# taz.de -- Autorin Brigitte Theißl über Klassismus: „Medien lieben Aufstei… | |
> Brigitte Theißl schreibt über Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft. | |
> Beteiligt daran sind ihr zufolge auch Medien. Ein Gespräch über | |
> Klassismus. | |
Bild: Klassismus der Dinge: „SUV“ neben einem Kleinwagen in Berlin | |
taz: Frau Theißl, die Autokorrekturfunktion an meinem Computer macht aus | |
dem Wort Klassismus immer „Klassizismus“. Was ist Klassismus und wer ist | |
davon betroffen? | |
Brigitte Theißl: Es ist eine sehr junge Debatte im deutschsprachigen Raum. | |
Der Begriff bezeichnet analog zu Sexismus und Rassismus eine | |
Unterdrückungs- und Diskriminierungsform, eben aufgrund der | |
Klassenzugehörigkeit oder auch Klassenherkunft. Das bedeutet, dass | |
Menschen, [1][die von Klassismus betroffen sind], von materiellen | |
Ressourcen ausgeschlossen sind, aber auch von politischer Partizipation. | |
Dass sie abgewertet und ausgegrenzt werden. Das trifft zum Beispiel | |
wohnungslose Menschen und Menschen mit wenig Einkommen. | |
Linke Kritiker*innen haben Ihnen vorgeworfen, der Begriff sei | |
überflüssig und verstelle den Blick auf das Wesentliche, nämlich den | |
Klassenkampf. Wieso ist der Begriff Klassismus hilfreich? | |
Uns wurde vorgeworfen, dass wir gar keine Umverteilung fordern würden, | |
sondern Betroffene nur netter behandeln wollen. Das ist ein | |
Missverständnis. Mir geht es nicht darum, dass mehr | |
Arbeiter*innenkinder aufs Gymnasium kommen, sondern, dass das | |
Gymnasium abgeschafft wird, um ein gerechteres Bildungssystem zu schaffen. | |
Antiklassistische Analysen können dabei helfen zu verstehen, wie | |
Klassengesellschaft funktioniert. Klassismus [2][ist auch eine Ideologie], | |
mit der bestimmte Politik gerechtfertigt wird. Wenn wir zum Beispiel von | |
Menschen in der „sozialen Hängematte“ sprechen oder von „Zuwanderung in … | |
Sozialstaat“, dienen diese Geschichten als Rechtfertigung für neoliberale | |
Politik. | |
Inwiefern bedienen Medien ein neoliberales Narrativ? | |
Medien lieben Aufsteigergeschichten, also die klassischen | |
Hollywoodgeschichten. Diese Geschichten handeln von individuellen | |
Anstrengungen und Erfolgen, aber es werden selten Geschichten erzählt über | |
die Hürden und warum man es nicht oder trotzdem geschafft hat. Klassismus | |
ist eine strukturelle Diskriminierungsform, die ganz individuelle | |
Auswirkungen hat, auf Lebenserwartung, Bildungsabschlüsse oder Gesundheit. | |
Aber wenn ich nur auf individuelles Versagen blicke, blendet das | |
strukturelle Diskriminierung aus. | |
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Medien nicht über Klassismus, dafür aber | |
klassistisch berichten. Wie äußert sich das in der Berichterstattung? | |
Da gibt es eine große Bandbreite. Am bekanntesten sind Reality-TV-Formate, | |
in denen erwerbslose Menschen so inszeniert werden, als säßen sie den | |
ganzen Tag zu Hause auf der Couch, zockten und als wollten sie sich keine | |
Arbeit suchen. Dann gibt es natürlich die Bild-Zeitung, die eine | |
regelrechte Kampagne gefahren hat gegen Menschen wie den „faulsten | |
Arbeitslosen Deutschlands“. Subtiler wird es dann, wenn Menschen, die | |
rechte Parteien wählen und auf deren Demonstrationen gehen, mit abwertenden | |
klassistischen Begriffen beschrieben werden. Es gibt Beispiele, bei denen | |
wurden diese Menschen als die hässlichsten Menschen Wiens bezeichnet oder | |
