# taz.de -- Schule im Brennpunkt: Mahmouds Startchancen | |
> Die Ampel feiert den Durchbruch für mehr Bildungsgleichheit. Ein Lehrer | |
> kennt die Probleme. Er schreibt, wie eine gute Schule aussähe: | |
Bild: Schnell rein da, um ja nicht zu spät zu kommen! Schüler:innen steigen i… | |
BERLIN taz | Mahmoud ist zu Beginn dieser Geschichte 13 Jahre alt und geht | |
in die 7. Klasse einer Gemeinschaftsschule in Neukölln. Er ist in Berlin | |
geboren, allerdings besitzt er lediglich einen Duldungsstatus, genau wie | |
der Rest seiner Familie, die vor 16 Jahren aus dem Libanon nach Deutschland | |
geflohen ist. Mahmoud hat fünf Geschwister, er ist das dritte Kind der | |
Familie. Sie wohnt in einer 85-Quadratmeter-Wohnung auf der Sonnenallee, | |
einer der lautesten Straßen der Stadt. | |
Mahmoud teilt sich ein Zimmer mit seinen drei Brüdern. Zum Lernen oder für | |
Hausaufgaben findet er zu Hause weder Platz noch Ruhe. Eines Tages ist er | |
auf [1][Klassenfahrt] in Stralsund. Ein Passant ruft ihm hinterher, er | |
solle sich in „sein Land verpissen“. Als ich mit ihm darüber spreche, | |
erschreckt mich, dass er mir sagt: „Herr Nolte, das ist doch normal.“ | |
Mahmoud ist eine fiktive Figur, die sich aber aus typischen Erfahrungen mit | |
Schülerinnen und Schülern meiner ehemaligen Klasse zusammensetzt. | |
Gerade haben die 16 Kultusministerinnen und Kultusminister einer | |
Vereinbarung zwischen Bund und Ländern zugestimmt, [2][dem sogenannten | |
Startchancen-Programm]. Es sei das „größte Bildungsprogramm in der | |
Geschichte der Bundesrepublik“, betont Bundesbildungsministerin Bettina | |
Stark-Watzinger (FDP) und ein „Aufstiegsversprechen“. | |
Das ominöse „Aufstiegsversprechen“ im deutschen Bildungssystem einzulösen, | |
ist ein großes Vorhaben, bedenkt man, dass diverse Studien es seit | |
Jahrzehnten für mausetot erklären. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, | |
wie stark der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg in | |
Deutschland ist. Und wie sehr es zur Ballung dieser Problemlage an Schulen | |
in bestimmten Sozialräumen kommt, den sogenannten Brennpunktschulen. Nun | |
sollen 4.000 dieser Schulen vom Startchancen-Programm profitieren. | |
## Modaladverbiale bestimmen die Zukunft eines Kindes | |
Mit 16 schafft Mahmoud in der 10. Klasse seinen Mittleren Schulabschluss | |
mit der Note 3,1. Er hat eine Fünf in Mathe, eine Vier in Deutsch und eine | |
Drei in Englisch. In Deutsch fehlen ihm drei Punkte für eine Drei. In der | |
Prüfung verwechselt er Kausal- und Modaladverbiale und versteht eine | |
Aufgabe nicht, in der er einen Satz aus Umgangs- in Standardsprache | |
übersetzen soll. Am Oberstufenzentrum, an dem er danach sein Abitur machen | |
will, hat er Schwierigkeiten mit seinem neuen Klassenlehrer. Irgendwann | |
geht er einfach nicht mehr hin. | |
Bevor er mit 13 auf unsere Schule wechselte, lag sein Notenschnitt bei 3,8. | |
Dazu haben wir eine Akte bekommen, deren Dicke auf die Menge der Probleme | |
aus seiner bisherigen Schullaufbahn hindeutet. In der Grundschule war er | |
oft in Streitigkeiten verwickelt gewesen, Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen | |
hatten wenig Wirkung gezeigt. | |
Seine Klassenlehrerin beschrieb ihn im Übergabegespräch als „sehr | |
schwierig“. Persönlich erlebte ich ihn oft als aufbrausend, ungeduldig, | |
direkt, aber auch als schlagfertig und sehr neugierig, vor allem bei | |
politischen und gesellschaftlichen Themen. Für Mahmoud war es | |
selbstverständlich, seine zwei kleinen Geschwister zur Kita zu bringen und | |
nach der Schule wieder abzuholen. Häufig kam er deswegen morgens zu spät. | |
Als Mahmoud 10 war, hatte sich seine Mutter von seinem Vater getrennt. Es | |
wurde nie eindeutig ausgesprochen, aber es gibt viele Hinweise darauf, dass | |
der Grund dessen Gewalttätigkeit war. Seine Mutter brachte die fünf kleinen | |
