| # taz.de -- Ausbildungsplätze im Norden: Was kommt nach der Coronaschule? | |
| > Eltern sorgen sich um das Ausbildungsjahr 2020. Die Kammern melden | |
| > weniger Verträge als im Vorjahr. Mehr Jugendarbeitslosigkeit wird | |
| > befürchtet. | |
| Bild: Ob's so schön je wieder wird, weiß keiner: Auzubis bei Airbus 2011 | |
| Hamburg, Kiel, Hannover, Bremen taz | Das Schuljahr im Lockdown ist schon | |
| chaotisch, aber was kommt danach? Die [1][Hamburger Elternkammer startete | |
| kürzlich einen Hilferuf]. Denn ein Großteil der Zehntklässler hat noch | |
| keine Lehrstelle, vor allem „aufgrund der Wirtschaftslage durch das | |
| Coronavirus“. Die Eltern fordern, alles zu tun, damit die Abgänger versorgt | |
| sind. „Das sind wir unseren Kindern schuldig.“ | |
| Nur hat Hamburg hier gerade einen „Fehlstart“ hinter sich, wie Die Linke | |
| kritisiert. Sie deckte durch eine Anfrage auf, dass 2019 44,7 Prozent der | |
| Zehntklässler nach Schulende in eine Warteschleife kamen. Die heißt „AV | |
| Dual“ und schickt Schüler drei Tage pro Woche ins Praktikum, in der | |
| Hoffnung, dass die Betriebe sie als Azubis nehmen. | |
| „Auf dem Hamburger Ausbildungsmarkt gibt es eine Verdrängung. Fast die | |
| Hälfte der Azubis kommt aus dem Umland, viele haben Abitur“, sagt Kay | |
| Beiderwieden, Berufsbildungsexperte der Linken. Der Staat müsse wie 1980 im | |
| großen Stil Plätze bei Trägern schaffen. „Sonst verlieren wir eine | |
| Generation.“ | |
| „Wir werden das Ausbildungsjahr 2020 nicht verloren geben“, sagt indes Ingo | |
| Schlüter, Vize-Chef des DGB Nord in Schwerin. „Ich appelliere an Betriebe, | |
| stellen Sie Ihre Angebote ins Netz, und an die Bewerber, bewerbt Euch. | |
| Nutzt die Online-Angebote der Berufsberatung.“ Nach der Coronakrise | |
| blieben das Demografieproblem und der Fachkräftemangel bestehen. Da müsse | |
| sich das duale System „im Wettbewerb mit den Hochschulen als krisenfest | |
| beweisen“. Mecklenburg-Vorpommern verliere bis 2030 ein Sechstel der | |
| Erwerbstätigen. Deshalb müssten Arbeitgeber für beruflichen Nachwuchs | |
| sorgen. Es sei falsch, jetzt in Alarmismus zu verfallen. | |
| ## Kaum Lehrstellen im Norden | |
| Das Land sticht allerdings heraus auf einer Karte des im jüngsten | |
| [2][Ausbildungsbericht] Bundesinstituts für berufliche Bildung (Bibb). Die | |
| zeigt den Norden gelb und rot. Nur Nordwestmecklenburg und drei seiner | |
| Nachbarkreise sind so tiefgrün wie Bayern. Heißt: Es gibt mehr Lehrstellen | |
| als Bewerber. Gelb deutet Mangel an, in den tiefroten Gebieten wie Hamburg | |
| fehlt sogar für zehn bis 20 Prozent ein Angebot. Das Bibb zählte für die | |
| Grafik zum Stichtag Ende September auch Bewerber mit, die ohne Lehrstelle | |
| erst mal etwas anderes tun. | |
| „Das Angebot reicht schon im Normalfall nicht“, sagt auch Ingo Schierenbeck | |
| von der Arbeitnehmerkammer Bremen. Ihn besorgt, dass die | |
| Jugendarbeitslosigkeit steigt. Jene, die jetzt von der Schule kommen, | |
| bräuchten „ganz dringend“ Perspektiven. | |
| Die Sorge teilt auch Annette Düring, DGB-Chefin der Region | |
| Bremen-Elbe-Weser: „Manche Betriebe sagen, dass wir das kommende | |
| Ausbildungsjahr vergessen können.“ Das höre sie aus Gastronomie und | |
