| # taz.de -- BSW-Wahlkampf in Thüringen: Der Bündnisfall | |
| > Das BSW trifft einen Nerv im Osten. In Thüringen könnte Katja Wolf sogar | |
| > Ministerpräsidentin werden. Aber es gibt ja noch Parteichefin | |
| > Wagenknecht. | |
| Bild: Aus dem Stand erfolgreich im Osten: Sahra Wagenknecht auf einem Plakat in… | |
| Im abgesperrten Bereich hinter der Bühne lehnt sich Katja Wolf an einen | |
| Transporter und schließt die Augen. „Entspannt ihr euch? Seid ihr | |
| locker?!“, fragt ihr Sprecher beschwörend in die Runde. Es ist Montag in | |
| Eisenach, der Marktplatz ist voll, gleich beginnt die Wahlkampftour des | |
| Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) durch Thüringen. | |
| Das Manuskript ihrer Rede hat Katja Wolf einige Male durchgeknetet. „Modul | |
| 1“, steht auf dem ersten Zettel in ihren Händen, „Katjas Geschichte. | |
| Bildung.“ Und die erste Frage, die der Moderator ihr gleich auf der Bühne | |
| stellen wird: | |
| „Wie fühlst du dich?“ | |
| Eben war sie noch bei [1][der Linken und Bürgermeisterin von Eisenach], | |
| jetzt könnte Katja Wolf für das BSW Ministerpräsidentin werden. Bei 18 | |
| Prozent steht das Bündnis Sahra Wagenknecht in einigen Umfragen, der | |
| Abstand zur CDU ist klein. Das BSW könnte das Parteiensystem durchschütteln | |
| und der Regierung in Berlin den finalen Stoß geben, wenn zwei bis drei | |
| Ampelparteien aus dem Landtag fliegen. | |
| ## Neue deutsche Protestpartei | |
| Und Katja Wolf? Will die AfD schwächen und so die Demokratie vor Björn | |
| Höcke retten, damit hat sie ihren Wechsel begründet. Für ihre Parteichefin | |
| dagegen ist Thüringen nur der erste Schritt, um das BSW als neue deutsche | |
| Protestpartei zu etablieren. | |
| Wie soll man sich da schon fühlen? | |
| Dass eine Partei aus dem Stand so erfolgreich ist, ist selten. Was aber ist | |
| das BSW für eine Partei? Und wer sind die Leute, die in Thüringen bald | |
| regieren könnten? | |
| Wer das Bündnis Sahra Wagenknecht [2][durch den Wahlkampf begleitet], | |
| erlebt eine Partei, die einen Nerv trifft. Die improvisieren muss, weil es | |
| sie erst ein paar Wochen gibt, und die gleichzeitig mit ziemlich | |
| etabliertem Personal daherkommt. Nicht zuletzt eine Partei, die versucht, | |
| eine Balance zwischen dem Populismus ihrer Namensgeberin und einer | |
| pragmatischen Realpolitik in Thüringen zu finden. | |
| Bevor Katja Wolf auf die Bühne tritt, spielt der Liedermacher Tino | |
| Eisbrenner ein paar seiner alten Hits. Die größten Erfolge hatte er in der | |
| DDR. Noch im Frühjahr flog er für einen Musikwettbewerb nach Moskau.Dann | |
| geht es los. | |
| Der Marktplatz ist voll, die Eisenacher jubeln ihrer langjährigen | |
| Bürgermeisterin zu. Ab Juli 2012 regierte sie die Stadt, zur Kommunalwahl | |
| in diesem Frühjahr trat sie nicht wieder an. | |
| Wolf spricht über Bildungspolitik und fehlende Lehrerstellen. Besonders | |
| populistisch klingt sie nicht, nur einmal, als sie über die fehlenden | |
| Deutschkenntnisse an den Schulen spricht, sagt sie, das hier sei „nicht | |
| Neukölln“. Ansonsten sagt Wolf, das BSW stehe zum Asylrecht, und dass es | |
| ein Skandal sei, dass es in Thüringen so lange dauere, bis ausländische | |
| Ärzte anerkannt seien. | |
| Hinter der Bühne wird es hektisch. „Katja!“, ruft einer, „Sahra kommt in | |
| zwei Minuten.“ Wolf beendet ihre Rede und verlässt die Bühne, um ihre | |
| Vorsitzende vom Auto abzuholen. | |