Kinder seitdem alleine durch, indem sie bei drei unterschiedlichen Firmen | |
putzen ging. Für die Kinder blieb wenig Zeit, aber sie war bei jedem | |
Elterngespräch und man merkte, wie sehr sie sich bemühte, dass Mahmoud die | |
Erwartungen der Schule erfüllte. | |
## Schulweg: 1 Stunde | |
Da sie nicht gut Deutsch sprach, musste Mahmoud immer wieder übersetzen, | |
wenn Termine bei Ämtern anstanden. Auch das Kündigungsschreiben der | |
Hausverwaltung für ihre Wohnung übersetzte er ihr und brachte es am | |
nächsten Tag mit in die Schule. Er fragte, ob die das dürften. In der 9. | |
Klasse zog Mahmoud mit seiner Familie von Neukölln nach Marzahn. Er blieb | |
auf unserer Schule und hatte fortan einen Schulweg von einer Stunde. | |
Jugendlichen wie Mahmoud haben SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag | |
versprochen, „Menschen unabhängig von ihrer Herkunft beste Bildungschancen | |
zu bieten“. Ein Instrument hierfür soll das Startchancen-Programm sein. Das | |
ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn zweifelhaft ist, ob das | |
zur Verfügung gestellte Geld ausreicht. Was aber fehlt, ist ein tieferes | |
Verständnis, wie komplex und facettenreich das Problem der | |
Bildungsungerechtigkeit ist. Und wie ungerecht die Selektion durch die | |
Schulen ist, die wie eine Jury darüber bestimmen, welche Lebenschancen ein | |
junger Mensch erhält. | |
Die spannende Frage wird sein, wie es den einzelnen Schulen gelingt, mit | |
dem Geld ernsthaft Einfluss auf die Bildung all der Mahmouds in diesem Land | |
zu nehmen. Wer Bildungsgerechtigkeit will, muss massiv in frühkindliche | |
Förderung und Grundschulen investieren. Denn das sind die Orte, an denen | |
noch alle Kinder zusammen lernen und an denen frühzeitig und präventiv | |
Benachteiligungen ausgeglichen werden können. | |
Wer es ernst meint mit der Gerechtigkeit, muss auch weiterführende Schulen | |
mit Förderangeboten sowie ruhigen Arbeitsplätzen ausstatten, über die | |
benachteiligte Schülerinnen und Schüler außerhalb der Schule nicht | |
verfügen. Wir brauchen eine Schule, die nicht selektiert, sondern | |
willkommen heißt. | |
## Manche Kinder sollten in der Schule bevorzugt werden | |
Eine Schule, die richtig gut ausgestattet ist. Die modern ist, sowohl was | |
das Gebäude als auch was den Unterricht angeht. Die Schülerinnen und | |
Schüler wie Mahmoud besonders gut unterstützt, ja ihn sogar bevorzugt | |
behandelt. Die Idee einer Bevorzugung lässt zunächst vielleicht stutzen, | |
ist aber eine rein logische, ja zwingende Schlussfolgerung: Werden Kinder | |
außerhalb der Schule massiv benachteiligt, müssen sie innerhalb der | |
Institution massiv bevorteilt werden. Nur so entsteht hinsichtlich ihrer | |
Chancen wieder eine Balance. | |
Damit das gelingt, muss sich der pädagogische und institutionelle Blick auf | |
benachteiligte Schülerinnen und Schüler ändern. Der Bildungsforscher Aladin | |
El Mafaalani schreibt in seinem Buch „Mythos Bildung“ davon, dass es gute | |
Gründe für die Annahme gebe, scheinbar durchschnittliche Schülerinnen und | |
Schüler wie Mahmoud verfügten eigentlich über ein überdurchschnittliches | |
Potenzial. Schließlich bewerkstelligen sie all die Anforderungen, die in | |
ihrer Bildungsbiografie an sie gestellt wurden, trotz der oft extrem | |
schwierigen familiären und sozialen Rahmenbedingungen. | |
Das Problem ist, dass wir in der Schule bis heute allzu oft so tun, als | |
kämen alle Schülerinnen und Schüler morgens mit dem Taxi aus dem | |
Wellnesshotel angefahren und hätten mental nichts anderes zu verarbeiten | |
als binomische Formeln, Fotosynthese, die Französische Revolution oder eben | |
den Unterschied zwischen Kausal- und Modaladverbialen. Genau diesen | |
bildungsbürgerlichen Wissensbestand prüfen wir am Ende ab und verteilen | |
