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# taz.de -- Chancenstartprogramm und Schulförderung: Eine Lehrstunde aus Kiel
> Der Bund will ab 2024 benachteiligte Schüler:innen mit mehr Geld
> unterstützen. An einer Schule in Kiel weiß man, wie es sinnvoll
> eingesetzt wird.
Bild: Leere Lehre: Schulen hoffen auf eine nach Bedarf ausgerichtete Verteilung…
Kiel/Berlin taz | Auf den ersten Blick muss man Carsten Haack als
glücklichen Schulleiter bezeichnen. Sein Arbeitsplatz ist ein hübsches
denkmalgeschütztes Schulgebäude aus rotem Klinker, der Pausenhof
erlerbnispädagogisch gestaltetet. Und: Sämtliche Stellen an seiner Schule
sind aktuell besetzt. Keine Selbstverständlichkeit [1][in der aktuellen
Personalkrise im Bildungsbereich] – zumal die
Theodor-Storm-Gemeinschaftsschule im sozialen Brennpunkt liegt. Nicht alle
Lehrkräfte muten sich das zu.
Der Kieler Osten rund um das traditionelle Arbeiterviertel Gaarden ist so
etwas wie das norddeutsche Pendant zur Dortmunder Nordstadt oder zum
Berliner Wedding. An Haacks Schule zeigt sich das so: Vier von fünf
Schüler:innen sprechen zu Hause nicht Deutsch, zwei Drittel der Eltern
beziehen staatliche Transferleistungen oder haben aus anderen Gründen
Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket des Landes Schleswig-Holstein.
Aus den Rahmenbedingungen macht Haack keinen Hehl: „Armut und Migration
bestimmen unsere Arbeit.“ Zum Alltag seines Kollegiums gehörten Familien,
die verelenden. Kinder, die bei der Einschulung nicht einen Buchstaben
lesen können. Jugendliche, die regelmäßig an die Polizei geraten.
Um all das aufzufangen, erhält die Schule seit vier Jahren zusätzliche
Ressourcen vom Land. In diesem Jahr sind es fast 400.000 Euro. Und die gibt
Haack vor allem für zusätzliches Personal aus: 200.000 Euro für vier
Planstellen, damit gewinnt er jede Woche 108 Unterrichtsstunden. 100.000
Euro investiert er für zusätzliche Schulsozialarbeit. Der Rest fließt in
eine Fortbildung des Kollegiums zu gewaltfreier Kommunikation. „Was unsere
Schülerinnen und Schüler am meisten brauchen, ist Beziehungsarbeit“, sagt
Haack. „Neue iPads helfen uns nicht weiter.“
Insgesamt fördert Schleswig-Holstein 62 Schulen „mit besonderen
Herausforderungen“, etwa jede dreizehnte. „Perspektivschulen“ nennt sie d…
schwarz-grüne Landesregierung. Ähnliche Programme gibt es auch in Berlin,
Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz. In den vergangenen zehn Jahren
haben neun der Bundesländer insgesamt 15 solcher Programme aufgelegt. Dazu
kommen mit „Schule macht stark“ und „Teach First Deutschland“ zwei
bundesweite Förderprogramme.
Im Schnitt wurden 65 Schulen gefördert, hat die Düsseldorfer Wübben
Stiftung Bildung in [2][einer aktuellen Vergleichsstudie] berechnet. Noch
sei aber kaum erforscht, welche der Programme gut oder weniger gut wirkten.
Auch deshalb, weil die Ministerien den Schulen zum Teil große Freiheiten
lassen, wie sie die Mittel einsetzen. „Die Schulen wissen selbst am besten,
wie sie die benachteiligten Kinder und Jugendlichen unterstützen können“,
sagt der Programmleiter für die „Perspektivschulen“ in Schleswig-Holstein,
Helge Daugs. Im Sommer 2024, wenn die Förderung endet, werde das
Bildungsministerium die unterschiedlichen Ansätze evaluieren.
