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# taz.de -- Ex-Lehrer zum Umgang mit der Pisa-Studie: „Falsch und gefährlich…
> Warum schneidet das deutsche Schulsystem bei Pisa so schlecht ab?
> Bildungsaktivist Philipp Dehne sagt: Auch wegen der schlechten
> Arbeitsbedingungen.
Bild: Ganz schön abgenutzt: Schüler:innen und Lehrkräfte leiden unter den�…
taz: Herr Dehne, die Pisa-Studie hat dem deutschen Bildungssystem gerade
[1][ein verheerendes Zeugnis] ausgestellt. Die Politik erklärt den
Leistungsabfall vor allem mit der Pandemie und der gestiegenen
Heterogenität in den Klassen. Stimmen Sie zu?
Philipp Dehne: Ich finde es falsch und gefährlich, wenn die Politik die
Ergebnisse jetzt auf die Pandemie und den hohen Anteil an Schüler:innen
mit Migrationshintergrund abwälzt. Diese Analyse greift viel zu kurz. Vor
allem, weil sich die Probleme im Bildungsbereich ja schon länger deutlich
zeigen. Die zementierte Ungleichheit, der krasse Personalmangel, das
veraltete Schulsystem.
Sie haben selbst mehrere Jahre als Lehrer in Berlin-Kreuzberg und -Neukölln
gearbeitet. Wie haben Sie die Arbeitsbedingungen erlebt?
Als Mischung zwischen krasser Motivation und Überlastung. Die Kreuzberger
Schule, an der ich vor allem gearbeitet habe, war stark armutsbelastet. Das
Grundgefühl war: Ich sehe, dass viele meiner Schüler:innen hier oder da
dringend mehr Unterstützung bräuchten. Doch dafür reicht die Zeit einfach
nicht – obwohl ich schon mehr arbeite. Das ist echt frustrierend. Diese
Erfahrung machen aber viele Lehrkräfte.
Dazu kommen die [2][gestiegenen Erwartungen an Lehrkräfte – Stichwort
Nahostkonflikt]. Können die Schulen das alles leisten?
Ich finde es wichtig, dass gesellschaftliche Konflikte und Krisen in der
Schule behandelt werden. Viele Lehrkräfte sehen auch die Notwendigkeit,
über den Nahost-Konflikt, über das Auseinanderdriften der Gesellschaft,
über die Klimakrise zu reden. Nur sollen sie diese Themen on top machen,
neben dem Stoff und den ganzen Verwaltungsaufgaben. Eigentlich brauchen wir
ein Umdenken im Bildungssystem, das diesen lebensweltlichen Fragen
dauerhaft mehr Zeit einräumt, nicht bloß dann, wenn Krisen gerade stark in
den Medien sind.
Die Bildungsminister:innen prüfen gerade [3][neue Ideen der Ständigen
Wissenschaftlichen Kommission (SWK)], um den Unterricht langfristig
sicherzustellen. Unter anderem soll ein Ein-Fach-Master eingeführt, das
Referendariat verkürzt und Assistenzlehrkräfte besser ausgebildet werden.
Was halten Sie von den Vorschlägen?
Im SWK-Gutachten stehen viele gute Ansätze. Etwa, dass die
Kultusministerkonferenz endlich ihre Bedarfsprognosen verbessern oder
Theorie und Praxis in der Lehramtsausbildung besser verzahnen muss. Auch
die Ein-Fach-Lehrkräfte können bestimmt helfen, mehr Personen für den Job
in der Schule zu motivieren. Ein verkürztes Referendariat erschließt sich
mir hingegen nicht. Gerade weil die Praxis im Studium zu kurz kommt.
Die SWK beklagt, dass die Lehrerausbildung in Deutschland mit
durchschnittlich 6,5 Jahren zu lange dauert.
Die Frage ist doch eher, ob das Lehramtsstudium gut auf den Beruf
vorbereitet. Und da sagen immer wieder Studierende, dass es das nicht tut,
auch weil es zu weit von der Schulrealität weg ist und die Verzahnung von
Theorie und Praxis zu oft nicht gelingt. Bevor man pauschal die Dauer der
Lehrerausbildung kürzt, sollte man erst bei der Qualität und den
Studienbedingungen ansetzen.
Der „[4][Bildungsrat von unten]“, in dem Sie sich engagieren, bezeichnet
das SWK-Gutachten insgesamt als „praxisfern und mit blinden Flecken“. Was
fehlt Ihnen?
