# taz.de -- Bücher über Krisen in Europa: Im Westen noch immer nichts Neues | |
> Bernd Ulrich und Heinrich August Winkler untersuchen den Zustand des | |
> Abendlandes. Sie kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. | |
Bild: Brexit, mangelnde Soldarität bei Flüchtlingsaufnahme und klammes Griech… | |
Die Europäische Union steckt in einer Malaise. Die Bankenkrise ist nur | |
aufgeschoben, die autoritären Tendenzen in Polen und in Ungarn fressen sich | |
wie Rost in das Wertefundament. Die Post-1989-Illusion, dass das | |
kapitalistisch-liberale Modell wie ein Magnet wirkt, haben Trump, Putin und | |
Erdoğan demontiert. Es besteht Deutungsbedarf. | |
Heinrich August Winkler hat den Westen als Idee und die lange Annäherung | |
der Deutschen an Gewaltenteilung und Demokratie luzide beschrieben. | |
„Zerbricht der Westen?“ ist indes narrativ und intellektuell Dokument des | |
Scheiterns. Winkler erzählt mäandernd noch mal, wie der Brexit zustande | |
kam, was Trump treibt et cetera. Doch der Chronik der rasenden Ereignisse | |
fehlt die ordnende Perspektive. Ohne das Privileg des Historikers, den | |
distanzierten Rückblick, verliert sich der sonst so souveräne Autor in | |
buchhalterischer Aufzählung von EU-Gipfeln und Wahlkämpfen. Was das | |
Rechtsautoritäre so anziehend machte, bleibt indes dunkel. | |
Die EU beschreibt Winkler als Defizit: „Mehr Europa um den Preis von | |
weniger Demokratie: Allzu lange hatte sich das Elitenprojekt Europa nach | |
diesem Schema entwickelt.“ Der Ausweg lautet hier: Lieber Schluss mit mehr | |
Europa. Denn der EU-Bürger sei nur aus Papier, eine europäische | |
Öffentlichkeit Chimäre, die europäischen Parteienlandschaft unecht. Eine | |
„Vollparlamentarisierung der EU würde die demokratische Legitimation daher | |
schwächen“. | |
Richtig ist, dass bei EU-Wahlen „One man, one vote“ nicht gilt. Wer in | |
Malta wohnt, dessen Stimme zählt mehr als die von Franzosen oder Deutschen. | |
Das ließe sich über ein Zweikammersystem lösen: Parlament plus EU-Rat. Doch | |
das interessiert den EU-Skeptiker Winkler nicht, dem der Nationalstaat als | |
einzig mögliches Gefäß der Demokratie gilt. Das hat etwas Regressives. | |
## Das Böse in Gestalt des allzu Guten | |
Der geheime geistige Fixpunkt in „Zerbricht der Westen?“ sind die 90er | |
Jahre, als die Bundesrepublik endlich sicher im Westen vertäut war – und | |
Winkler Chronist dieser Ankunft. Doch nun zeigt sich das Starre dieses | |
Konzepts. Wo Deutschland mal vom West-EU-Nato-Konsens abweicht, muss Gefahr | |
im Verzug sein. | |
Als sich Deutschland 2011 beim Libyen-Krieg abseits hielt, war dies ein | |
„einmaliger Akt außenpolitischer Selbstmarginalisierung“ – dito Angela | |
Merkels Alleingang 2015 in Sachen Flüchtlingen. Die Willkommenskultur gilt | |
dem Historiker nicht als Ausweis erfreulicher Zivilität, sondern als | |
moralgestützte Variante des deutschen Sonderwegs, der noch immer ins | |
Debakel führte: Vergangenheitsbewältigung als Selbstüberhebung. | |
Winkler, so Bernd Ulrich, kann die Offenheit der Deutschen 2015 nur als | |
„das Böse in Gestalt des allzu Guten“ begreifen – diesmal nicht „in | |
Knobelbechern, sondern in Birkenstocksandalen“. Dass die Deutschen gegen | |
Paris und London recht haben könnten, sei bei Winkler „quasi | |
