# taz.de -- Mutter über Alltag an Brennpunktschule: „Von der Politik im Stic… | |
> Unterrichtsausfall, abgebrannte Turnhalle, unterfinanzierte | |
> Schulsozialarbeit: Eine Mutter schildert, was Kindern in | |
> Brennpunktschulen zugemutet wird. | |
Bild: „Das Frustrierendste ist, dass keinerlei Verbesserung in Sicht ist“, … | |
Das Thema Schule ist belastend, seit meine Kinder in die Schule gehen. Mein | |
erstes Kind wurde 2020 eingeschult, das heißt, es hatte zunächst einmal | |
eigentlich gar keine Schule. Sie fiel immer aus: Corona, Krankheitswellen, | |
Streik. Das Thema ist vor allem an unserer Schule belastend. Sie liegt | |
[1][im Berliner Stadtteil Wedding] und ist das, was viele eine | |
Brennpunktschule nennen würden. Der Großteil der Familien hier bezieht | |
staatliche Transferleistungen. Und auch wenn die Personalsituation laut | |
Schulleitung eigentlich gut ist – es fällt ständig Unterricht aus. | |
Seit Beginn des neuen Schuljahres hatten meine Kinder maximal fünf Wochen | |
regulär Schule. Tage, an denen meine Kinder krank waren, sind da noch nicht | |
einmal dabei. Ansonsten ist einfach immer irgendwas. Gerade flattert die | |
Nachricht ins Haus, dass unsere Schule vielleicht bald ohne | |
Schulsozialarbeit auskommen muss. Der Bezirk muss sparen und da fällt ihm | |
die Kinder- und Jugendhilfe ein. | |
Die Kommunikation mit der Schule läuft über eine App. Manchmal bekomme ich | |
Sonntagabend eine Nachricht, was die Kinder am Montagmorgen mitbringen | |
sollen. Oder am Montag kommt die Nachricht, übrigens, am Mittwoch ist | |
Streik. Ich bin eine Freundin von Streiks, aber der Druck wird einfach eins | |
zu eins an die Eltern weitergegeben. | |
Ich arbeite als Kunsttherapeutin, zwei Tage die Woche in einer Klinik. Da | |
gibt es keine Entschuldigung für ein Fehlen. An den anderen Tagen arbeite | |
ich freiberuflich, mein Partner im Homeoffice. Für uns bedeutet | |
Schulausfall immer Chaos. Manchmal haben wir vormittags fünf Kinder bei | |
uns, nachmittags sind sie woanders. Wir bekommen das organisiert, aber es | |
ist ein immenser Aufwand. | |
Wie lange noch? | |
Wenn ich eine Therapie absage, um meine Kinder zu Hause betreuen zu können, | |
ist die Therapie ja nicht einfach weg. Sie rutscht dann woanders hin und | |
mein Arbeitsalltag wird dadurch geballter. Finanziell kommt das auch | |
zurück, weil ich keine neuen Patient*innen annehmen kann. Ich gehe über | |
meine Grenzen, bin ausgebrannt und arbeite trotzdem, statt einen Tag | |
freizunehmen. Schließlich haben die Menschen, die Therapie in Anspruch | |
nehmen, in der Regel ja auch einen Leidensdruck. Es geht immer irgendwie, | |
aber die Frage ist: Wie lange noch? Meine Kinder gehen gerne zur Schule – | |
auch weil sie merken, dass es eine Belastung für die Eltern ist, wenn sie | |
ausfällt. | |
Es gibt – wie an allen Berliner Schulen – eine Notbetreuung für Kinder von | |
Eltern, die zum Beispiel im Schichtdienst arbeiten, mit der Bitte, die | |
Kinder aber möglichst zu Hause zu behalten. Allein das Wort: Notbetreuung! | |
Wir haben sie ein paar Mal in Anspruch genommen, aber das hat für uns | |
keinen Sinn ergeben. Die Kinder fühlen sich dort nicht wohl und werden auch | |
nicht gut betreut. Es ist ein Privileg, dass unsere Kinder zu Hause bleiben | |
können. Natürlich ist es schön, auszuschlafen und zu Hause sein zu dürfen. | |
Aber schöner ist es, in den Ferien auszuschlafen. | |
Trotz der vielen Ausfälle sind die Anforderungen an die Kinder aber so, als | |
gäbe es einen regulären Schulalltag. Das bekommen die Kinder ab. Unsere | |
Schule ist hausaufgabenfrei, eine offene Ganztagsschule. Um den | |
Leistungsanspruch zu erfüllen, gibt es dann eben doch manchmal durch die | |
Hintertür Hausaufgaben. Wie jetzt über die Weihnachtsferien. | |