Das SWK-Gutachten liest sich so, als ob ein höherer Anteil an akademischem
Input die Lösung für die Probleme und Herausforderungen bei der
Lehrkräftebildung wäre. Das bezweifle ich. Mir fehlt die Erfahrung aus der
Schulpraxis. Der Arbeitsalltag an Schulen muss stärker berücksichtigt
werden.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Die SWK analysiert unter anderem, dass zu wenige junge Menschen heute auf
Lehramt studieren, und schlägt deshalb vor, verschiedene Gruppen
zielgerecht anzusprechen. Das Augenmerk liegt also auf der Werbekampagne.
Man könnte aber auch sagen: Wir verbessern die Arbeitsbedingungen an
Schulen. Wenn der Beruf attraktiv ist, ist das die beste Werbung. Dazu aber
kein Wort.
Manche Vorschläge sind aber auch sinnvoll, oder? Etwa, dass sich alle
Lehrer:innen 30 Stunden im Jahr fortbilden müssen.
Den Vorstoß begrüßen wir im Prinzip. Aber auch er verkennt die Situation an
Schulen. Wir haben Kolleg:innen, die aufgrund der Personalsituation total
überlastet sind. Dazu kommt, dass viele Fortbildungen kaum einen Mehrwert
haben. Ich höre immer wieder von Lehrkräften, dass ihnen die Angebote für
ihren konkreten Schulalltag wenig bringen.
Kann es sein, dass Sie schlecht auf die SWK zu sprechen sind? Die
[5][Notmaßnahmen], die das Gremium im Januar gegen den Personalmangel
empfahl, bezeichneten Sie damals als „Schlag ins Gesicht“ für die
Lehrkräfte.
(lacht) Zu dem Urteil stehe ich. Schließlich liefen viele der Maßnahmen auf
[6][Mehrarbeit der Lehrkräfte] hinaus, in einer Situation, in der die
Belastung durch den Mangel eh von Jahr zu Jahr steigt. Gegen die SWK habe
ich nichts. Wir wollen aber ins Gespräch gehen über ihre und über unsere
Perspektiven. Kommende Woche trifft sich der Bildungsrat von unten auch mit
dem SWK-Vorsitzenden, um sich auszutauschen.
Was die SWK vorschlägt, ist das eine. Was die Bildungsminister:innen
umsetzen, steht auf einem anderen Blatt. Was würden Sie sich wünschen?
Ende Januar werden wir vom Bildungsrat konkrete Vorschläge machen. Generell
fordern wir mehr Verbindlichkeit bei der Umsetzung von gemeinsamen Zielen,
zum Beispiel über einen Staatsvertrag. Für die Lehramtsausbildung etwa gibt
es bis heute keine klaren Regeln, wie viele Lehrkräfte jedes Bundesland
ausbilden muss. Ein zweiter Wunsch wäre, dass wir über die Stundentafel
reden. An vielen Schulen fallen jeden Tag Stunden aus. Trotzdem tun wir so,
als könnten wir die heilige Stundentafel aufrechterhalten. Da müssen wir
uns ehrlich machen und überlegen, wie man die vorhandenen Ressourcen besser
aufteilen kann.
Und die [7][100 Milliarden Sondervermögen, die Gewerkschaften, SPD und
Linke fordern]?
Die braucht es! Wir brauchen aber auch das Bewusstsein, wie viel
Deutschland anteilig in Bildung investiert. Wenn wir uns da an Ländern
orientieren, die bei Pisa besser abschneiden, müssen wir ordentlich
drauflegen. 50 Milliarden pro Jahr, wenn wir so viel ausgeben wie Dänemark.
Wenn wir zu Norwegen aufschließen wollen, müssten wir jedes Jahr sogar 120
Milliarden Euro mehr ausgeben.
14 Dec 2023
## LINKS
[1] /Pisa-Schock-fuer-deutsche-Schuelerinnen/!5974146
[2] /Paedagogen-ueber-den-Nahost-Konflikt/!5965360
[3] /Lehrermangel-an-Schulen/!5975914
[4] https://bildungsrat.org/
[5] /Teilzeitquote-an-Schulen/!5908091
[6] /Lehrkraeftemangel-in-Sachsen-Anhalt/!5911996
[7] /SPD-Vorsitzende-Saskia-Esken/!5971317
## AUTOREN
Ralf Pauli
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