# taz.de -- Pariser Mai-Proteste 1968: Das Gefühl, alles erreichen zu können | |
> Am 10. Mai 1968 kam es in Paris zur „Nacht der Barrikaden“. Sie steht für | |
> etwas, das viele nicht mögen: das Unvorgesehene. | |
Bild: Hart verteidigte Barrikaden: In der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1968 ga… | |
Wir waren jung und schön, und wir verbrachten die besten Momente unseres | |
Lebens. So sehr hatten wir davon geträumt, in den entbehrungsreichen Jahren | |
des Kampfs, die auf die großen Kampagnen gegen den Algerienkrieg gefolgt | |
waren. Im Mai 1968 wurde aus dem Traum Realität. | |
Meine Erinnerungen gehen wild durcheinander. Tagsüber demonstrierten wir, | |
am Abend arbeiteten wir für Action, die Tageszeitung der Bewegung und des | |
Aktionskomitees. Die Nächte werden wir wohl auf Sesseln der | |
Geschichtsfachschaft an der Sorbonne verbracht haben, denn ich bin erst | |
Ende Juni das erste Mal wieder in meiner Wohnung gewesen. Aber vor allem | |
dominierte ab Anfang Mai dieses Gefühl einer Allmacht, des | |
Alles-erreichen-Könnens, das uns erfüllte. Tag für Tag zeichnete sich ein | |
bisschen mehr eine Massenbewegung ab, die sich zum Undenkbaren auswuchs: | |
zum Generalstreik und der Besetzung von Fabriken durch Millionen von | |
Arbeitern. | |
Ich erinnere mich an diesen 7. Mai, an dem wir mit einem guten Dutzend | |
Leute im Quartier Latin losgezogen sind, ohne Ziel, und den ganzen Tag lang | |
demonstriert haben, einmal quer durch Paris. Unsere Gruppe wuchs im Lauf | |
der Wegstrecke – es waren bestimmt an die 30 Kilometer – immer weiter. | |
Diese Menge war insofern umso beeindruckender, als die Demonstration völlig | |
improvisiert war; wir hatten weder Spruchbänder noch Schilder. | |
Am Abend landeten wir auf den Champs-Élysées. Man kann sich heute nicht | |
vorstellen, was eine spontane Demonstration auf den Champs-Élysées im Jahr | |
1968 bedeutete. Für uns, die wir unser Leben im Quartier Latin, zwischen | |
der Rue Mouffetard, dem Boulevard Saint-Michel und dem Club La Huchette | |
verbrachten, lagen die Champs-Élysées am anderen Ende der Welt. Als wir sie | |
an diesem Abend hinunterliefen, standen mir die Tränen in den Augen. Das | |
Gefühl, etwas bewegen zu können, das uns seit Tagen trug, erreichte an | |
diesem Tag wohl seinen Höhepunkt. | |
Ich erinnere mich an den 10. Mai, die Nacht der Barrikaden. Hart | |
verteidigte Barrikaden waren das: Es gab 367 Verletzte (251 unter den | |
Ordnungskräften und 102 Studenten). Unsere Stimmen waren heiser, so viel | |
hatten wir geschrien. Ich erinnere mich an ein langes Gespräch in dieser | |
Nacht zwischen Alain Geismar, dem Führer der Hochschulgewerkschaft, und | |
Alain Peyrefitte, dem damaligen Bildungsminister, den die Ereignisse | |
offenbar völlig überrumpelt hatten. | |
## Der König war nackt | |
Durch den von der Gewerkschaft installierten Lautsprecher hörten wir baff | |
der hölzernen Sprache eines Ministers zu, der den Grad seiner Verantwortung | |
nicht begriffen hatte. Der die immer gleichen der Besänftigung dienenden | |
Sätze äußerte, während einige Meter weiter die Konfrontation unausweichlich | |
wurde, und der seinerseits nicht das geringste Zugeständnis machte. | |
Seit Tagen gab es nur noch ein Ziel: dass sich die Polizei aus der Sorbonne | |
zurückzieht. Ich erinnere mich, wie Geismar Peyrefitte warnte: „Es wird | |
Tote geben, und Sie tragen dafür die Verantwortung.“ Glücklicherweise gab | |
es keine Toten. Aber an diesem Abend habe ich begriffen, dass der König und | |
sein Hof nackt waren. Und dass wir dabei waren zu gewinnen. | |
Ich erinnere mich an eine Versammlung am Vorabend des 24. Mai zwischen | |
Vertretern verschiedener Gruppen, die versuchten, diese vielfältige | |
Bewegung unter einen Hut zu bekommen. Jedes Mal tauchte das gleiche Problem | |
auf: bei den Demonstrationen ein Ziel zu finden, mit dem sich die Gewalt- | |
und Machtfrage stellen ließ. Auf der Suche nach solchen Zielen hatten | |
einige Kundschafter einen Abstecher ins Pariser Rathaus gemacht. Sie | |
stellten fest, dass das Rathaus nur schwach bewacht und deshalb leicht zu | |