| Die BKA-Beamten setzen ihre Sonnenbrillen auf, die Türen der schwarzen | |
| Limousine gehen auf, Sahra Wagenknecht steigt aus – und hat ihren Mann | |
| mitgebracht. „Oh“, sagt Wolf zu Oskar Lafontaine, „ich wusste gar nicht, | |
| dass du auch kommst.“ Wolf und Wagenknecht umarmen sich. Die Konkurrenz, | |
| die es zwischen ihnen gibt, hier die Parteichefin, dort die | |
| Realpolitikerin, man spürt sie nicht auf den ersten Blick. | |
| Vielleicht ist es jetzt, im Wahlkampf, auch weniger Konkurrenz als eine gut | |
| funktionierende Arbeitsteilung. War Wolf eben noch die pragmatische | |
| Bildungspolitikerin, betritt nun die Populistin die Bühne. Es dauert nicht | |
| lange, bis Wagenknecht über elitäre Großstädter mit „Hafermilch-Macchiato… | |
| und Lastenrädern schimpft. | |
| Hinter der Bühne tigert Oskar Lafontaine auf und ab. „Ah, meine | |
| Lieblingszeitung“, begrüßt er den Reporter der taz sarkastisch. Er selbst | |
| will keine Rede halten, wie ein Unbeteiligter wirkt er aber auch nicht. | |
| Nichts darf ihm den Blick auf die Menge von der Bühne versperren. „Ich muss | |
| sehen, wie die Leute reagieren“, sagt Lafontaine mit einem Lächeln: „Davon | |
| verstehe ich was.“ | |
| Auf der Bühne galoppiert Wagenknecht durch die Wahlkampfschlager. Von | |
| Politikern, die vorschreiben würden, welche Autos wir fahren, über das Gas, | |
| das wir vom „bösen Putin“ nicht mehr kaufen dürften, obwohl der Rest der | |
| Welt das weiter tue. | |
| Lauten Applaus gibt es, als sie über Armut spricht. Über Rentner, die zur | |
| Tafel gehen müssten. In das Bürgergeld-Bashing der ganz großen Berliner | |
| Koalition stimmt sie nicht ein, wie überhaupt interessant ist, worüber | |
| sie im Wahlkampf kaum spricht: Migration. Das BSW hat die Wähler mit einem | |
| Onlinetool befragt, was für sie die wichtigsten Themen im Wahlkampf seien. | |
| Die Migration landete nur auf Platz vier. Das Volk bestellt, Wagenknecht | |
| liefert. | |
| Während Sahra Wagenknecht als Marktschreierin durchs Land reist, laden | |
| [3][Mario Voigt] und Friedrich Merz von der CDU in ein Erfurter Autohaus | |
| ein, und Kevin Kühnert geht mit Genossen wandern. Vielleicht ist das nur | |
| eine andere Strategie, vielleicht aber auch die Angst mancher | |
| Bundespolitiker, auf Protest zu stoßen. | |
| Sahra Wagenknecht kommt zum Ende ihrer Rede, dem Höhepunkt. Es geht um | |
| Krieg und Frieden, das Thema Nummer eins des BSW. In einem Satz verurteilt | |
| sie den russischen Angriff auf die Ukraine, dann schimpft sie auf die | |
| Waffenlieferungen der Ampelkoalition, auf „Strack-Rheinmetall“ von der FDP | |
| und sagt: „Ohne Frieden ist alles nichts!“ | |
| Am meisten Applaus bekommt sie, als sie darauf hinweist, dass Wiesbaden von | |
| Eisenach nicht weit ist. Dort sollen 2026 die US-Raketen stationiert | |
| werden. Ein möglicher russischer Angriff hätte auch hier katastrophale | |
| Folgen: „Natürlich ist das Landespolitik!“ | |
| Gerade erst hat Wagenknecht in einem Interview die Ablehnung der | |
| Stationierung zur Bedingung für eine Koalition gemacht. Vom BSW in | |
| Thüringen war niemand über ihren Vorstoß informiert. Spricht man die | |
| Wahlkämpfer darauf an, wird tief durchgeatmet und dann gelächelt. | |
| War es richtig, die Ablehnung zur Bedingung zu machen, Herr Lafontaine? | |
| „Das funktioniert hervorragend“, sagt er, was keine Antwort auf die Frage | |