Die Theodor-Storm-Gemeinschaftsschule in Kiel setzt auf ein engmaschiges
Frühwarnsystem. Weil das Zeit kostet, sind für alle Klassenleiter:innen
zwei Stunden die Woche für Beziehungsarbeit eingerechnet. Mit den
jeweiligen Schulsozialarbeiter:innen sprechen sie mindestens einmal
wöchentlich über die Schüler:innen. Bei Auffälligkeiten beraten sie sich
mit weiteren Kolleg:innen. Auch hierfür gibt es regelmäßige Termine und
klare Zuständigkeiten. Wenn alle pädagogischen Möglichkeiten der Schule
ausgereizt sind oder es im Umfeld der Kinder eskaliert, wird das Jugendamt
hinzugezogen. „Das Ziel ist, so alle Kinder im Blick zu behalten“, sagt
Schulleiter Haack.
Wie gut das funktioniert, kann Sascha Husen berichten. Der 43-Jährige ist
einer von sechs sozialpädagogischen Fachkräften, die über die
Perspektivschulgelder angestellt sind. „Es ist schon besonders, wie
konsequent hier auf die Schüler:innen geblickt wird“, sagt er. Neben der
Arbeit in multiprofessionellen Teams lobt er die klaren Strukturen für
Austausch und gemeinsame Reflexion: „An vielen anderen Schulen fehlt das.“
Doch die engmaschige Betreuung stoße auch an ihre Grenzen, erzählt Husen.
„Früher waren ein oder zwei Kinder in der Klasse verhaltensauffällig. Heute
sind es fünf bis sieben.“ Und auch Schulleiter Haack sagt: „Wir kommen kaum
hinterher mit den Konflikten.“ Eigentlich bräuchte seine Schule noch
wesentlich mehr Unterstützung.
## Länder gegen Mittelvergabe nach sozialen Kriterien
Tatsächlich fallen Anstrengungen wie in Kiel bei der Bekämpfung der
sozialen Ungleichheit bisher nicht spürbar ins Gewicht. Vor wenigen Tagen
erst hat das Münchner ifo Zentrum für Bildungsökonomik in ihrem
„[3][Chancenmonitor]“ mehr Anstrengungen angemahnt. Die Bildungschancen
hingen immer noch stark vom Elternhaus ab, heißt es in dem Bericht. Bei
einer alleinerziehenden Mutter ohne Abitur und mit niedrigem Einkommen
liegt die Wahrscheinlichkeit für das Kind, auf das Gymnasium zu gehen, bei
gerade mal 21,5 Prozent. Sind die Eltern Akademiker:innen und
verdienen gut, sind es über 80 Prozent.
„Das dürfen wir nicht hinnehmen“, äußerte sich Bundesbildungsministerin
Bettina Stark-Watzinger (FDP) zur Studie. Kein Kind suche sich aus, in
welchem Umfeld es geboren werde. Das Aufstiegsversprechen in diesem Land
müsse „wieder mit Leben gefüllt“ werden. Ab kommenden Jahr will
Stark-Watzinger bundesweit 4.000 Brennpunktschulen unterstützen. Drei
„Säulen“ soll es dabei geben: Schulbau, Schulsozialarbeit und ein
„Chancenbudget“. Viele Fragen des sogenannten Startchancenprogramms sind
aber noch offen. Etwa, wie viele Mittel Bund und Länder zur Verfügung
stellen – und wie sie verteilt werden.
Bisher ist nur die Zusage des Bundes, [4][1 Milliarde Euro] jährlich zu
investieren, gesichert. Die Länder sträuben sich gegen eine Mittelvergabe
nach sozialen Kriterien. Nach langem Ringen konnten sie sich im März darauf
verständigen, [5][5 Prozent der Mittel] nach Bedürftigkeit der Schulen zu
verteilen. Der Rest würde – so der Ländervorschlag – nach Königsteiner
Schlüssel verteilt. Profitieren würden so vor allem die wohlhabenden,
bevölkerungsreichen Länder. Nicht die mit den meisten bedürftigen Schulen:
Das wären vor allem Bremen, Berlin und Nordrhein-Westfalen.
Deshalb weist Stark-Watzinger den Vorschlag zurück. Und auch
Bildungsforscher:innen halten ihn für falsch. Der Osnabrücker
Soziologe Aladin El-Mafaalani mahnte vergangene Woche in einem Fachgespräch
zum geplanten Startchancenprogramm an, die Mittel unbedingt nach sozialen
Kriterien zu verteilen, wie es manche Länder längst machten.
