Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kanalisation in London: Fettes Rohr
> Riesige Pfropfen aus Fett und Müll blockieren die Londoner Kanalisation.
> Der bislang größte „Fettberg“ wird über Wochen zersägt und
> abtransportiert.
Bild: Voll fett! „Vor allem, dass es so kompakt ist, hat mich überrascht“,…
London taz | Er besteht aus Kondomen, Windeln und Bratfett. Er wiegt – je
nach Belieben – so viel wie elf Doppeldeckerbusse oder 19 Elefanten und ist
so groß wie zwei Fußballfelder. Das stinkende Ungetüm, das gerade die
Kanalisation unter dem Londoner Stadtteil Whitechapel verstopft, haben die
Londoner „Fatberg“ genannt – angelehnt an „Iceberg“ („Eisberg“ zu…
Nur wenige Meter unter dem Erdboden in Londons altertümlichem,
rattenverseuchten Abwassersystem steckt der enorme Pfropf aus stinkendem
Müll, den Arbeiter Anfang September entdeckt haben. Zwar ist das nicht der
erste Fettberg seiner Art, aber der bislang größte.
Am Montag wurde nun bekannt, dass noch ein weiterer Fettpfropfen die
Kanalisation verstopft. Dieses Mal unter Chinatown, etwa vier Kilometer
weiter westlich – allerdings nur mit einem Gewicht von drei Elefanten.
Die Arbeiter, die dazu abgestellt sind, die Fettberge mit
Hochleistungswerkzeugen zu zersägen und so zu verhindern, dass das Abwasser
die Straßen flutet, sollen allein drei Wochen brauchen, um den ersten Berg
kleinzukriegen. Es ist offenbar hart wie Zement.
Die Wissenschaftsjournalistin Laurie Winkless hat für ihr Buch „Science and
the City“ zum Thema Fettberge recherchiert – und sich selbst einen aus
nächster Nähe angesehen. Winkless beschreibt ihre Erfahrung so: „Er hat
gestunken – nach ranzigem Fett und verbranntem Haar. Man erkannte ziemlich
viele einzelne Komponenten in der Masse – Feuchttücher, Kondome, Wattepads,
Plastikstücke und so weiter –, erstarrt in einer dichten, schmutzig
aussehenden Masse aus Fett.“
## Ein Stück Fettberg für das Museum of London
Das Problem sei, dass das Abwassersystem unsichtbar ist. „Die Menschen
sprechen immer davon, dass sie etwas ‚weg‘werfen“, sagt Winkless. „Aber…
Wirklichkeit gibt es eben gar kein ‚weg‘. Alles, was wir in den Müll werfen
oder die Toilette runterspülen oder in den Abfluss schütten, landet
irgendwo.“
Sogar das Museum of London will jetzt ein Stück der erstarrten Masse
ausstellen. Warum hat ein Museum Interesse an etwas derart Widerlichem? Und
wer will so etwas sehen? Riechen?
„Es stinkt wirklich sehr unangenehm“, bestätigt auch Alex Werner,
Hauptkurator des Museums of London, nachdem er ein Stück des Fettbergs
besichtigt hat. „Ich bin den Geruch erst drei oder vier Tage später wieder
losgeworden.“ Schwer sei das Stück obendrein. „Vor allem, dass es so
kompakt ist, hat mich überrascht“, so Werner.
Werner versucht schon seit Jahren, ein Stück Fettberg für seine Sammlung zu
bekommen. Er ist davon überzeugt, dass es Besucher anziehen wird. Man könne
sehr viel über eine Gesellschaft lernen, wenn man sich ansieht, was diese
wegwirft, sagt er und betont, dass „einige der spannendsten Exponate“ in
der historischen Sammlung des Museums aus alten Klärgruben stammt, in der
der Müll aus Londons Vergangenheit erhalten geblieben ist – zum Beispiel
ein römischer Bikini.
Natürlich sei der Fettberg „ein bisschen der Horror“, gibt Werner zu. Doch
er sei auch ein Verweis auf tiefergehende Fragen, auf die
Umweltverschmutzung in der Stadt, Müll und darauf, wie wir leben. „Es waren
stets Schlüsselmomente der Londoner Geschichte, wenn die Kanalisation der
Stadt in katastrophalem Zustand war“, sagt Werner. „Dieses Objekt steht für
die moderne Stadt und die Tatsache, dass wir uns immer noch nicht genug
Gedanken darüber machen, wie wir unseren Müll entsorgen.“
## Der Große Gestank
Mitte des 19. Jahrhunderts waberte schon einmal beißender Gestank durch
London – so schlimm sogar, dass die Zeitungen der Stadt über „giftige Gase…
klagten, die die Straßen erfüllten; ein Gestank, der so streng war, dass
viele glaubten, er könnte tödlich sein. Politiker in den Regierungsgebäuden
imprägnierten die Vorhänge ihrer Büros, um den Geruch loszuwerden; die
Bewohner der Stadt weigerten sich, ihre Wohnungen zu verlassen. „Wer den
Gestank eingeatmet hat, wird ihn nie wieder vergessen“, schrieb ein
Journalist, „und es kann sich glücklich schätzen, wer lange genug lebt, um
sich an den Gestank zu erinnern.“
Der „Große Gestank“ von 1858 stammte von Exkrementen und Industriemüll aus
der Themse. Damals mündete das Abwassersystem Londons direkt in den Fluss –
und war gänzlich ungeeignet, um mit der rapide anwachsenden Bevölkerung und
deren Ausscheidungen fertig zu werden.