| ist, aber zeigt, dass es vor allem um Wahlkampfstrategie geht. Ob ein | |
| bisschen Friedenspolitik im Vorwort des Koalitionsvertrags ausreiche, um | |
| die Bedingung zu erfüllen? Oskar Lafontaine winkt ab, das werde man sehen. | |
| Nach der Wahl. | |
| Er wendet sich an Katja Wolf, die wieder hinter der Bühne am Auto lehnt. | |
| Auch Lafontaine fragt, wie es ihr gehe. „So seh ich aus, wenn ich | |
| tiefenentspannt bin“, behauptet Wolf. Man muss ihr das nicht glauben. | |
| Nach der Rede von Sahra Wagenknecht gibt es die Möglichkeit, Fotos zu | |
| machen. Katja Wolf nimmt ein Handy nach dem anderen und macht Bilder – von | |
| Wagenknecht und Fans. Fotos mit ihr wollen deutlich weniger Menschen | |
| machen. | |
| Der Hype um das BSW ist groß. Dutzende Journalisten sind nach Eisenach | |
| gekommen. Die „Heute Show“ ist da, die New York Times habe auch schon | |
| angefragt. „Ich mein: Hallo!?“, sagt Pressesprecher Steffen Quasebarth, | |
| „Wir sind doch nur das kleine Thüringen!“ | |
| Wenn aber in einer Partei selbst der Pressesprecher kaum über den | |
| Marktplatz laufen kann, ohne für ein Selfie angehalten zu werden, hat man | |
| wohl etwas richtig gemacht. „Ich dachte, Sie gibt’s nur um 19 Uhr im | |
| Fernsehen“, sagt ein Passant. | |
| Steffen Quasebarth hat 30 Jahre lang das „Thüringen Journal“ moderiert. F�… | |
| ältere Thüringer ist das ein bisschen, als würde Ingo Zamperoni seine | |
| Krawatte ablegen und sich einer Partei anschließen. Quasebarth ist nicht | |
| nur BSW-Pressesprecher, er steht auch auf Listenplatz drei. Und es hat ja | |
| eine gewisse Logik: Was braucht eine Talkshow-Politikerin wie Sahra | |
| Wagenknecht, um erfolgreich zu sein? Einen Moderator. | |
| Am Morgen nach ihrem Auftritt in Eisenach sitzt Katja Wolf in Erfurt unter | |
| einem Kreuz in einem Tagungsraum der katholischen Kirche und muss über | |
| Familienpolitik reden. Es gibt Schnittchen und Obst auf Zahnstochern. Der | |
| Arbeitskreis Thüringer Familienorganisationen hat eingeladen, die anderen | |
| Parteien haben ihre fachpolitischen Sprecherinnen geschickt. Da das BSW so | |
| etwas noch nicht hat, geht die Spitzenkandidatin eben selbst. | |
| Katja Wolf schwirrt der Kopf, gestern war sie um halb eins zu Hause. „Das | |
| war okay. Aber bei der letzten Podiumsdiskussion dachte ich kurz: Wo bin | |
| ich? Wie heiß ich noch mal?“ Auf dem Podium kann sie die Finger nicht von | |
| ihrem Handy lassen. | |
| Der Sprecher des Familienverbands hat die Wahlprogramme genau gelesen, beim | |
| BSW sind ihm Widersprüche aufgefallen. Dort heißt es, dass die „normale | |
| Familie“ im Mittelpunkt stehen solle. Was denn normal sei, will er wissen. | |
| Außerdem fordert das BSW Sprachtests für Dreijährige. Wer durchfällt, soll | |
| verpflichtend in den Kindergarten. Den besuchen aber heute schon 95 Prozent | |
| der Thüringer Kinder – wofür braucht es da eine Pflicht? | |
| Die Familienpolitik ist eines von vielen Feldern, auf denen unklar ist, was | |
| die Partei will. Beim Wahl-O-Mat hat die Partei 33 von 38 ihrer Antworten | |
| nicht begründet. Familie sei „da, wo Verantwortung ist“, sagt Katja Wolf | |
| dann und unterscheidet sich damit nicht von SPD, Grünen und Linken. | |
| Deutlich wird aber, dass Wolf den Abgeordneten der anderen Parteien | |
| rhetorisch überlegen ist: Die Grüne Sprecherin spricht von „Care-Arbeit“ | |
| und „Zeitpolitik“, die Linke sagt den schönen Satz: „Wir kennen alle das | |