daraufhin Lebenschancen-Zertifikate an diejenigen, die ihn besonders gut | |
reproduzieren können. | |
Für mehr Chancengerechtigkeit braucht es das genaue Gegenteil: Nicht die | |
Kinder und Jugendlichen sollten sich in die Bedürfnisse des Systems Schule | |
einfügen, sondern das System Schule muss sich an deren Bedürfnissen, | |
Interessen und Ressourcen orientieren. Das setzt voraus, dass wir | |
bildungsbenachteiligte Schülerinnen und Schüler nicht als Problem ansehen, | |
sondern all die versteckten Leistungen und Ressourcen wertschätzen. | |
## Rap statt Goethe analysieren | |
Das setzt auch voraus, dass wir bürgerliche Bildungsnormen hinterfragen. | |
Das kann konkret bedeuten: Rap im Deutschunterricht als Zugang zu Lyrik – | |
zum Beispiel mal die Songtexte des deutsch-sudanesischen Rappers OG Keemo | |
statt nur Goethe und Eichendorff zu besprechen. Unterricht zu Fragen, die | |
für die Identität von vielen wichtig sind: Nahostkonflikt, Diskriminierung, | |
Rassismus, Religion, [3][Geschlechterrollen]. Aber auch zu | |
Verschwörungstheorien, dem Einfluss sozialer Medien, Fake News. Unterricht | |
also, der an die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen wie Mahmoud | |
anknüpft und gezielt darauf reagiert. | |
Auch die Struktur des Schultages, den Schülerinnen und Schüler wie Mahmoud | |
durchlaufen, muss sich verändern. Stellen wir uns etwa einen idealen | |
Schultag im Leben seiner kleinen Schwester Tasnim vor, die in drei Jahren | |
auf die weiterführende Schule wechseln wird. Ihr Tag beginnt um 8.30 Uhr | |
mit einem gemeinsamen Frühstück, das von der Schule gestellt wird. Es endet | |
mit einem „Check-In“, bei dem alle gemeinsam reflektieren, wie sie sich | |
fühlen, welche Ziele sie sich für den Tag setzen und was sie brauchen, um | |
diese zu erreichen. | |
In der ersten Stunde ist jeden Tag freie Lesezeit mit Büchern und Texten, | |
die an den Interessen der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet sind. In der | |
zweiten Stunde hat Tasnim Mathe-Förderung mit zwei Mitschülern. In der | |
dritten und vierten Stunde ist Projektunterricht. | |
Am Dienstag und Donnerstag geht es um den Konflikt zwischen Israel und | |
Palästina, für den sich Tasnim aufgrund ihrer Familiengeschichte sehr | |
interessiert. Während des Unterrichts wird sie von der Sozialarbeiterin für | |
eine halbe Stunde aus dem Raum geholt, um einen Streit mit Mina und Dilan | |
vom Vortag zeitnah zu besprechen und beizulegen. Danach ist große Pause, | |
sodass Tasnim sich ein wenig erholen und in einem der vier | |
Entspannungsräume Musik hören kann. | |
## So könnte selbst Physik ein angenehmes Fach sein | |
In der fünften Stunde hat sie Physik, ein Fach, das ihr schwerfällt. Die | |
Lehrerin geht mit der Klasse, die aus 15 Kindern besteht, nach draußen, um | |
mit Lupen zu erproben, was ein Brennpunkt ist. In der sechsten Stunde hat | |
Tasnim Arabisch. Das macht ihr besonders Spaß, nicht nur weil sie sich ihre | |
Muttersprache als zweite Fremdsprache anrechnen lassen kann, sondern auch, | |
weil sie stolz darauf ist, dadurch das Schreiben und die Grammatik ihrer | |
Muttersprache zu beherrschen. | |
In der zweiten großen Pause gibt es viele Bewegungsangebote, Tasnim geht | |
zum Kickboxen. Der letzte Block besteht wieder aus interessengeleiteten | |
Lernangeboten, die auf Partizipation und Empowerment ausgelegt sind. In | |
ihrem Projekt Climate Justice produzieren die Kinder einen Beitrag für das | |
Schulradio. Darin geht es um die Auswirkungen des Klimawandels auf den | |
Libanon. | |
Den Abschluss des Tages bildet der „Check-Out“ mit einer der vier | |
Schulpsychologinnen, die zusammen mit Tasnim ihren Tag reflektieren. Als | |
sie nach Hause kommt, erzählt sie Mahmoud von ihrem Tag. | |
13 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Nolte | |
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