| Tourismus. Seit Oktober registrierte die Arbeitsagentur Bremen-Bremerhaven | |
| 3,6 Prozent weniger Bewerber und 15 Prozent weniger Plätze. „Diese Zahlen | |
| besorgen mich sehr“, sagt die Bremer Wirtschaftssenatorin Kristina Vogt | |
| (Linke). Vergangene Woche traf sie sich daher erstmals mit Gewerkschaften, | |
| Kammern, Bildungsträgern und Berufsschulen, um „mögliche Förderszenarien“ | |
| zu entwickeln. | |
| Die Handelskammer Bremen ist indes zuversichtlich, dass sich die Betriebe | |
| dank der Soforthilfen und der ersten Lockerungen für den Einzelhandel nun | |
| „weiteren Ausbildungsneuverträgen widmen können“, wie Ausbildungsreferent | |
| Malte Graf-Christoph sagt. | |
| Doch wie groß die Unsicherheit ist, zeigt eine Mitteilung der Industrie- | |
| und Handelskammer Schleswig-Holstein (IHK), die rund 20 Prozent weniger | |
| Ausbildungsverträge zählt als Ende April im Vorjahr. Besonders betroffen | |
| seien der Einzelhandel, Hotels, Gaststätten und Veranstalter. Dagegen | |
| können „Bau, Handwerk, alles, was draußen passiert“, normal arbeiten. So | |
| rechnet auch die Landwirtschaftskammer mit stabilen Zahlen. Und am | |
| Uniklinikum Schleswig-Holstein ist die Nachwuchsakademie belegt. | |
| Vorhersagen seien schwierig, sagt Sebastian Schulze vom Unternehmensverband | |
| Nord. Die Bewerbungsfristen laufen noch, aber gerade Gastronomie und | |
| Tourismus könnten kaum planen. Die Firmen seien in der Zwickmühle. „Sie | |
| wissen nicht, wie sich die Lage entwickelt – aber wenn der Betrieb wieder | |
| losgeht, brauchen sie dringend Fachkräfte.“ | |
| Generell sei „ein Rückgang der Ausbildungsbereitschaft“ nicht zu erkennen, | |
| erklärt Wirtschaftsminister Bernd Buchholz (FDP). Erschwerend sei, dass | |
| Praktika und Schnuppertage gerade nicht möglich sind. Das Land bemühe sich | |
| aktiv um einen „reibungslosen Übergang“ der Abgangsklassen in die | |
| Ausbildung, verspricht Buchholz – genauer wird er dabei nicht. | |
| Auch Volker Linde von der IHK Niedersachsen gibt das Ausbildungsjahr nicht | |
| verloren. Die Kammer rate den Betrieben, Bewerbungen digital abzuwickeln | |
| und zu bedenken, „dass der Ausbildungsvertrag ja nicht unbedingt am 1. | |
| August beginnen muss. Der 1. September oder sogar der 15. oder 20. | |
| September reichen auch noch.“ Man müsse eben sehen, dass man noch in das | |
| Berufsschuljahr hineinkommt. | |
| ## Weniger Ausbildungsverträge | |
| Wie groß das Minus sein wird, sei noch nicht ganz abzusehen, sagt Linde. | |
| Aber auch in Niedersachsen waren bis Ende April 18 Prozent weniger | |
| Ausbildungsverträge abgeschlossen. Mit einem gewissen Minus hätte man | |
| allerdings auch ohne Corona gerechnet: Niedersachsen hat aufgrund der | |
| Abkehr vom Turbo-Abi ja weniger Schulabgänger als sonst. Und noch gebe es | |
| ja die Möglichkeit aufzuholen: Ende April sei immer erst etwa ein Drittel | |
| der Ausbildungen in trockenen Tüchern. | |
| „Die starken Monate kommen erst noch“, sagt auch Thomas Schierbecker von | |
| der Hamburger Handelskammer. Die dort vertretenen Unternehmen schlossen bis | |
| Ende April rund 19 Prozent weniger Verträge ab als im Vorjahresmonat. „Man | |