Schleswig-Holstein etwa hat für die „Perspektivschulen“ einen eigenen
Sozialindex entwickeln lassen. Welche Schule gefördert wird, wird auch
anhand von Abbrecherquoten und dem Anteil der Kinder mit
sonderpädagogischem Förderbedarf ausgesucht.
## Bildungsministerium sieht weiter Gesprächsbedarf
Ein Expert:innenforum, das das Wissenschaftszentrum Berlin für
Sozialforschung (WZB) zusammen mit der Robert Bosch Stiftung auf die Beine
gestellt hat, um Impulse für die Ausgestaltung des Startchancenprogramms zu
geben, forderte zuletzt sogar in fünf Punkten Nachbesserungen. Neben einem
effektiven Einsatz der Mittel und wissenschaftlicher Begleitung der
Maßnahmen geht es vor allem um die Frage, wie die Schulen vor Ort
unterstützt werden. So müssten auch Lehrkräfte entlastet oder
Schulleitungen professionalisiert werden. Schließlich sei bei Schulen in
kritischer Lage der Personalmangel besonders hoch. Auch Schulleitungen
wechselten an Brennpunktschulen häufiger als woanders. „Stabile
Schulentwicklung ist in dem Rahmen schwer“, sagte Schulforscherin Nina
Bremm von der Universität Erlangen-Nürnberg.
Das kann auch Schulleiter Carsten Haack aus Kiel bestätigen. Trotz der
vergleichsweise entspannten Personalsituation an seiner Schule habe er fünf
Versetzungsanträge auf dem Schreibtisch. „Das zeigt, dass die Müdigkeit
gestiegen ist.“ Er selbst arbeite 60 bis 65 Stunden die Woche. Das schaffe
er nur, weil er die Hoffnung auf ein radikales Umdenken in der Gesellschaft
noch nicht gänzlich aufgegeben habe.
„Ich hoffe sehr, dass unser Umdenken mit dem Startchancenprogramm beginnt“,
sagt Haack. Die Gesellschaft müsse einsehen, dass jeder Euro in Bildung
eine gute Investition sei. Die bisher in Aussicht gestellte Finanzierung
reicht aus seiner Sicht aber nicht aus, um wirklich etwas zu ändern. „Bei
der Anzahl der Schulen ist eine Milliarde zu wenig.“
Ob es noch mehr werden, müssen Bund und Länder in den anstehenden
Gesprächen klären. Das Bundesbildungsministerium (BMBF) teilt auf Anfrage
mit, dass einzelne Punkte „noch intensiv zu diskutieren seien“. Neben der
„bedarfsgerechten“ Verteilung der Mittel fordert der Bund, dass die Länder
sich finanziell am Programm beteiligen und ebenfalls eine Milliarde
drauflegen – die Länder lehnen das ab. Nach den [6][giftigen Wortgefechten]
rund um Stark-Watzingers Bildungsgipfel dürfte die Arbeitsatmosphäre nicht
besser geworden sein. Die nächsten Gespräche finden laut BMBF diese Woche
statt.
Und die Zeit drängt. Voraussichtlich Ende Juni soll der Haushaltsentwurf
des Kabinetts für das kommende Jahr stehen. Bis dahin muss zumindest die
Finanzierung stehen, damit die Mittel auch wirklich zum Schuljahr 2024/25
fließen können.
Ob die Kieler Theodor-Storm-Gemeinschaftsschule dann vom
Startchancenprogramm profitiert, ist noch unklar. Was Carsten Haack aber
trösten dürfte: Die Landesregierung von Schleswig-Holstein hat versprochen,
das „Perspektivschulen“-Programm zu verlängern.
2 May 2023
## LINKS
[1] /Massnahmen-gegen-Lehrkraeftemangel/!5918498
[2] https://www.wuebben-stiftung-bildung.org/wp-content/uploads/2022/09/WS_Unte…
[3] https://www.ifo.de/publikationen/2023/aufsatz-zeitschrift/der-ifo-ein-herz-…
[4] /Ampelplaene-fuer-Bildungsgerechtigkeit/!5895419
[5] /Deutschlands-Bildungsmisere/!5920544
[6] /Krise-in-der-Bildung/!5918824
## AUTOREN
Ralf Pauli
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