als Nazimonster – mitsamt ihrer schlecht sitzenden Leggins und | |
Glitzer-T-Shirts. Da geht’s dann nicht mehr um strukturellen Rassismus, | |
sondern eben um einzelne Monster, die man ausstellen kann. | |
Berichten seriöse Medien auch klassistisch? | |
Insgesamt kommen in Qualitätsmedien Menschen aus der Arbeiter*innen und | |
Armutsklasse zu wenig zu Wort. Armutsberichterstattung ist oft | |
problematisch, wenn Journalist*innen mit einem Blick von außen in ein | |
gerne genanntes Problemviertel fahren und eine armutsbetroffene Familie | |
vielleicht sogar voyeuristisch ausstellen. Die Betroffenen könnten sehr | |
viel über Armut, über Diskriminierung, über Probleme mit Ämtern erzählen, | |
aber sie sollen nur erzählen, wann das Geld nicht gereicht hat, was sie | |
gegessen haben und wie klein das Kinderzimmer ist. | |
Betrifft das auch diese Zeitung? | |
Ich kann keine pauschale Diagnose geben. Tendenziell ist die | |
Berichterstattung besser, aber mir sind auch schon in der taz | |
problematische Dinge aufgefallen. | |
In den vergangenen zwei Jahren hat der Presserat 36 Entscheidungen über | |
Beschwerden wegen diskriminierender Berichterstattung (Ziffer 12 des | |
Pressekodexes) getroffen. Keine einzige Beschwerde bemängelt | |
Diskriminierung wegen Armut. Woran liegt das. | |
Das wundert mich nicht. Es gibt noch viel zu wenig Bewusstsein für dieses | |
Thema. Das war früher bei Geschlechterdiskriminierung genauso und dort gibt | |
es noch immer [3][sehr viele Baustellen und Missstände]. | |
Was sagt das über Journalist*innen und deren Redaktionen aus? | |
Ich unterstelle vielen Journalist*innen keine Absicht. Die | |
Zusammensetzung der Redaktionen ist das Problem. Immer mehr | |
Journalist*innen kommen aus einem akademischen Haushalt. Viele kommen | |
auch von Journalistenschulen, auf denen laut Studien ebenfalls eine elitäre | |
Herkunft überwiegt. Es gibt also viele, die niemanden in ihrem engeren | |
Umfeld haben, der oder die nicht studiert hat. Das prägt die Themenauswahl | |
und die spiegelt dann vor allem die Welt der Mittel- und Oberschicht wider. | |
Warum ist es für von Klassismus Betroffene so schwierig, in die Redaktionen | |
vorzudringen? | |
Oft ist schon der Einstieg ein Problem. Im Journalismus sind das meistens | |
unbezahlte Praktika. Von einem solchen Berufseinstieg über Praktika oder | |
Volontariate kann man oft nicht leben. Oder erste Beiträge werden ohne | |
Bezahlung oder mit sehr geringer Bezahlung gefordert, gerade bei | |
Qualitätsmedien. Das heißt, den beruflichen Einstieg muss man sich erst mal | |
leisten können. | |
Wie erhalten sich diese Klassenstrukturen in den Redaktionen und wie | |
schreiben sie sich fort? | |
Viele Menschen, die eine Klassenreise hinter sich haben, sagen, dass sie | |
sich an bildungsbürgerlichen Orten fremd fühlen. Etwa, weil ihnen das | |
Vokabular fehlt, sie an Erfahrungen nicht anknüpfen können und sie merken, | |
da gehören sie nicht hin. Der Reporter Juan Moreno, der den | |
Fälschungsskandal beim Spiegel aufgedeckt hat, hat das in seinem Buch gut | |
beschrieben. Er wurde vom Portier seiner Redaktion mal für einen Taxifahrer | |
gehalten. Das sind strukturelle Ausschlussmechanismen. Wenn man sich | |
trotzdem irgendwo reinkämpft, erfordert es eine große Anpassungsleistung, | |
um sich durchzusetzen. | |
Wie können sich Medien denn für die Perspektiven von Menschen öffnen, die | |