| merkt, dass der Markt sich verlangsamt“, sagt Schierbecker. Einige führten | |
| Bewerbungen online durch, andere wollten die Menschen persönlich sehen. | |
| Dabei sind Bewerbungsgespräche nicht untersagt. | |
| ## Die Hamburger Arbeitsagentur ist optimistisch | |
| Auch die Arbeitsagentur Hamburg ist optimistisch. Die Berufswahl könne | |
| durch Hilfen im Netz vorankommen. Hamburg habe zusammen mit den schulischen | |
| Ausbildungsgängen über 14.000 Plätze, da sei für jeden etwas dabei. | |
| Allerdings sind Hamburgs Lehrstellen begehrt, nur 1,9 Prozent blieben 2019 | |
| unbesetzt, der kleinste Wert bundesweit. Die Konkurrenz durch die | |
| Nachbarländer führe dazu, dass „vermeintlich leistungsschwächere“ | |
| Jugendliche verdrängt werden, kritisierte die DGB-Jugend kurz vor der | |
| Coronakrise in ihrem Ausbildungsreport und rechnet gar vor, jährlich | |
| stünden rund 4.500 Schulabgänger ohne Ausbildungsplatz da. | |
| Nur was tun? Ingo Schlüter rät, um die betriebliche Ausbildung zu sichern, | |
| sollten die Länder dem Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns folgen, das | |
| Betrieben in Kurzarbeit anbietet, 80 Prozent der Azubi-Vergütung | |
| kurzfristig zu übernehmen. „So kann Kurzarbeit bei Azubis vermieden | |
| werden“. | |
| Anette Düring schlägt für Bremen vor, um den Ausfall eines ganzen | |
| Ausbildungsjahres zu verhindern, könnte man eine schulische Grundausbildung | |
| für Azubis anbieten, sodass diese auch ohne geöffnete Betriebe starten | |
| könnten. „Das setzt voraus, dass die trotzdem bereit sind, einzustellen.“ | |
| ## Modell Grundausbildung | |
| In Hamburg, wo die regierende SPD bereits 2011 jedem Jugendlichen eine | |
| Ausbildung versprach, gibt es so ein ähnliches Modell schon. Jene, die | |
| einen festen Berufswunsch haben, können die „Berufsqualifizierung“ (BQ) | |
| beim Staat beginnen und in einen Betrieb wechseln, wenn der sich findet. | |
| Nur ist das dem Senat untergeordnete „Hamburger Institut für berufliche | |
| Bildung“, kurz Hibb, sparsam bei der Vergabe solcher Plätze. Waren mal | |
| 1.000 geplant, sind nur 175 besetzt. | |
| Sprecherin Angela Homfeld sagt, es würden Plätze an Berufsfachschulen | |
| „bedarfsgerecht angeboten“, etwa für Screen Designer, Hauswirtschaft oder | |
| Uhrmacher. Die Bewerbungsfrist sei bis Mitte Juni verlängert. Außerdem | |
| könnte die Platzzahl für die Berufsqualifizierung erhöht werden. Ein | |
| fehlender Nachweis erfolgloser Bewerbungen werde anders als sonst „in | |
| diesem Jahr keine Hürde sein“, sagt Homfeld. Übrige Schulabgänger, die ohne | |
| „gesicherte Anschlussperspektive“ sind, gingen von der Schulbank ins „AV | |
| Dual“ um von dort „schnellstmöglich in eine Ausbildung zu wechseln“. Ob … | |
| wieder fast die Hälfte sind wie 2019 oder sogar mehr, wird wohl erst eine | |
| weitere Anfrage der Linken erweisen. | |
| 12 May 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://elternkammer-hamburg.de/2020/04/30/die-elternkammer-warnt-vor-konfl… | |
| [2] https://www.bibb.de/dokumente/pdf/ab11_beitrag_ausbildungsmarkt-2019.pdf | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
| Esther Geißlinger | |
| Alina Götz | |
| Nadine Conti | |
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