| # taz.de -- Buch-Neuerscheinungen zum Mai '68: Provinz, nicht Paris | |
| > Sarkozy wollte 2008 als Präsident „das Erbe von 68 liquidieren“. Die | |
| > Meinungsschlacht dauert an – auch zum 50-jährigen Jubiläum. Neue Bücher | |
| > im Überblick. | |
| Bild: Pariser Studierende demonstrieren gegen eine geplante Reform; dabei erinn… | |
| Paris und Frankreich erinnern in zahlreichen Zeitungen, Büchern, | |
| Ausstellungen sowie Radio- und Fernsehsendungen an den Mai 1968, der sich | |
| zum 50. Mal jährt. Große mediale Resonanz fand schon der Mai 1968 – im | |
| Herbst desselben Jahres zählte die Bibliothèque Nationale bereits 124 | |
| Bücher über die Proteste der Studenten und die Streiks von sieben Millionen | |
| Arbeitern und Angestellten (von landesweit knapp 20 Millionen | |
| Beschäftigten). Alle großen Verlage kippen jetzt schön aufgemachte | |
| Bildbände in die Buchhandlungen, um am 68er-Jubiläums-Geschäft zu | |
| partizipieren. | |
| Beim Verlag Plon etwa bringt der ehemalige Libération-Chefredakteur Serge | |
| July einen Fotoband unter dem Titel „Année choc“ heraus. Die Verlage Seuil, | |
| Larousse und ein paar andere tun dasselbe. Solche Produkte dienen | |
| nostalgischen Bedürfnissen oder bekräftigen sehr populäre Ressentiments | |
| gegen „68“, wogegen Konservative und Rechtsextreme seit der großen | |
| gesamtbürgerlichen Gegendemonstration vom 30. Mai 1968 Sturm laufen oder | |
| wenigstens verbal angehen. | |
| Mit historischer Aufklärung haben solche vom Blick in die Kasse | |
| inspirierten Bücher nichts zu tun. Sie dokumentieren nur den sich seit 1978 | |
| mit jedem Jahrestag verstärkenden Prozess der „Ikonisierung“ von Visuellem | |
| durch kommerzielle Fotoagenturen. Grandios ist dagegen der | |
| Informationsgehalt der über 1.000 Seiten starken Sammlung von Texten im | |
| „Journal de la commune étudiante“ (2018) von Alain Schnapp und Pierre | |
| Vidal-Naquet. Eine Fundgrube. | |
| Aufklärend Sachdienliches bietet auch Laurent Joffrin, der aktuelle | |
| Chefredakteur von Libération.Er bringt jeden Samstag einen Beitrag zum | |
| Thema „50 Jahre 68“. Dass die soziale Bewegung nicht im Mai 68 in Paris und | |
| auch nicht am 22. März in Nanterre begann, wo Studenten die dortige | |
| Universität teilweise besetzten und in den Studentenwohnheimen die | |
| Aufhebung der Geschlechtertrennung durchsetzten, weiß man erst seit 2008: | |
| Die Studie von Jean Quellien und Serge David „Caen 1968“ (2008) machte | |
| damals auf die Bedeutung der Provinz aufmerksam. | |
| ## Unterwerfung und Meuterei | |
| Auch der Soziologe Jean-Pierre Le Goff hat jetzt mit „La France d’hier. | |
| Récit d’un monde adolescent. Des années 1950 à Mai 68“ (2018) aus | |
| autobiografischer Perspektive gezeigt, wie die gleichzeitige Mobilisierung | |
| von Heranwachsenden und Arbeitern vor dem Mai 1968 in der Provinz zustande | |
| kam. | |
| Der Erziehungsminister Alain Peyrefitte eröffnete am 18. Januar 1968 an der | |
| Universität Caen die neusprachliche Fakultät. Die Studenten blockierten den | |
| Zugang, und der Minister musste den Hintereingang benutzen. Zur gleichen | |
| Zeit brodelte es in der zu Renault gehörenden Metallfabrik Saviem. Die | |
| Arbeiter befürchteten Arbeitslosigkeit und Arbeitszeitverkürzung mit | |
| Lohnverlusten. | |
| Sie richteten eine Petition zu ihrer sozialen Absicherung an die Direktion. | |
| 80 Prozent der Arbeiter unterschrieben, aber die Direktion tat das Übliche: | |
| Sie schwieg die Petition weg. Das funktionierte nicht mehr, nicht zuletzt | |
| wegen des Durchschnittsalters der Arbeiter von 26 Jahren. | |
| Wie die Studenten kündigten die Arbeiter, durchwegs Bauernsöhne, die | |
| „Unterwerfung“ (Xavier Vigna) auf – Konservative sprachen von „Meuterei… | |
| Die Arbeiter beschlossen am 19. Januar einen unbefristeten Streik und | |
| blockierten ab dem 23. die Fabrik. Die Direktion holte am 27. Januar um | |
| vier Uhr früh die Polizei, worauf es den ganzen Tag über zu brutalen | |
| Polizeieinsätzen kam. Am Ende des Tages zählte man 250 verletzte Arbeiter. | |
| ## Auch Bauern und Krankenschwestern waren dabei | |
| Auch die herausragende Studie von Ludivine Bantigny „1968. De grands soirs | |
| en petits matins“ (2018), die zum Teil erstmals Akten in zahlreichen | |
| Polizei- und Präfekturarchiven in der Provinz auswertete, belegt, dass die | |
| soziale Bewegung zwar in Paris ihr Zentrum hatte, aber keineswegs auf | |
| Studenten dort beschränkt blieb, sondern Arbeiter, Angestellte, Bauern, | |