Noch verschärft durch einen besonders heißen Sommer wurde der Gestank
unerträglich – und obwohl die Ausdünstungen selbst wohl nicht tödlich
waren, das Wasser war es sehr wohl. Mehrere Choleraausbrüche, die einige
Zehntausend Menschen nach dem Großen Gestank das Leben kosteten, wurden zum
Teil dadurch ausgelöst, dass die Menschen Wasser aus dem Fluss tranken.
Zur Zeit des Großen Gestanks war London die weltweit wohlhabendste Stadt –
die Hauptstadt eines Weltreichs, das sich in alle Winkel der Erde
erstreckte. Gleichzeitig herrschte immense Ungleichheit in der Stadt,
einige Viertel waren so arm wie kaum sonst irgendwo. Whitechapel in East
London zog Einwanderer aus der ganzen Welt an, besonders Iren, die der
Hungersnot in ihrer Heimat entkommen wollten, und Juden, die vor
Vertreibung im Rest Europas flohen.
Die Wohnungen waren beengt und kahl, und die Familien, die dort lebten,
waren aus Platzmangel teilweise gezwungen, in Kellern und Hinterhöfen zu
leben. Als der Große Gestank über die Stadt hereinbrach, war die
Bevölkerung innerhalb eines halben Jahrhunderts auf das Dreifache
angewachsen – auf 2,8 Millionen. London schien schon damals aus allen
Nähten zu platzen.
## Opfer ihres eigenen Erfolgs
Heute ist London mit fast neun Millionen Einwohnern die größte Stadt
Europas – aber weite Teile der Infrastruktur stammen nach wie vor aus dem
19. Jahrhundert. Das gilt auch für das höhlenartige Abwassersystem, erbaut
von einem visionären Ingenieur namens Joseph Bazalgette – nicht zuletzt,
weil man die Stadt nach dem Großen Gestank hatte aufräumen wollen.
Diese mehr als 150 Jahre alte Kanalisation dient London heute immer noch.
Und ausgerechnet unter den Straßen von Whitechapel, wo nach wie vor viele
Einwanderer leben – heute in erster Linie aus Südostasien – wurde der
allergrößte Fettberg gefunden.
„Die Infrastruktur ist eines der zentralen Probleme Londons“, sagt Werner.
„Die Bevölkerung wächst weiter, und das setzt die Infrastruktur unter
Druck, die öffentlichen Verkehrsmittel und all die essenziellen Dinge des
täglichen Lebens.“ So wie die Kanalisation.
Gewissermaßen ist die Stadt Opfer ihres eigenen Erfolgs. Seiner Zeit voraus
war das U-Bahn-System eines der ersten, das es weltweit gab. Es wurde
ebenfalls kurz nach dem Großen Gestank gebaut.
Wer aber heute versucht, in der Rushhour mit der Metro durch die Stadt zu
fahren, weiß: Die heißen, überfüllten U-Bahn-Tunnel verstopfen ebenso
schnell wie das Abwassersystem. Im Vergleich zu anderen weitläufigen,
Klimaanlagen-gekühlten U-Bahn-Linien moderner Städte mag das beschämend
sein. Aber es spricht auch für den Ehrgeiz Londoner Ingenieure, dass ein so
altes System heute noch in Gebrauch ist.
## Der Reiz des Ekels
Das Problem ist also weniger das Alter der Kanalisation als deren Nutzung.
„In einer Welt billiger Konsumgüter“, sagt Werner, „werfen wir Dinge
einfach weg, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden.“
Im 19. Jahrhundert habe man darüber womöglich ein bisschen mehr nachgedacht
oder noch besser verstanden, dass bestimmte Gebrauchsgegenstände einen Wert
haben, sagt Werner. „Ich glaube, langsam kommen wir dem Verständnis wieder
näher, dass wir Müll recyceln und dass wir wieder mehr darüber nachdenken
müssen, was wir wegwerfen.“
Natürlich ist da auch noch der Reiz des Ekels: „Das Ding ist total
schrecklich, und das wird auch für viele ein Grund sein zu kommen“, glaubt
Werner. Man sei gleichermaßen abgestoßen und fasziniert. „Ein Albtraum, bei
dem man nicht wegsehen kann.“
Das restliche Fettbergfett soll übrigens wiederverwertet werden. Das
Wasserversorgungsunternehmen Thames Water hat angekündigt, die Masse in
Biodiesel umwandeln zu lassen. So sollen aus dem Stinkpropf 10.000 Liter
Ökokraftstoff werden.
Übersetzung: Marlene Halser
27 Sep 2017
## AUTOREN
Jessica Abrahams
## TAGS
London
Abwasser
Müll
Fett
Flugzeug
Uber
Schwerpunkt Brexit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Vision vom umweltfreundlichen Fliegen: Fliegen, ohne die Umwelt zu belasten
Mit dem Flugzeug zu fliegen ist per se klimaschädlich? Eine ungehörige
Umweltsünde? Stimmt schon. Doch das muss nicht so bleiben.
Alternativer Fahrdienst in London: Uber-Taxis verlieren ihre Lizenz
Die Londoner Transportbehörde wirft Uber vor, eine Täuschungssoftware zu
benutzen und sexuelle Übergriffe von Fahrern nicht zu melden.
Bücher über Krisen in Europa: Im Westen noch immer nichts Neues
Bernd Ulrich und Heinrich August Winkler untersuchen den Zustand des
Abendlandes. Sie kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.