denkunmöglich“, so der Zeit-Politikchef. Point taken. | |
Auch „Guten Morgen, Abendland“ verhandelt EU, Trump, Flüchtlinge. Wo | |
Winkler vergeblich den souveränen Blick vom Feldherrenhügel sucht, stürzt | |
Ulrich sich ins diskursive Getümmel: scharfsinnig, selbstverliebt, | |
überspitzt. „Guten Morgen, Abendland“ ist ein quecksilbriger Text, irgendwo | |
zwischen Essay und Leitartikel, der in den besten Passagen elegant zwischen | |
Alltagsbeobachtung und Globalanalyse pendelt. Die fundamentale Krise | |
erscheint hier nicht als bloße Gefahr, sondern als Vorschein eines neuen | |
Verhältnisses des Westens zum Süden. | |
## Ein Lob dem Fußballplatz | |
In der globalisierten Welt der Smartphones gehe „die Demut der | |
Gedemütigten“ zu Ende. Weil Armutsmigranten weiter nach Norden strömen | |
werden, habe der Westen „erstmals ein massives Interesse“, dass es im Süden | |
einigermaßen lebenswert zugehe. Entweder die „obszöne Ungleichheit“ | |
zwischen Nord und Süd werde geringer oder der „gewalttätige Kern der | |
globalen Ungleichheit“ trete zutage. | |
Das klingt ziemlich links, ist aber eher das rhetorisch geschliffene | |
Pendant zu Merkels aktuellem Kurs, Migration aus dem Süden mit Abschottung | |
und Hilfe einzudämmen. Was diese Hilfe konkret meint, bleibt auch bei | |
Ulrich sehr, sehr vage. Immerhin hat die Befassung mit Migranten den Autor | |
von der Idee kuriert, dass „Deutschland Kriege führen muss“, so der Titel | |
seines Buchs von 2011. Dass es doch keine so gute Idee ist, mit Waffen | |
Menschenrechte zu exportieren, hat er auch bei Gesprächen mit Migranten auf | |
dem Fußballplatz gelernt. Ein Lob dem Fußballplatz. | |
Allzu selbstbezüglich ist indes der Blick auf Berlin und Washington in | |
dieser neuen Weltordnung: die USA im Fall, Deutschland auf dem Sprung. | |
Trump, so die Analyse, ist nur Ausdruck einer tiefen Malaise. Die USA seien | |
zwischen Arm und Reich und ethnisch zerrissen und außenpolitisch seit 9/11 | |
„in ihre Supernova-Phase eingetreten: maximal Ausdehnung vor dem Kollaps“. | |
Kollaps? Für solche Untergangsprognosen ist es angesichts der | |
militärischen, kulturellen (Hollywood) und technologischen (Silicon Valley) | |
Hegemonie etwas früh. Komplementär zu groß ist die Rolle, die Berlin | |
zugedacht ist – als „unverhüllte Führungsmacht in Europa“. Das klingt | |
martialischer, als es ist: Dieses deutsch inspirierte Europa soll eine | |
nette Weltmacht sein, offen für Muslime und postheroisch sowieso. | |
## Deutsche Sonderrolle | |
Wolfgang Schäuble fragte bei der Präsentation des Buchs zu Recht, „warum | |
Deutschland im Westen eine Sonderrolle“ für sich reklamieren müsse. Point | |
taken. Denn wenn Berlin wirklich als machtbewusster big friendly giant | |
auftritt, dürfte seine prekäre Rolle als Halbhegemon in der EU noch | |
komplizierter werden. | |
Für Winkler wächst aus der NS-Geschichte eine Nähepflicht zum Westen, bei | |
Ulrich sprießt ausgerechnet aus der geglückten deutschen | |
Vergangenheitsbewältigung ein etwas dröhnendes Selbstbewusstsein. | |
Andererseits: Noch wo Ulrich irrt, ist er interessanter als da, wo Winkler | |
recht hat. | |
10 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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