# taz.de -- Arbeitsort Schule: Minuten zählen lernen | |
> Eine laufende Studie misst die Arbeitszeit von Berliner Lehrer*innen. | |
> Zwischenergebnisse zeigen, dass Digitalisierung oft zu mehr Belastung | |
> führt. | |
Bild: Schülerinnen der Klassenstufe 1-3 einer Berliner Grundschule lösen im M… | |
BERLIN taz | Egal, was Caroline Muñoz del Rio für ihre Arbeit tut, sie | |
trägt es danach in eine App ein. Auch wenn sie sich nur schnell nebenbei | |
mit einer Schülerin austauscht oder kurz mit einem Kollegen spricht. Jede | |
Minute zählt. Muñoz del Rio ist Lehrerin für Deutsch und Spanisch an einem | |
Oberstufenzentrum (OSZ) in Berlin-Wedding. Seit einem halben Jahr nimmt sie | |
an einer repräsentativen Studie der Universität Göttingen teil, die die | |
[1][Arbeitszeit und Belastung von Lehrer*innen in Berlin erfassen soll]. | |
Begleitet wird die Studie durch weitere Befragungen der teilnehmenden | |
Lehrer*innen, etwa nach ihren Erfahrungen mit Digitalisierung. Das | |
Ergebnis: Berlins Lehrer*innen leiden unter „digitalem Stress“. Obwohl | |
etwa elektronische Tafeln und Lernplattformen ihre Arbeit erleichtern | |
sollen, empfinden fast drei Viertel der Befragten die Digitalisierung als | |
Zusatzbelastung. Dabei sei die Bereitschaft der Lehrer*innen | |
grundsätzlich hoch, betonte Studienkoordinator Frank Mußmann bei der | |
Präsentation der Ergebnisse am Freitag. | |
Die Probleme lägen vor allem in der Ausstattung der Schulen und der | |
Organisation. „Nur ein Drittel der Lehrkräfte nutzt das von der | |
Senatsverwaltung herausgegebene persönliche digitale Endgerät regelmäßig | |
mindestens wöchentlich“, sagte Mußmann. „Unter anderem, weil es sich nicht | |
mit der digitalen Tafel in der Schule oder einem Drucker verbinden lässt.“ | |
Andere Lehrkräfte verwendeten deshalb private Geräte, obwohl das gar nicht | |
erlaubt sei. Das habe ihn überrascht: „Wieso ist so ein Problem nach zwei | |
Jahren noch immer nicht gelöst?“ | |
## Digital ausgebremst | |
Drei Viertel der Befragten gaben an, mehr digitale Elemente in den | |
Unterricht einbauen zu wollen – oft fühlen sie sich aber durch die | |
schlechten Rahmenbedingungen ausgebremst. Einige äußerten die Befürchtung, | |
von den Schüler*innen ausgelacht zu werden, wenn es technisch nicht | |
klappe. Weil Geräte oder die Internetverbindung an etlichen Schulen nicht | |
zuverlässig funktionierten und sie wenig Unterstützung in IT-Fragen hätten, | |
würden Lehrer*innen Unterricht oft sowohl analog also auch digital | |
vorbereiten – noch eine Mehrbelastung. | |
„Die Ergebnisse sollten Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch | |
endgültig wachrütteln, denn bisher wird die Schuldigitalisierung von den | |
politisch Verantwortlichen verschlafen“, kritisiert Anne Albers, bei der | |
Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) zuständig für Beamten-, | |
Angestellten- und Tarifpolitik. Die GEW erhofft sich ebenso wie die | |
Wissenschaftler*innen Aufschluss darüber, wie viele Stunden pro Woche | |
Lehrer*innen tatsächlich arbeiten. | |
Denn das wird bisher nicht systematisch erfasst. In den Arbeitsverträgen | |
der Lehrer*innen stehen Unterrichtsstunden. [2][Niemand weiß wirklich, | |
wie viel Zeit] für Vor- und Nachbereitung des Unterrichts, Korrekturen, | |
Konferenzen, Organisation von Klassenfahrten oder Elterngespräche | |
dazukommt. Dabei müsste nach einer EU-Richtlinie auch an Schulen die | |
Arbeitszeit genau erfasst werden. In Hamburg läuft seit Anfang Februar eine | |
ähnliche Arbeitszeit- und Belastungsstudie, dort können Lehrer*innen | |
noch einsteigen. [3][In Bremen fangen sie gerade an, über Modelle zur | |
Zeiterfassung] zu diskutieren. | |
Die repräsentative Arbeitszeiterfassung in Berlin läuft noch bis zu den | |
Sommerferien. Sie war im August mit Beginn des Schuljahres gestartet. Mehr | |
als 3.000 Lehrer*innen hatten sich damals angemeldet, rund 10 Prozent | |
aller Lehrer*innen in Berlin. Einige hätten abgebrochen, laut Anne | |
Albers sind aber viele auch noch eingestiegen. Am Wochenende haben sie die | |