Anstatt der Hausaufgaben haben wir ein sogenanntes Morgenband, von 8 bis | |
8.30 Uhr, da sitzen die Eltern mit den Kindern in der Klasse und begleiten | |
sie bei Aufgaben. Da sitzen natürlich die Eltern, die sich das leisten | |
können. Die Idee ist, dass diese Eltern sich um alle Kinder kümmern. | |
Geballtes Akademiker*innen-Wissen, denn das sind mehrheitlich die Leute, | |
die da sitzen. Ich versuche, einmal pro Woche beim Morgenband dabei zu sein | |
bei jedem Kind, aber schaffe es nicht immer. Das kann ich mittlerweile ganz | |
gut, Scheuklappen aufsetzen. Aber meine Kinder, die fragen dann schon: Wann | |
kommst du wieder mit? | |
In die Nachmittagsbetreuung gehen meine Kinder nicht so gerne, weil es | |
aufgrund von Krankheiten und Kündigungen [2][zu wenig Erzieher*innen] | |
gibt, diese dann häufig zwischen den Gruppen wechseln, Bezugspersonen sich | |
also ständig ändern und es ihnen dort zu laut ist. Deshalb kommen sie | |
früher nach Hause. | |
## Ein Brand verhindert Sportunterricht | |
Und dann hat es in unserer Schule auch noch gebrannt. Das Deckenlicht ist | |
explodiert. Es war wohl schon länger klar, dass die Elektrizität marode ist | |
und überarbeitet werden muss. Beide Turnhallen sind komplett ausgebrannt, | |
auch die Horträume nebenan waren betroffen. Im September war das. Erst | |
Mitte Dezember, nachdem die Elternvertreter*innen einen Brandbrief | |
geschrieben haben, gab es einen Ortstermin mit Gutachter und Bezirksamt. | |
Bis dahin ist einfach nichts passiert. 200 Kinder ohne Sport- und | |
Horträume. Langjährige Erzieher*innen haben gekündigt, weil sie es | |
nicht mehr ausgehalten haben. | |
Die Turnhalle wird jetzt zunächst asbestgereinigt und dann saniert. Das | |
dauert sieben Jahre. Erstmal war nach dem Brand wieder keine Schule mehr | |
für einige Tage, da nicht sichergestellt werden konnte, ob es genug | |
Fluchtwege gibt. Hinten sind die Ausgänge wegen Sanierung gesperrt, vorne | |
waren die Fluchtwege zumindest zeitweilig wegen des Brandes gesperrt. Auch | |
ein Teil des Hofes kann nicht genutzt werden aufgrund der Schäden. Jetzt | |
ist wieder Schule, aber es gibt keine Mensa. Die Kinder stehen auf den | |
Fluren herum und essen aus Mehrwegbechern kaltes Essen. Es ist so ein | |
bisschen wie so Schweinefraß. | |
Hier im Wedding ist das für viele Kinder häufig die einzige warme Mahlzeit | |
am Tag. Früher gab es auch die Möglichkeit für ein Frühstück, das gibt es | |
jetzt auch nicht mehr. Die meisten Menschen wohnen hier auf beengtem | |
Wohnraum und jetzt ist auch die Schule beengt. | |
Das Frustrierendste ist, dass keinerlei Verbesserung in Sicht ist. Mein | |
jüngstes Kind wird in zwei Jahren eingeschult, und wenn wir Glück haben, | |
hat es dann vielleicht in der 6. Klasse Sportunterricht in einer Turnhalle. | |
Aktuell haben die Kinder wieder Sport und zwar überall, wo es im Umfeld | |
möglich ist. Man sieht die Kinder dann nebenan auf einem Spielplatz oder | |
ich treffe die Klassenverbände auf einem belebten Platz im Kiez, dort | |
machen sie Turnübungen. Es ist wirklich absurd. | |
Die Teilsanierung der Horträume in der Schule führt auch dazu, dass in dem | |
kompletten Trakt – einem einzeln stehenden Gebäude – die Toiletten nicht | |
benutzt werden können. Das heißt, mein siebenjähriges Kind muss, wenn es | |
aufs Klo muss, einmal vom dritten Stock über den Hof in den ersten Stock | |
des Nachbargebäudes laufen – auch bei Eis und Regen und Schnee. Es ist | |
erstaunlich, dass die Erzieher*innen noch keine Wechselwäsche für ihre | |
Klassen angefragt haben. Schließlich gibt es noch jüngere Kinder. Aber | |
wahrscheinlich geht das eh alles im Baulärm der durch Plastikfolie | |
abgetrennten Baustelle unter. | |
