| # taz.de -- Schulleiterin über Arbeit im Brennpunkt: „Wir verbuchen sichtbar… | |
| > Christiane Hartmann leitet eine Schule im sozialen Brennpunkt. Hier | |
| > erzählt sie, wie es ihrem Kollegium gelingt, Benachteiligungen | |
| > abzufedern. | |
| Bild: Es braucht Zeit und Kraft, benachteiligte Kinder zu fördern | |
| taz: Frau Hartmann, Sie leiten eine Grundschule im Kölner Stadtbezirk Kalk. | |
| Die Kinderarmutsquote liegt hier bei 34 Prozent – so hoch ist sie sonst | |
| nirgendwo in der Stadt. An Ihrer Schule leben acht von zehn Familien von | |
| staatlichen Transferleistungen. Was bedeutet das für Ihre Arbeit? | |
| Christiane Hartmann: Wir erleben jeden Tag, welche Päckchen die Familien zu | |
| tragen haben. Das wirkt sich natürlich auch auf die Kinder aus. Ein großer | |
| Teil kommt mit erheblichen Entwicklungsrückständen in die erste Klasse: | |
| sprachlich, aber auch bei ihren motorischen oder sozial-emotionalen | |
| Kompetenzen. Wir investieren viel Zeit, um diese Kinder zunächst auf ein | |
| gutes Basisniveau zu bringen. Genauso wichtig ist es aber, auch die Eltern | |
| zu unterstützen. Ich bin sehr froh, dass wir seit vier Jahren ein | |
| Familiengrundschulzentrum sind, das unseren Eltern Angebote zur Bildung und | |
| Begegnung macht. | |
| taz: [1][Das Konzept stammt aus dem Ruhrgebiet.] Mittlerweile gibt es | |
| Familiengrundschulzentren auch in Rheinland-Pfalz, Berlin, Sachsen, | |
| Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Warum sind sie wichtig für | |
| die Bildungschancen der Kinder? | |
| Hartmann: Wir haben an unserer Schule viele Eltern, die als „bildungsfern“ | |
| beschrieben werden können. Sie haben oft nicht die finanziellen und | |
| zeitlichen Ressourcen, um ihre Kinder optimal zu unterstützen. Gleichzeitig | |
| haben sie wenig Kenntnisse über das Schulsystem und die Hilfestrukturen und | |
| scheitern oft an Antragsformularen oder beim ersten Anrufbeantworter. Das | |
| hat auch mit Sprachbarrieren zu tun. Fast alle unsere Familien haben eine | |
| Zuwanderungsgeschichte – eine von vielen Hürden für die Bewältigung ihres | |
| Alltags. Wenn wir wollen, dass sie ihre Kinder besser begleiten, müssen wir | |
| ihnen pragmatisch helfen. | |
| taz: Haben Sie ein Beispiel? | |
| Hartmann: Wir bieten am Familiengrundschulzentrum zum Beispiel einen | |
| Deutschkurs für Mütter an und unterstützen bei Terminvereinbarungen oder | |
| Behördengängen. Wir weisen auf Schuldnerberatungen hin, stimmen uns mit dem | |
| Jugendamt ab und vermitteln unseren Familien Fachkräfte für die | |
| Schulbegleitung, die in Nordrhein-Westfalen allen Kindern mit bestimmten | |
| Diagnosen eigentlich ab dem ersten Tag zusteht. So weit die Theorie. | |
| In der Praxis dauert das oft zwei bis drei Jahre, bis alles bewilligt ist. | |
| Wir haben aber relativ viele Kinder, die dringend eine Schulbegleitung | |
| nötig hätten. Deshalb ist jede Klasse so oft wie möglich doppelt besetzt – | |
| es gibt also teilweise eine zweite Fachkraft, die sich um diese Kinder | |
| kümmert. Ansonsten wäre kein Unterricht möglich. | |
| taz: Laut einer [2][aktuellen Umfrage der Wübben Stiftung Bildung unter 226 | |