| Familienförderungssicherungsgesetz“. Katja Wolf dagegen reißt als Erste das | |
| Publikum im Saal mit, als sie sich empört, dass auf dem heutigen Podium zur | |
| Familienpolitik ausschließlich Frauen sitzen. | |
| Während Katja Wolf diskutiert, betritt Frank Augsten die Geschäftsstelle | |
| des BSW. Nicht mal ein Schild hängt an der Tür, am Eingang hat jemand den | |
| Namen der Partei auf eine Postkarte geschrieben. Zwei Schreibtische, ein | |
| alter Teppichboden, ein Chihuahua und ein Drucker, der immer wieder | |
| ausfällt. Von hier aus wird die politische Landschaft | |
| durcheinandergebracht. | |
| Frank Augsten trägt Socken in Sandalen, äußerlich könnte man ihn für einen | |
| Grünen halten, und das war er auch, bis März. Augsten hat mal die Thüringer | |
| Landesverbände von Bund und Nabu mitgegründet, war Landesvorsitzender der | |
| Grünen – und ist seit Ende März beim Bündnis Sahra Wagenknecht. Ihn stört, | |
| dass sich seine Ex-Partei in die erste Reihe derer gestellt hat, die Waffen | |
| für die Ukraine fordern. Dass er im Frühjahr bei der Listenaufstellung der | |
| Grünen nicht berücksichtigt wurde, dürfte auch eine Rolle gespielt haben. | |
| Kurz danach habe es „einen Anruf“ gegeben, mehr will Augsten nicht | |
| verraten. Nun steht er auf Platz 5 der BSW-Liste für Thüringen, damit ist | |
| er sicher im kommenden Landtag. | |
| Mitglieder hat die Partei in Thüringen immer noch weniger als 100. Jeder | |
| Interessent soll sorgfältig geprüft werden, dafür fehlt aber die Zeit im | |
| Wahlkampf. In manchen Städten hat das BSW kein Mitglied, in manchen | |
| Landkreisen eins. Viele hatten geglaubt, dass das ein Nachteil sein würde | |
| im Wahlkampf. Gerade zeigt sich, dass das Hemdsärmelige bei den Wählern | |
| gut ankommt. Das hat das BSW mit der AfD gemein: Man spricht zwar nicht von | |
| „Altparteien“, aber will anders sein als die anderen. | |
| Tatsächlich wird viel improvisiert: Die Wahlplakate lagern in einer | |
| Tischlerei, der Meister selbst steht auf Listenplatz 21. Mails an manche | |
| der künftigen Abgeordneten kommen mit einer Fehlermeldung zurück, die | |
| Adressen werden gerade erst eingerichtet. | |
| Bei all der schönen Erzählung vom Aufbruch könnte man vergessen, dass das | |
| BSW ziemlich etabliert aufgestellt ist: Sie hat die größte einzelne | |
| Parteispende der vergangenen Jahre erhalten, 5 Millionen Euro von einem | |
| Unternehmerpaar aus Mecklenburg. Sie hat Bundestagsmandate, die aus der | |
| Spaltung der Linken hervorgingen. Und in Thüringen stehen auf den vorderen | |
| Listenplätzen erfahrene Kandidaten. Neben ehemaligen Grünen kommen | |
| Kandidaten von der CDU, den Wahlkampf koordiniert eine ehemalige | |
| Bundestagsabgeordnete der Linken. | |
| Sie alle werden nicht durch Amateurfehler auffallen, so das Kalkül. | |
| Gleichzeitig ist kaum vorstellbar, dass sich diese erfahrenen | |
| Landespolitiker aus Berlin oder dem Saarland diktieren lassen, unter | |
| welchen Bedingungen sie einer Koalition zustimmen. | |
| Auf ihrer Wahlkampftour betont das BSW, wie viele Unternehmer, Gastwirte, | |
| „ganz normale Bürger“ auf ihrer Liste stehen. Der Staat solle mehr | |
| ermöglichen, weniger verbieten, und überhaupt klingt das oft ziemlich | |
| wirtschaftsliberal. Hätte es noch einen Beweis gebraucht, dass das | |
| Parteiensystem im Umbruch ist und sich nicht mehr klassisch von links bis | |
| rechts organisiert, das BSW liefert ihn. Im Osten mit seiner geringen | |