| Schüler und Krankenschwestern im ganzen Land mitriss. | |
| Wenn es an etwas zu erinnern gilt, so Ludivine Bantigny, ist es die enorme | |
| Ausbreitung der „Idee des Gemeinsamen, des Teilens von Solidaritäten und | |
| Projekten“, die nur gegen den Sinn der Quellen als „Beginn eines | |
| Individualismus“ zu interpretieren ist. | |
| Für die Soziologin Julie Pagis („Mai 68. Un pavé dans leur histoire“, 201… | |
| ist die missverständliche Rede von der „Generation 68“ das Konstrukt „ei… | |
| gewissen Zahl selbsternannter Sprecher“, die „ihre eigenen Karrieren“ | |
| verallgemeinern – das Wegschleichen vom oppositionellen Protest in | |
| wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Machtpositionen. | |
| Empirisch ist die Existenz einer sozial und politisch homogenen Generation | |
| von 68ern nicht nachzuweisen. | |
| Wie der Begriff „Generation 68“ enthält auch der von der „sexuellen | |
| Befreiung“ wenig empirisch Belastbares wie unter anderem die Arbeiten von | |
| Michelle Zancarini-Fournel belegen. Außer bei der Diskussion über die | |
| Aufhebung der Geschlechtertrennung in den Studentenwohnheimen spielte das | |
| Thema der sexuellen Befreiung 1968 noch eine geringe Rolle. Es wurde erst | |
| von der danach entstandenen feministischen Bewegung in die Debatten | |
| eingebracht und mit der Kritik an männlicher Dominanz in Familie, Ehe, | |
| Betrieb und Staat verknüpft. In den Zeitungen und im politischen Raum geht | |
| die Meinungsschlacht um das „Erbe von 1968“ auch heute noch weiter. | |
| ## Die Debatte hat sich versachlicht | |
| Laurent Joffrin von Libération sprach etwas großspurig vom „kostbaren | |
| nationalen Erbe“, das es zu „retten“ gelte gegen „die von Anfang an im … | |
| reaktionären Entstellungen“. Expräsident Nicolas Sarkozy wollte 2008 „das | |
| Erbe von 68 liquidieren“, weil die Bewegung nur „intellektuellen und | |
| moralischen Relativismus und Zynismus“ erzeugt habe. Außerhalb der rechten | |
| Publizistik hat sich die Debatte über „68“ seither versachlicht: „Der | |
| Mai’68 darf kein Gründungsmythos werden oder, in umgekehrter Richtung, als | |
| Ursache aller unserer Übel betrachtet werden. | |
| Er ist ein historisches Ereignis, das man zu verstehen versuchen muss“ – | |
| auf diese Einsicht des Soziologen Jean-Pierre Le Goff haben sich | |
| Wissenschaftler verständigt. Auf das „gedächtnisgestützte Wiederkauen“ | |
| (Pierre Nora) von vagen Erinnerungen durch Veteranen, Zeitzeugen, | |
| Nostalgikern und ressentimentgesteuerten Gegnern folgt nach 50 Jahren die | |
| historisierende Aufarbeitung. | |
| Aufklärung wird im Laufe des Jahres mit Sicherheit landesweit dominieren in | |
| vielen wissenschaftlichen Konferenzen, auf Podiumsdiskussionen und in | |
| Ausstellungen. Auch der Radiosender France Culture sendet regelmäßig | |
| Meinungsbeiträge, Diskussionen und Features zum Thema „50 Jahre 68“. Allein | |
| in Paris bemühen sich neun renommierte Institutionen um ein solches | |
| Verständnis, darunter die Archives Nationales, das Centre Pompidou, das | |
| Palais de Tokyo und die Bibliothèque nationale de France. | |
| ## Ein Themenjahr an der Universität von Nanterre | |
| Die Universität Nanterre bietet gleich ein „Themenjahr“ an mit | |
| Veranstaltungen, Tagungen und Debatten. Das Theater Nanterre-Amandiers | |
| präsentiert den ganzen Monat Mai lang Filme, Theater und Performances zum | |
| Thema. Mit Veranstaltungen unter dem Titel „Mai 68 – Generalversammlung“ | |
| verneigt sich das Centre Pompidou mit Diskussionsveranstaltungen und | |
| Seminaren vor dem „Geist von 68“ und beruft sich als „für die Gesellscha… | |
| offene Institution“ programmatisch auf diesen Geist. | |
| Eine erste Ausstellung unter dem Titel „Images en luttes“ („Bilder im | |
| Kampf“) ist in der Pariser École nationale supérieure des beaux-arts | |
| bereits angelaufen. Sie zeigt Bilder und Plakate, die in eben dieser | |
| Institution vor 50 Jahren – also buchstäblich im politischen Handgemenge – | |
| entstanden sind. Studenten der Kunsthochschule zeichneten und druckten | |
| damals im „Atélier populaire“ für alle, die danach verlangten, politisches | |
| Agitations- und Propagandamaterial von zum Teil beachtlicher künstlerischer | |
| Qualität. | |
| Unter die Porträts von Gott, Marx, Lenin, Stalin und Mao setzten sie auf | |
| einem Plakat die Zeile: „Es gibt keinen Erlöser“. | |
| 27 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Rudolf Walther | |
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