| Brennpunktschulen] ist die Arbeitsbelastung und der Zeitmangel im Kollegium | |
| die größte Herausforderung vor Ort. Wie ist das an Ihrer Schule? | |
| Hartmann: Das kann ich nur voll und ganz unterschreiben. Durch das | |
| Familiengrundschulzentrum haben wir zwar zwei zusätzliche Fachkräfte | |
| dazubekommen, das ist sehr wertvoll. Es könnten natürlich aber noch viel | |
| mehr sein. So ist unsere Gesundheitslotsin, die Kinder, Eltern und | |
| Kolleg:innen zu altersgerechter Ernährung beraten soll, nur mit einer | |
| 0,25-Stelle an unserer Schule. Da würden wir uns dringend mehr | |
| Stellenanteile wünschen. | |
| Wie zeitintensiv eine gute Elternarbeit ist, merken auch wir Lehrkräfte. | |
| Ein Elterngespräch dauert wegen der zusätzlich nötigen Erklärungen und oft | |
| darüber hinaus durch Übersetzungen deutlich länger. Wenn Sie 25 Kinder in | |
| der Klasse haben und ein Elterngespräch eine Stunde dauert, können Sie sich | |
| ausrechnen, was bei uns on top dazukommt. | |
| taz: In diesem Schuljahr sind Sie als eine von 2.150 Schulen bundesweit in | |
| das [3][Startchancen-Programm von Bund und Ländern] aufgenommen worden, mit | |
| dem sozial benachteiligte Schüler:innen unterstützt werden sollen. | |
| Welche Hilfen haben Sie in diesem ersten Jahr erhalten haben und wo hilft | |
| Ihnen das Programm bereits konkret? | |
| Hartmann: Sehr konkret hilft uns das Startchancen-Programm mit den | |
| zusätzlichen Stellenanteilen für multiprofessionelle Teams. Im Januar – | |
| nach ein paar Monaten Suche – haben wir die Stelle mit einer | |
| Sozialpädagogin besetzten konnten. Für unsere Arbeit ist die Diversität an | |
| Fachrichtungen und Persönlichkeiten enorm wichtig, um auf die Bedürfnisse | |
| der Kinder gezielt eingehen zu können. | |
| Wir haben Sonder- und Sozialpädagog:innen, Schulsozialarbeiter:innen, | |
| Ergänzungskräfte, pädagogische Mitarbeitende des offenen Ganztags und eben | |
| die Gesundheitslotsin. Über das Startchancen-Programm erhalten wir außerdem | |
| ein zusätzliches Schulbudget. Das sind in diesem Jahr 19.000 Euro, davon | |
| wollen wir als Erstes einen Förderraum für Schulanfänger:innen | |
| ausstatten. Und drittens kann der Schulträger auch Gelder für bauliche | |
| Maßnahmen bekommen. | |
| taz: Was haben Sie da geplant? | |
| Hartmann: Das ist etwas komplizierter. Mit unserem Schulträger, der Stadt | |
| Köln, haben wir schon über die Möglichkeit gesprochen, einen Raum für die | |
| Förderung einzurichten. Außerdem haben wir weitere Ideen, etwa für einen | |
| Motorikraum, Besprechungsräume, die Gestaltung des Pausenhofes. Das Problem | |
| ist, dass das Programm hier eine 30-prozentige Beteiligung durch den | |
| Schulträger vorsieht. In Zeiten milliardenschwerer Finanzlöcher in den | |
| Kommunen ist das eine Riesenhürde für eine inhaltlich von den Zielen des | |
| Programms überzeugte Stadt. | |
| taz: Gewerkschaften kritisieren, das Startchancen-Programm sei ein | |
| Bürokratiemonster. Erleben Sie das auch so? | |
| Hartmann: (lacht) Sagen wir es so: Wir haben vom Land Fragebögen erhalten, | |
| die mich schon die ein oder andere Abendstunde gekostet haben. Ich sehe | |
| aber auch, dass die inhaltliche Begleitung des Programms noch mitten im | |