| Parteibindung verfängt das. | |
| Der Ex-Grüne Frank Augsten hat nur kurz Zeit für ein Gespräch, gleich ist | |
| er mit dem Landesgeschäftsführer verabredet. Sie bereiten die | |
| Koalitionsverhandlungen mit der CDU vor, erzählt er. Beim Ökolandbau liege | |
| Thüringen ganz hinten, und wie könnte ein Kompromiss bei der Windkraft im | |
| Wald aussehen? Augsten ist dafür, viele Thüringer dagegen. Seiner Partei | |
| hat er abgerungen, dass sie im Wahlprogramm dazu uneindeutig bleibt. Er | |
| will vorbereitet sein für das, was am Wahlsonntag um 18 Uhr beginnt. Wenn | |
| es nach Augsten geht, ist er in ein paar Wochen Minister, das gibt er gern | |
| zu – bevor er sich verabschiedet. | |
| Augstens Beispiel zeigt, dass das BSW breit aufgestellt ist. Ob die Partei | |
| inhaltlich beliebig wird oder sich so als ostdeutsche Volkspartei | |
| aufstellen will, dürfte sich nach der Wahl zeigen. | |
| Einen Tag nach dem Marktplatz von Eisenach ist nun der von Altenburg dran, | |
| in Ostthüringen, an der Grenze zu Sachsen. Hier hat Katja Wolf keinen | |
| Heimvorteil. | |
| Altenburg hat seit der letzten Wahl einen Direktkandidaten der AfD, auch | |
| bei den Kommunalwahlen wurde die Partei stärkste Kraft. Auf dem Marktplatz | |
| schaut der Bratwurstverkäufer skeptisch auf die Bühne von Sahra | |
| Wagenknecht, stützt sich mit den Fäusten auf den Tresen und sagt: „Mir ist | |
| die AfD noch zu links.“ Ein älterer Mann schiebt sein Fahrrad über den | |
| Platz. Er freut sich, dass Wagenknecht sich gegen die US-Raketen stark | |
| macht. „Seit der Wende haben wir die scheiß Amis hier“, sagt er. | |
| ## Und wie hält man es mit der AfD? | |
| Katja Wolf hat ihren Übertritt zum BSW damit begründet, dem Rechtsruck | |
| etwas entgegensetzen zu wollen. Und tatsächlich trifft man auf den | |
| Marktplätzen viele Menschen, die erzählen, dass sie zu Hause bleiben oder | |
| die AfD wählen wollten, aber nun überlegen, dem BSW ihre Stimme zu geben. | |
| Die wütend auf die Ampel sind, aber in der CDU und der Linken keine | |
| Alternative sehen. Wenn man diese Menschen in ihrem Antiamerikanismus | |
| bedient und mit Populismus gegen Lastenräder dafür gewinnen kann, eine | |
| populistische, aber demokratische Partei zu wählen statt Höcke – wäre das | |
| nicht ein verschmerzbarer Preis? | |
| Einerseits. | |
| Andererseits hat das BSW es bei der Europawahl nicht geschafft, die AfD | |
| merkbar zu schwächen. Auch von der Linken dürften bei der Landtagswahl | |
| viele Wähler überlaufen. Katja Wolf erzählt, dass sie mit ihrem ehemaligen | |
| Genossen [4][Bodo Ramelow] weiter Nachrichten schreibe. „Aber keine | |
| Herzchen.“ | |
| Realpolitisch könnte das BSW den Faschisten Höcke sogar stärken. Katja Wolf | |
| hat angekündigt, im Landtag „vernünftigen“ Anträgen der AfD zustimmen zu | |
| wollen. Das werde nicht oft vorkommen, verteidigt sie ihren Vorstoß, in | |
| Eisenach habe sie keinen einzigen solchen Antrag erlebt. Aber damit war der | |
| Geist aus der Flasche. | |
| Beim BSW glaubt man, dass man nicht weiterkommt mit der bisherigen | |
| Strategie, auch harmlose Anträge zur Geschäftsordnung lieber mit | |
| Copy-and-Paste zu übernehmen und selbst zu stellen. „Das Spiel ist | |
| gescheitert“, sagt Katja Wolf, die AfD stehe bei 30 Prozent. „Wenn die AfD | |
| sagt, der Himmel ist blau, dann können wir doch nicht aus Prinzip sagen, | |
| das ist er nicht.“ | |