Halbzeit der Studie gefeiert. „Es ist jetzt wichtig, dass alle dabei | |
bleiben“, betont Albers. | |
## Aha-Erlebnisse im Gruppenchat | |
Am OSZ von Lehrerin Muñoz del Rio nehmen 20 Kolleg*innen an der Befragung | |
zur Digitalisierung und der großen Studie teil. Mit ihnen tausche sie sich | |
in einem Gruppenchat über die Eintragungen aus, so die Lehrerin. Da habe es | |
schon einige Aha-Erlebnisse gegeben: Etwa bei der Frage, ob sie Pausen | |
tatsächlich zur Erholung nutzen. Ein Kollege habe im Chat geschrieben: | |
„Wenn wir in der Zeit über Unterricht oder einzelne Schüler*innen | |
sprechen, dann ist das eigentlich dienstlich und sollte auch so erfasst | |
werden. Das läppert sich ungemein.“ | |
Auch das Eintragen sei erstmal ein weiterer Punkt auf der langen | |
To-do-Liste so Muñoz del Rio. Aber die App sei recht einfach zu handhaben, | |
regelmäßige Arbeiten könnten sie schon voreintragen und dann wochenweise | |
bestätigen. „Mittlerweile habe ich dadurch ein besseres Gefühl für meine | |
Arbeitszeit entwickelt“, sagt sie. „Ich weiß: Ich arbeitete definitiv mehr, | |
als ich müsste.“ | |
Für sie persönlich sei noch einmal deutlich geworden, wie viel Zeit die | |
digitale Kommunikation beanspruche. „Mehrmals am Tag bearbeite ich auf | |
verschiedenen Kanälen Nachrichten: In den Mails, im Messenger, im digitalen | |
Klassenbuch.“ Etwa beim Austausch mit der Schulleitung, mit Kolleg*innen, | |
mit Eltern, Nachrichten von und an Schüler*innen. „Klar ist digital vieles | |
einfacher. Aber ich habe gemerkt: Die digitalen Kanäle fressen auch Zeit“, | |
sagt sie. Das führe dazu, dass sich die Arbeitszeit entgrenze. „Weil ich | |
dann doch eben noch schnell ein Attest oder eine Fehlzeit eintrage, wenn | |
ich abends eigentlich gerade privat am Handy bin.“ | |
Aufschlussreich findet Muñoz del Rio auch, wie sich ihre Arbeitszeit | |
verteilt: „Für mich ist jetzt schon absehbar, dass der Unterricht höchstens | |
ein Drittel ausmacht.“ Das habe sie so nicht erwartet, und es sei | |
eigentlich zu viel. „Aber wir merken auch: Die Schüler*innen brauchen | |
immer mehr Unterstützung, generell wächst der Bedarf an pädagogischer | |
Kommunikation abseits der Unterrichtsstunden“, sagt sie. „Man beutet sich | |
selbst aus – oder hat halt einfach nie genug Zeit. Das ist wirklich | |
bitter.“ | |
## Kleinere Klassen, weniger Unterricht | |
Positiv findet Muñoz del Rio, dass sich die Kolleg*innen in der | |
Chatgruppe dazu ermutigen, gut auf sich aufzupassen und sich Tipps geben. | |
„Das machen wir normalerweise kaum. Schule könnte sehr davon profitieren, | |
wenn es dafür Räume gäbe“, findet sie. Doch das ginge derzeit alles im | |
Alltagsstress unter. | |
„Prinzipiell müssten wir die Zahl der Unterrichtsstunden reduzieren und die | |
Klassen verkleinern, um die zeitliche Belastung einzugrenzen“, sagt sie. | |
Außerdem würde sie sich wünschen, dass administrative Aufgaben von anderen | |
übernommen würden und mehr Psycholog*innen und | |
Sozialarbeiter*innen an den Schulen unterstützen würden. | |
Die Bildungsverwaltung zeigt sich stets bemüht: „Uns ist bewusst, dass die | |
Digitalisierung neue Herausforderungen, aber auch Chancen für Lehrkräfte | |
mit sich bringt“, so ein Sprecher in Reaktion auf die Studienergebnisse zu | |
digitalem Stress. „Auch deshalb versuchen wir, wo es geht, Lehrkräfte zu | |
entlasten.“ | |
Das geschehe etwa durch zusätzliche Verwaltungsleitungen an allen Schulen, | |
zusätzliche externe IT-Betreuung oder weiterentwickelte | |
Lernmanagementsysteme. Auch die Schuldigitalisierung gehe konsequent | |
weiter: Ziel sei die Ausstattung aller öffentlichen Schulen mit schnellem | |
Internet bis zum Ende der Legislaturperiode 2026. | |
19 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Arbeitsbelastung-von-Lehrerinnen/!5951148 | |
[2] https://www.gew-berlin.de/arbeitszeitstudie | |
[3] /Arbeitszeiterfassung-bei-Lehrkraeften/!5989266 | |
## AUTOREN | |
Uta Schleiermacher | |
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