| Prozess ist. Wichtig ist, dass wir uns auf das Wesentliche konzentrieren | |
| und endlich loslegen und damit klar signalisieren: Wir haben die | |
| Chancenungerechtigkeit zu lange vernachlässigt. Das ändern wir jetzt. | |
| taz: Bildungsforscher:innen mahnen seit Jahren, dass die | |
| Leistungsabstände zwischen privilegierten und benachteiligten Kindern schon | |
| zu Beginn der Grundschule enorm sind und sich bis zum Ende der vierten | |
| Klasse oft noch vergrößern. Können Grundschulen die ungleichen Startchancen | |
| auch nur annähernd ausgleichen? | |
| Hartmann: Ich kenne die Kurven, die Ausgangssituation ist leider in den | |
| zwanzig Jahren, in denen ich jetzt hier Schulleiterin bin, nicht besser | |
| geworden. Gleichzeitig verbuchen wir aber sichtbare Erfolge. Wir können | |
| diese auch zeitlich sehr gut auf unsere Maßnahmen zurückführen. Die | |
| Leistungen haben sich verbessert, nachdem wir viel konzeptionell gearbeitet | |
| haben, den offenen Ganztag und dann später ein inklusives Konzept für | |
| Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf einführten und | |
| mit passendem Personal ausgestattet haben. | |
| Leider stellen wir in Deutschland mit der Aufteilung in mehrere | |
| vermeintlich homogene Schulformen zu früh die Weichen für die | |
| Bildungskarrieren. Ich bin überzeugt, dass von einem längeren gemeinsamen | |
| Lernen bis zur 10. Klasse alle Kinder profitieren würden, insbesondere die, | |
| die mit einem dicken Problemrucksack starten müssen. | |
| taz: Darauf deuten auch sämtliche Studien aus dem In- und Ausland hin. Sind | |
| Sie nicht manchmal frustriert, dass die Politik das Thema Längeres | |
| gemeinsames Lernen seit Jahren abmoderiert und somit in Kauf nimmt, dass | |
| Ihre Arbeit an der Grundschule ein Stück weit verpufft? | |
| Hartmann: Verpufft: keinesfalls! Ich habe eher den Eindruck, dass mein | |
| engagiertes Team richtig viel bewirkt. Unsere Schüler:innen kommen uns | |
| teils nach Jahren noch besuchen und erzählen dann, was sie alles erreicht | |
| haben. Dennoch ist auch klar: In dem jetzigen System gibt es Grenzen und zu | |
| wenig Passung für unsere Klientel. Ich nehme aber ein breites | |
| gesellschaftliches Interesse wahr, die Dinge zum Guten zu wenden. | |
| taz: Hoffnung macht jetzt auch [4][die neue Bundesbildungsministerin Karin | |
| Prien (CDU)]. Sie will das Startchancen-Programm auf Kitas ausweiten. | |
| Hartmann: Das halte ich für eine sehr gute Idee. Wir arbeiten schon seit | |
| Jahren eng mit den Kitas in unserem Sozialraum zusammen, tauschen uns | |
| beispielsweise schon über die Bedarfe von Kindern aus, bevor sie zu uns an | |
| die Schule wechseln. Aber ich sehe, dass Brennpunkt-Kitas sehr große | |
| Probleme haben, Personal zu finden und zu halten. Wir Lehrkräfte an den | |
| Grundschulen sind ja gut bezahlt – für die Fachkräfte an Kitas muss die | |
| Arbeit endlich attraktiver werden. Wenn niemand den Job machen möchte, | |
| helfen auch keine milliardenschweren Programme weiter. | |
| 27 May 2025 | |
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| Ralf Pauli | |
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