von Klassismus betroffen sind? | |
Von den so genannten Aufsteiger*innen, die ich für mein Buch befragt | |
habe, haben mir die wenigsten erzählt, dass sie sich besonders angestrengt | |
haben oder sie besonders intelligent waren, sondern dass sie an bestimmten | |
Punkten ihres Lebens Glück hatten und gefördert wurden. | |
Wie könnte diskriminierungsfreie und respektvolle Berichterstattung | |
aussehen? | |
Einerseits ist es wichtig, stets die eigene Sprache zu reflektieren und | |
solche Begriffe wie „sozial Schwache“ oder „Unterschicht“ endgültig zu | |
streichen. Es gibt dazu allerlei Leitfäden. Das Gleiche gilt für die | |
Bildsprache. Bilder, die Menschen auf einem kaputten, verlassenen | |
Spielplatz von hinten mit zerrissener Kleidung zeigen, stigmatisieren | |
Menschen ebenso. Außerdem ist es ganz wichtig, dass Betroffene selbst zu | |
Wort kommen und sie nicht nur zu ihrer Biografie, sondern auch als | |
Expert*innen für ihre eigene Lebenssituation befragt werden. Und sehr | |
relevant ist es auch, [4][eine gesellschaftliche Dimension zu finden] und | |
nicht nur bei der individuellen Geschichte stehen zu bleiben. | |
10 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Arbeiterkind-mit-Arbeiterkinder-Budget/!5715845 | |
[2] /Klassenfragen-und-Macht/!5741909 | |
[3] /Gender-Professorin-ueber-Ibrahimovic/!5514850 | |
[4] /Autorin-ueber-Schulreform/!5737885 | |
## AUTOREN | |
Timo Stukenberg | |
## TAGS | |
Klassismus | |
Herkunft | |
soziale Ungleichheit | |
Diskriminierung | |
Schwerpunkt Armut | |
GNS | |
IG | |
Chancengleichheit | |
Klassismus | |
Klassismus | |
Ehrenamt | |
Anti-Rassismus | |
Islamismus | |
Kolumne Nachsitzen | |
Schweden | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Berufseinstieg in Deutschland: Sprungbrett bricht weg | |
Die Berufseinstiegsbegleitung hat vielen benachteiligten Jugendlichen einen | |
Ausbildungsplatz verschafft. Wieso wird sie immer weniger angeboten? | |
Klassismus und Bildung: Mehr als nur Anerkennung | |
Klassismus auf Bildungsdiskriminierung zu reduzieren, ist realitätsfremd. | |
Die Debatte um Klassismus wird verengt und mit falschem Fokus geführt. | |
Rückkehr des Klassenbegriffs: Klasse ohne Kampf | |
Wer heute Klasse sagt, meint meist Klassismus. Von links gibt's Kritik: | |
Wenn die Zugehörigkeit zur Klasse nur angenehmer wird, schafft niemand sie | |
ab. | |
Berliner Freiwilligenmesse nur digital: Ehrenämter in 2-D | |
Die 14. Freiwilligenmesse startet am Samstag digital. Dabei ist die | |
Initiative Arbeiterkind.de, die sich gegen Klassismus im Bildungssystem | |
richtet. | |
Identitätspolitik und Cancel Culture: Kritische Verweigerung | |
Vom Elend des Mainstream-Universalismus und von exklusiver | |
Identitätspolitik. Was KritikerInnen nicht sehen wollen. | |
Autorin über Schulreform: „Unser System stärkt Ungleichheit“ | |
Melisa Erkurt über ein Bildungssystem, das Aufstieg verhindert – und warum | |
die Schule der einzige Ort ist, an dem sich Islamismus bekämpfen lässt. | |
Arbeiterkind mit Arbeiterkinder-Budget: Lernen, sich einen Raum zu nehmen | |
Wer mit wenig Geld aufwuchs, kriegt es kaum auf die Reihe: Forderungen zu | |
stellen. Für Bürgerkinder ganz selbstverständlich. | |
Gender-Professorin über Ibrahimovic: „Die Mittelschicht mag ihn nicht“ | |
Die schwedische Professorin Annika Olsson über die Rolle von Migranten in | |
der Nationalelf und warum Zlatan Ibrahimovic Privilegien infrage gestellt | |
hat. |