besetzen war. Es reichte, die Demo in der Nähe vorbeilaufen zu lassen und | |
die großen Tore zu öffnen. | |
Aber was dann? Wir hatten Bilder vom 18. März 1871 im Kopf, dem Tag, an dem | |
die Pariser Kommune ausgerufen worden war. Mit den verschiedenen | |
Aktionskomitees bastelten wir ein Schild, das etwas anmaßend behauptete: | |
„Paris gehört uns“. | |
Allerdings war die Revolte der Pariser Kommunarden blutig niedergeschlagen | |
worden. Was sollten wir also tun? Ich erinnere mich, wie bei dieser | |
Versammlung jemand sich den Fortgang vorstellte: „Wir kommen unter | |
Vivat-Rufen auf den Balkon des Rathauses. Wir laden die Demonstrierenden | |
ein, das Rathaus zu besetzen. Und wie geht es dann weiter? Wollen wir | |
Waldeck-Rosset [den Genereralsekretär der Kommunistischen Partei] oder | |
Mitterrand [von der linken nicht-kommunistischen Sammlungsbewegung FGDS, | |
dem Vorläufer der Parti Socialiste] zu Hilfe rufen?“ | |
## Pubertätskrise von Bürgerkindern? | |
Diese Idee wurde schnell fallen gelassen. Wir wollten unsere Revolte nicht | |
in die Hände der traditionellen Parteien legen. Die eine stalinistisch | |
ausgerichtet, die andere ein Erbe der Politik der Vierten Republik. Wir | |
wollten de Gaulle zum Rücktritt bewegen, aber wir waren nicht bereit für | |
eine gewaltsame Revolution. Ebenso wenig waren wir bereit, den | |
traditionellen Parteien den Staffelstab zu übergeben. | |
Wir stimmten also für die Besetzung des Rathauses. In jener Nacht – | |
derselben, in der de Gaulle im Fernsehen ein Referendum für den Juni | |
ankündigte – schickten wir Leute los, um die Börse in Brand zu setzen, was | |
als Zeichen extremer Radikalisierung der Bewegung gewertet wurde. Obwohl es | |
eigentlich ein Zeichen der Mäßigung war. Man sollte nie dem äußeren | |
Anschein trauen. | |
Zum 50. Jahrestag ist die Idealisierung einiger auf Kosten der großen Masse | |
zu befürchten. Die „alten Säcke“ sehen nur eine Pubertätskrise von | |
Bürgerkindern, die sich in revolutionären Sprüchen verloren haben. Von | |
jeher reiten sie auf den Dummheiten herum, die wir damals gesagt haben. Und | |
wir haben weiß Gott dummes Zeug geredet. Sprüche wie „Wahlen, eine Falle | |
für Idioten“ oder „CRSS=SS“ (die CRS war eine Spezialeinheit der Polizei… | |
Oder, ebenso verheerend, die ehemaligen 68er, die nur sagen können „Ich war | |
dabei“, aber das Wesentliche nicht vermitteln können: die unbeschreibliche | |
Freude, die alle Akteure in diesem traumhaften Monat ergriffen hat, das | |
Hochgefühl, das diese Generation geprägt hat. Eine Sicherheit, die ihr | |
nicht ohne Grund von den nachfolgenden Generationen vorgehalten wird. | |
So sehr, dass es in Frankreich einen [1][vielfältigen Hass auf den Mai 68] | |
gibt, unter Linken ebenso wie unter Rechten. Der klassische Hass von | |
Berufspolitikern auf uns unzeitgemäße Politik-Amateure. Der Hass der | |
geläuterten Stalinisten auf die Bewegung, die alle Formen des | |
Totalitarismus abgelehnt hat und nicht die Macht erobern wollte. Und dann | |
all die vielen anderen, nicht weniger zahlreich, die vergessen zu erzählen, | |
dass sie schlicht Angst hatten. Ja, Angst. Hass auf diesen Mai verspürten | |
all jene, die Panik bekamen: feige Minister, die nur ans Kofferpacken | |
dachten, autoritäre Arbeitgeber und Vorarbeiter, die nicht ohne Grund ihre | |
Macht infrage gestellt sahen und verstanden, dass nach dem Mai 68 nichts | |
mehr so sein würde wie vorher. | |
Der Mai 68 steht auch für das, was viele nicht mögen: das Unvorgesehene; | |
Menschenmengen und Streiks; Fröhlichkeit und Freundlichkeit; der | |
Machtrausch derjenigen, die nie zuvor Macht hatten. Und dann das | |
Wesentliche, das meist vergessen wird: die sozialen Eroberungen, | |
Gewerkschaften in den Fabriken, der Bruch einer ganzen Gesellschaft mit | |
einem Autoritätsmodell, die Frauenbewegung. All das, wovon wir heute | |
profitieren – ohne dass uns dabei stets bewusst wäre, dass wir es dem Mai | |
68 verdanken. | |
Übersetzung: Sabine Seifert | |
10 May 2018 | |
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## AUTOREN | |
Jean-Marcel Bouguereau | |
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