# taz.de -- Bildungsexperte über Schulöffnungen: „Unterricht für alle anbi… | |
> Bildungsforscher Hans Brügelmann kritisiert, dass Abschlussklassen zuerst | |
> an die Schulen zurück dürfen. Vor allem die Gründe hält er für falsch. | |
Bild: Erst Anfang Mai droht wieder der Ernst des Lebens | |
taz: Herr Brügelmann, Bund und Länder haben sich gestern darauf | |
verständigt, [1][frühestens ab 4. Mai] die Schulen zu öffnen, auch um die | |
notwendigen Hygienestandards vorzubereiten. Nordrhein-Westfalen, | |
Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen haben jedoch schon angekündigt, ihre | |
Schulen früher zu öffnen. Welches Datum halten Sie für angemessen? | |
Hans Brügelmann: Die Frage ist, ob man da ein allgemeines Datum setzen | |
kann. Die Politik hat entschieden: Wir öffnen erstmal nur für bestimmte | |
Jahrgänge. Aber auch da gibt es Kinder, die entweder selbst gefährdet sind | |
oder gefährdete Angehörige haben. Schon da bricht das Konstrukt, Schule | |
könne zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder für eine ganze Gruppe möglich | |
sein, in sich zusammen. In der momentanen Situation kann man Schule | |
eigentlich nur für die Familien anbieten, die ein Ansteckungsrisiko bewusst | |
eingehen können. Denn niemand wird garantieren können, dass | |
Grundschulkinder durchgängig 1,5 Meter Abstand halten oder eine Maske | |
tragen. | |
Halten Sie Schulöffnungen in 2,3 Wochen [2][für unverantwortlich]? | |
Die Politik nimmt Ansteckungen bewusst in Kauf und das finde ich in | |
Ordnung. Es geht ja darum, die Ansteckungen so zu dosieren, dass sich | |
Immunität verbreitet, aber das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. | |
Ehrlich gesagt möchte ich auch nicht in der Haut der Kultusminister | |
stecken. Die müssen schwere Entscheidungen fällen. Ich bin aber etwas | |
erschrocken, wie formal diese Entscheidungen begründet werden. | |
NRW etwa rechtfertigt seine Eile mit den frühen Sommerferien. Bayern, das | |
den spätesten Ferienstart hat, öffnet seine Schulen erst am 11. Mai. Es | |
sieht so aus, als seien die Ferienzeiten ein entscheidendes Kriterium. | |
Ja, und das hängt mit den Prüfungsterminen zusammen. Die Schulen müssen | |
Entscheidungen fällen, auf welche Schule ein Viertklässler im kommenden | |
Schuljahr gehen darf, oder welchen Abschluss ein Zehntklässler mit ins | |
Leben nimmt. Da wird auch das Kernproblem sichtbar. Einerseits sagen wir: | |
Niemand soll einen Nachteil haben. Auf der anderen Seite halten wir starr | |
an den Vorgaben fest und nehmen [3][Ungerechtigkeiten in den Bedingungen in | |
Kauf]. Stellen Sie sich beispielsweise eine Schule vor, in der das | |
Kollegium aufgrund des Alters stark gefährdet ist und den Unterricht nur | |
bedingt aufrecht erhalten kann. Wie kann die Schule so eine faire | |
Prüfungsvorbereitung garantieren? Aus diesem Dilemma kommen wir nicht raus. | |
Was wäre die Alternative? | |
Es gibt in Kitas und Schulen ja schon jetzt eine Notbetreuung, die noch | |
Kapazitäten frei hat. Warum diese Notbetreuung nicht schrittweise für | |
diejenigen öffnen, die sie besonders brauchen? Also für Familien, die auf | |
engem Raum leben. Für Kinder, die ihre Schulaufgaben zu Hause nicht | |
erledigen können, weil sie noch drei Geschwister haben, die an dem einzigen | |
PC arbeiten müssen. Andererseits könnte man Familien, die es sich zutrauen, | |
bitten, kleine Lernzirkel zu bilden. Und die Länder könnten darüber | |
nachdenken, für Abiturient:innen und andere, die dieses Schuljahr noch | |