| Es ist ein Schritt, der die AfD weiter normalisieren wird. Katja Wolf | |
| glaubt, dass er sie entzaubert. | |
| Die CDU hat im Landtag bereits Anträge mit Stimmen der AfD durchgebracht, | |
| sich aber nicht an deren Initiativen beteiligt. Sollte es nach den Wahlen | |
| wieder keine Mehrheitsregierung geben, könnte sich die Frage umso | |
| dringender stellen. | |
| Eine Tolerierung durch die AfD oder eine andere Zusammenarbeit schließt das | |
| BSW aus. Auf ein Kemmerich-Szenario hat man sich aber bisher auch nicht | |
| vorbereitet, heißt es aus der Partei – also auf den Fall, dass es im | |
| Landtag keine Mehrheit für einen Kandidaten gibt und die AfD sich wieder | |
| einen Trick einfallen lässt, ähnlich wie 2020, als Thomas Kemmerich von der | |
| FDP mit ihren Stimmen zum Kurzzeitministerpräsidenten gewählt wurde. | |
| Am Wahlsonntag um 18 Uhr wird sich zeigen, ob sich beides zusammenbringen | |
| lässt: Eine pragmatische Lösung für Thüringen und der Aufstieg einer neuen | |
| deutschen Oppositionspartei. | |
| ## Kompromisslosigkeit oder Realpolitik | |
| Sahra Wagenknecht will kompromisslos in den Bundestagswahlkampf starten, | |
| der im Herbst nach den Landtagswahlen beginnt. „Wir werden nie Teil dieses | |
| Sumpfes sein!“, ruft sie den Altenburgern von der Bühne aus zu, als sie | |
| über die anderen Parteien schimpft. Eine Koalition mit der CDU in Thüringen | |
| würde dem widersprechen. | |
| Katja Wolf weiß, dass sie Ende nächster Woche zur ersten Machtbasis für das | |
| BSW werden könnte. Sahra Wagenknecht mag ihren Namen gegeben haben – | |
| realpolitisch ist sie eine Hinterbänklerin im Bundestag. Das föderale | |
| System der Bundesrepublik könnte helfen, den Populismus zu begrenzen: | |
| Formal entscheidet der Landesverband. | |
| Anders als Wagenknecht redet Wolf über Friedenspolitik nur, wenn sie darauf | |
| angesprochen wird. Arbeitsteilung eben. Dann sagt sie, man werde sich nur | |
| an einer Landesregierung beteiligen, die in dieser Frage klar ist. Was das | |
| bedeutet, lässt man lieber im Unklaren. | |
| „Wir können in Thüringen nicht beschließen, dass Putin an den | |
| Verhandlungstisch kommt“, hatte Katja Wolf hinter der Bühne in Eisenach am | |
| Vortag zu einer Traube von Journalisten gesagt. Es müsse aber ein „klares | |
| Bekenntnis für Frieden aus Thüringen geben“. Mit der Landes-CDU in scheint | |
| das durchaus realistisch. Auch ihr Spitzenkandidat Mario Voigt fordert im | |
| Wahlkampf „mehr Diplomatie“. | |
| Ob das der großen Vorsitzenden reicht? Auf dem Marktplatz in Altenburg sagt | |
| Sahra Wagenknecht: „Wir werden alles tun, um die Stationierung dieser | |
| Waffen in Deutschland zu verhindern“. Alles – das klingt nach mehr als ein | |
| bisschen Frieden im Vorwort des Koalitionsvertrags. Dem Spiegel hat | |
| Wagenknecht gesagt, sie werde bei möglichen Koalitionsverhandlungen „mit am | |
| Tisch sitzen“ – ungewöhnlich für eine Bundesvorsitzende. | |
| Wagenknecht rauscht wieder ab, die nächste Bühne wartet auf sie. Sie liebe | |
| Thüringen, ihr Heimatland, den Dialekt, hatte sie dem gerührten Publikum | |
| noch gesagt. Der Thüringer Senf scheint ihr weniger zu schmecken. Den | |
| Präsentkorb, den ihr die stolzen Altenburger auf der Bühne überreicht | |
| hatten, hat sie stehen gelassen. | |
| Katja Wolf sagt: „Es muss am Ende immer um Thüringen gehen.“ | |
| 24 Aug 2024 | |
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