Ich habe Sorge, Sorge vor Belastung. Es ist nicht absehbar, wie viel | |
Unterricht ausfallen wird. Der erste unterrichtsfreie Tag Ende Januar wurde | |
gerade angekündigt, dieses Mal wegen „Lernberatungsgesprächen“. Wir haben | |
dann für eine halbe Stunde ein Gespräch in der Schule und den Rest | |
verbringen wir wartend zu Hause. Die Organisation von drei Kindern ist so | |
krass, wenn die Schule nicht funktioniert. Es hat Einfluss auf uns als | |
komplette Familie. | |
## Kinder haben das Gefühl, sie würden stören | |
Wir Eltern, wir werden das irgendwie überleben. Es ist hart, es ist | |
anstrengend. Aber wir werden es überleben, mit mehr grauen Haaren, mit mehr | |
Falten. Wir werden es durch diese Grundschulzeit schaffen. Aber was wird | |
aus dieser Generation Kinder, die gerade allen egal zu sein scheint? Die | |
Kinder kriegen ja den Stress der Eltern mit. Sie kriegen mit, dass wir | |
aufwachen, Nachrichten lesen und uns fragen: Wie machen wir das diese | |
Woche? Sie haben ja permanent das Gefühl, sie würden stören. | |
Die Schule hat seit Jahren Studientage zum Thema Demokratie. Das ist ja | |
schön und gut, aber genauso wichtig wäre doch, den Kindern zu zeigen, dass | |
sie gehört werden in diesem demokratischen System. Nicht nur als | |
Klassensprecher*innen, sondern generell. Bei den Streiks von Lehrenden und | |
Erzieher*innen geht es ja auch um die Kinder, um ihre Chancen, ihre | |
Zukunft. Das wird überhaupt nicht sichtbar. Man hat den Eindruck, im | |
Mittelpunkt stehen nur wieder die Erwachsenen. | |
Ich fühle mich von der Politik im Stich gelassen. Wenn ich Aufrufe von | |
Politikern nach noch mehr und längeren Arbeitszeiten lese, denke ich: Was | |
willst du eigentlich? Wir sind hier Doppelverdiener*innen, leben in einer | |
3,5-Zimmer-Wohnung und sind dabei noch die Privilegierteren. | |
Und ich arbeite wirklich gerne! Es tut mir einfach nur leid für meine | |
Kinder. Ich weiß nicht, wie sie das später verarbeiten können. Meine Kinder | |
sind mit Sicherheit resilient, sie haben Privilegien, sie sind gereist und | |
haben was von der Welt gesehen. Sie haben eine wirklich gute Basis. Aber | |
was ist mit den anderen Kindern, die das nicht haben? [3][Und die das nicht | |
nachholen können?] Die haben einfach Pech gehabt. Ich habe einfach nur | |
Mitleid mit dieser Generation. | |
Protokoll: Mareice Kaiser | |
31 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Jugendclub-in-Berlin-Wedding/!5968040 | |
[2] /Zu-viele-Grundschullehrkraefte/!5984724 | |
[3] /Lehren-aus-der-verheerenden-Pisa-Studie/!5976714 | |
## AUTOREN | |
Mareice Kaiser | |
## TAGS | |
Brennpunktschulen | |
Bildungssystem | |
Bildungschancen | |
Schwerpunkt Armut | |
Schule | |
Bildung | |
Chancengleichheit | |
GNS | |
Schule | |
Pisa-Studie | |
Brennpunktschulen | |
Kiel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Schule im Brennpunkt: Mahmouds Startchancen | |
Die Ampel feiert den Durchbruch für mehr Bildungsgleichheit. Ein Lehrer | |
kennt die Probleme. Er schreibt, wie eine gute Schule aussähe: | |
Ex-Lehrer zum Umgang mit der Pisa-Studie: „Falsch und gefährlich“ | |
Warum schneidet das deutsche Schulsystem bei Pisa so schlecht ab? | |
Bildungsaktivist Philipp Dehne sagt: Auch wegen der schlechten | |
Arbeitsbedingungen. | |
Brennpunktschulen sollen mehr Geld erhalten: Förderung nach Sozialindex | |
Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger hat Details zum | |
Startchancenprogramm vorgestellt. Umstritten ist vor allem, wie das Geld | |
verteilt wird. | |
Chancenstartprogramm und Schulförderung: Eine Lehrstunde aus Kiel | |
Der Bund will ab 2024 benachteiligte Schüler:innen mit mehr Geld | |
unterstützen. An einer Schule in Kiel weiß man, wie es sinnvoll eingesetzt | |
wird. |