einen Abschluss schreiben sollen, einen zweiten Prüfungstermin im Herbst | |
anzubieten. | |
In einer Petition an den Bundestag bezeichnen Sie es als „höchst | |
problematisch“, dass die Länder zuerst die Abschlussklassen zurück an die | |
Schulen lassen. Was ist daran falsch? | |
Dass Abschlüsse vergeben werden können, setzt ein funktionsfähiges | |
Schulsystem voraus. Es wird aber in den nächsten Wochen nicht | |
funktionsfähig sein, allein weil viele Lehrer:innen ausfallen werden. Das | |
ändert aber die Prüfungsvorbereitung, wenn zum Beispiel nicht der | |
Biologielehrer, den die Schüler:innen kennen, die Prüfungen abnimmt. Und | |
die Pläne der Länder werden auch dem Stress nicht gerecht, den Kinder und | |
Jugendliche gerade in ihren Familien erleben und auch in der Schule weiter | |
erleben werden. So werden die Prüfungen nicht zum Kompetenztest, sondern | |
zum Stresstest. | |
Viele Schüler:innen haben in den letzten Tage Briefe an die Ministerien | |
geschrieben mit der Bitte, die Schulen geschlossen zu halten und Prüfungen | |
abzusagen. Nimmt die Politik die Sorgen der Betroffenen nicht Ernst genug? | |
Mein Eindruck ist, dass zumindest andere Prioritäten gesetzt werden. Das | |
hängt vielleicht auch mit der Entwicklung zusammen, die wir in den letzten | |
20 Jahren in unserem Schulsystem erlebt haben. Heute dominieren in allen | |
Fächern Kompetenztests. Die Schüler:innen als Personen sind weniger stark | |
im Blick, als man sich das als Pädagoge wünscht. Die Prüfungen ganz | |
verschieben, wie manche Schüler:innen fordern, ist jedoch auch schwierig. | |
Viele haben ja schon Pläne für die Zeit danach. Deshalb plädiere ich für | |
mehrere Prüfungstermine – wie beim PKW-Führerschein. Wir brauchen mehr | |
Flexibilität, um allen gerecht zu werden. Die Schulpflicht ist jetzt doch | |
eh' Fiktion. | |
Apropos Flexibilität. Es gibt Leher:innen, die im [4][Homeschooling] eine | |
Chance erkennen, die im regulären Unterricht selten gelingt: dass die | |
Schüler:innen im eigenen Tempo lernen können. Wie sehen Sie das? | |
Ich glaube, dass es diese Erfahrung in Nischen gibt. Wenn ich aber sehe, | |
was Schulen vor allem in den Sekundarschulen an Aufgaben an die Eltern | |
schicken, erkenne ich eher, dass Familien jetzt mit einem ungewohnten Druck | |
umgehen müssen. Es stimmt, theoretisch stünde jetzt mehr Zeit zum | |
individuellen Lernen zur Verfügung. Aber in der Regel sind es ja die | |
schwächeren Schüler:innen, die zuhause auch weniger Unterstützung bekommen. | |
Die Hoffnung, dass schwächere Schüler:innen vom digitalen Lernen | |
profitieren, scheitert oft an der Realität in den Familien. | |
Zur Realität vieler Familien gehört auch, dass sie möglicherweise bis zu | |
den Sommerferien ihre Kinder nicht in die Kitas schicken können. Ist die | |
Entscheidung, Kitas geschlossen zu halten, richtig? | |
Wenn wir an den Grundschulen in Kauf nehmen, dass sich Kinder anstecken, | |
kann man das genauso in den Kitas machen. Es ist auch utopisch zu glauben, | |
alle Hauptschüler würden sich an die Hygieneregeln halten, nur weil sie | |
schon älter sind. Natürlich müssen wir für Hygiene sorgen und kleinere | |
Gruppen einrichten. Wichtig ist aber, dass Kinder wieder eine stabile | |
Bezugsperson haben. Egal ob in der Schule oder in der Kita. Und das sollten | |
wir für alle anbieten, die es dringend benötigen, um mehr | |
Bildungsgerechtigkeit zu erreichen. Nicht nur für die, bei denen es um | |
Abschlüsse geht. | |
16 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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