land liegt mitten in Europa, von Liechtenstein abgesehen ist es von | |
EU-Staaten umzingelt. Die wirtschaftlichen Verflechtungen sind eng, auch | |
aufgrund der mehr als 100 Abkommen in nahezu allen Politikbereichen, die | |
Bern und Brüssel in den letzten drei Jahrzehnten geschlossen haben. Der | |
Rahmenvertrag war die Bedingung Brüssels dafür, dass bestehende Verträge | |
angepasst und neue abgeschlossen würden. [2][Jetzt steht das alles auf dem | |
Spiel]. | |
Als Bankrotterklärung der Schweizer Regierung, des Bundesrats, bezeichnet | |
die designierte Generalsekretärin der Grünliberalen Partei, Julie Cantalou, | |
das Aus für die Verhandlungen. Die Schweiz stehe vor einem Scherbenhaufen. | |
Ein Erfolg sei das Aus einzig für die EU-Gegner, die zuletzt | |
millionenschwere Unterstützung bekommen haben. | |
Der Schweizer Milliardär Fredy Gantner und zwei weitere Mitgründer des auf | |
30 Milliarden Franken Börsenwert geschätzten Vermögensverwalters Partners | |
Group steckten Medienberichten zufolge jeweils eine halbe Million Franken | |
in die Gründung der Allianz Kompass Europa. Ihr erklärtes Ziel: das Aus des | |
Rahmenabkommens. Geschäftsführer Philip Erzinger [3][lobte in der NZZ] die | |
„dezidierte Haltung“ des Bundesrats, der sich vom Lärm der Befürworter | |
nicht habe beirren lassen. | |
## Fragwürdige Werte | |
Den wirklichen Lärm machten allerdings die Gegner des Abkommens, neben | |
Gantners Truppe auch ein Bündnis namens Autonomiesuisse, in dessen | |
Präsidium Finanzdienstleister, Privatbankiers und Unternehmer sitzen. | |
Cantalou erinnern diese mächtigen Anti-EU-Lobbygruppen an die [4][Kampagne | |
für den Brexit,] die sie in Großbritannien miterlebt hat. „Das Sinnbild ist | |
ein ‚Singapur in den Alpen‘ als Analogie zum ‚Singapur an der Themse‘, … | |
damals von den Brexiteers vorgeschlagen wurde.“ | |
Zwar sei die Schweizer Wirtschaft mehrheitlich sehr exportorientiert und | |
wolle gute Beziehungen zur EU. „Es gibt da aber eine relativ kleine | |
Minderheit, die das anders sieht, viele kommen aus der Finanzbranche.“ Die | |
Befürworter einer deregulierten, noch steuergünstigeren Schweiz, in die das | |
Kapital der Welt fließen kann, können nun einen Etappensieg feiern. | |
Feiern kann auch die rechtsnationale Schweizerische Volkspartei (SVP). Mit | |
ihren europa- und ausländerfeindlichen Kampagnen punktete sie in letzter | |
Zeit weniger als gewohnt. Als die SVP mit ihrer „Begrenzungsinitiative“ vor | |
einem guten halben Jahr die Personenfreizügigkeit mit der EU beenden | |
wollte, [5][lehnte das Schweizer Stimmvolk mit mehr als 60 Prozent ab]. | |
Dass das Aus für das Rahmenabkommen jetzt ausgerechnet mit der | |
Einwanderungsfrage begründet wird, ist ein Erfolg auch für SVP-Chef Marco | |
Chiesa: „Wir haben unsere Unabhängigkeit, unsere Souveränität und unsere | |
direkte Demokratie gerettet, das sind die fundamentalen Werte unseres | |
Landes.“ | |
## Direkte Demokratie? Diesmal lieber nicht | |
Allerdings offenbar nicht so fundamental, dass die SVP die Entscheidung | |
über das Rahmenabkommen einer Volksabstimmung überlassen hätte. Die hatten | |
vor allem prominente Altpolitiker gefordert, Umfragen sagten ein deutliches | |
Ja voraus. Mit seiner einsamen Entscheidung hat der Bundesrat sich jetzt | |
vor dem Volk gerettet und auch vor den Außenpolitischen Kommissionen im | |
Parlament, die ebenso wie die Kantone bis zuletzt aufs Weiterverhandeln | |
gedrungen hatten. | |
Bundespräsident Parmelin nannte drei „grundlegende Differenzen“ als Grund | |
des Scheiterns: die Unionsbürgerrichtlinie, die nicht nur Arbeitnehmenden | |
samt Familien, sondern allen EU-Bürgern den Aufenthalt in der Schweiz | |
erlaubt hätte; die Frage staatlicher Beihilfen; und schließlich der Schutz | |
des hohen Schweizer Lohnniveaus. | |
Die Angst vor Dumpinglöhnen durch Billigkonkurrenz aus der EU hatte die | |
Gewerkschaften mobilisiert. „Wir sind erleichtert, dass unser autonomer | |
Lohnschutz verteidigt werden konnte“, freute sich Pierre-Yves Maillard, der | |
Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Zum Lohnschutz gehören | |
Regelungen wie jene, nach der eine Handwerkerin aus Süddeutschland sich | |
acht Tage vorher anmelden muss, wenn sie in der Schweiz arbeiten will. | |
Diese Frist zu verkürzen gehört zu den Angeboten, die der Bundesrat der EU | |
jetzt auch ohne Rahmenabkommen machen will. Außerdem sollen 1,3 Milliarden | |
Franken an Kohäsionszahlung an die EU gehen. Justizministerin Keller-Suter | |
will möglichst viele Schweizer Gesetze freiwillig an EU-Regeln angleichen. | |
## Den Schaden hat die Exportwirtschaft | |
Zudem soll ein Dialog auf Regierungsebene begonnen werden. Doch das ist | |
alles noch kein Plan B. Außenminister Cassis räumte bereits ein, dass es | |
Nachteile für die Schweiz geben werde. Das ist untertrieben. Ein | |
Stromabkommen und der Schweizer Zugang zum EU-Forschungsprogramm „Horizon | |
Europe“ sind in Gefahr. | |
Vor allem aber profitieren zwei Drittel aller Exporte von der Schweiz in | |
die EU im Wert von 76 Milliarden Franken jährlich bisher von | |
Marktzugangsabkommen. Für Medizinprodukte gilt das seit Mittwoch nicht | |
mehr, weil das betreffende Abkommen nun nicht mehr aktualisiert wird. So | |
könnten jetzt alle Verträge erodieren, der Schaden ginge in die Milliarden. | |
Die Aufsichtsbehörde Swissmedic verglich die Situation am Donnerstag | |
bereits mit der Großbritanniens nach dem Brexit. Einige wenige dürfte das | |
gefreut haben. | |
27 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Geplanter-Rahmenvertrag-mit-EU/!5775289 | |
[2] /Die-Schweiz-und-die-EU/!5613736 | |
[3] https://www.nzz.ch/schweiz/am-tag-danach-freude-und-aerger-hoffnung-und-sor… | |
[4] /Aus-Le-Monde-diplomatique/!5742962 | |
[5] /Schweizer-Volksabstimmung/!5716820 | |
## AUTOREN | |
Marc Engelhardt | |
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