| # taz.de -- Berufseinstieg in Deutschland: Sprungbrett bricht weg | |
| > Die Berufseinstiegsbegleitung hat vielen benachteiligten Jugendlichen | |
| > einen Ausbildungsplatz verschafft. Wieso wird sie immer weniger | |
| > angeboten? | |
| Bild: Mal ausprobieren: Auf der Messe „Forum Berufsstart“ in Erfurt | |
| München taz | Bis zur achten Klasse läuft es für Mehmet Avcu nicht gut in | |
| der Schule, obwohl er sich selbst mehr zutraut. Mehmet, zu dem Zeitpunkt | |
| Schüler der Mittelschule in Markt Schwaben bei München, will nach der 9. | |
| Klasse direkt arbeiten und eine Ausbildung bei einem Unternehmen im | |
| Telekommunikationsbereich machen. Nur: Wie er das schaffen soll, weiß er | |
| nicht. „Meine Eltern konnten mir nicht so wirklich helfen, was das Thema | |
| Zukunft und Bewerbungen schreiben angeht“, erzählt Mehmet rückblickend. | |
| „Mein Vater ist vor 40 Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen und | |
| hat damals direkt eine Arbeit in einem Betrieb gefunden, in dem er bis | |
| jetzt arbeitet. So ist das heute aber nicht mehr.“ | |
| Ähnlich ist es bei Florian Neff, der die nahegelegene Mittelschule | |
| Unterschleißheim besucht. Schule ist nicht so sein Ding. Zwei Jahre lang | |
| verweigert er die Hausaufgaben, nachdem er recherchiert hat, dass | |
| Hausaufgaben im Vergleich zu anderen Lernmethoden nicht so effektiv seien. | |
| Der Schüler ist aber nicht gegen das Lernen an sich – Computer etwa | |
| begeistern ihn. Eine große Herausforderung ist für Florian jedoch der | |
| soziale Austausch mit anderen Menschen – er hat ADS, kann sich also schwer | |
| konzentrieren. Seine Mutter ist alleinerziehend, kümmert sich neben ihrer | |
| Arbeit noch um die Großeltern. Die Zeit und die Geduld, ihren Sohn in der | |
| Schule und bei der Suche nach einer Ausbildung zu unterstützen, hat sie | |
| nicht. | |
| Die Unterstützung, die Mehmet und Florian nicht vom Elternhaus bekommen, | |
| gleicht der bayerische Staat aus. Mit der [1][Berufseinstiegsbegleitung], | |
| kurz „BerEb“. Im Rahmen dieses Programms werden Jugendliche bis zu drei | |
| Jahre begleitet – von der achten Klasse bis zum zweiten Ausbildungsjahr. | |
| Damit hebt sich die BerEb von anderen Bildungs- und | |
| Berufsvorbereitungsprogrammen ab, die in den meisten Fällen mit dem | |
| Schulabschluss enden oder erst danach beginnen. Als Sozialarbeiterinnen das | |
| Programm in Mehmets und Florians Klasse vorstellten, waren die beiden | |
| sofort dabei. | |
| Seit 2012 ist die Berufseinstiegsbegleitung ein fester Bestandteil des | |
| [2][Sozialgesetzbuches]. Es richtet sich insbesondere an Schüler:innen, die | |
| aus schwierigen Verhältnissen kommen, deren Eltern sich nicht gut mit dem | |
| deutschen Bildungssystem auskennen oder die nur wenig Deutsch sprechen. | |
| Nach Angaben des [3][Evaluationsberichts aus dem Jahr 2015] wurden in der | |
| ersten Erprobungsphase zwischen 2009 und 2013 mehr als 55.000 Jugendliche | |
| bundesweit gefördert. Mit Erfolg: 30 Monate nach Ende ihrer Schulzeit | |
| befanden sich zwei Drittel von ihnen in einer Ausbildung. | |
| Eine wichtige Rolle spielt die BerEb auch bei der Senkung der | |
| Schulabbrecherquote. Denn nur ein Viertel der Jugendlichen ohne | |
| Schulabschluss findet einen Ausbildungsplatz, warnt der Nationale | |
| Bildungsbericht 2020. Bei denen, die zumindest die Mittlere Reife schaffen, | |
| sind es bereits über 80 Prozent. | |
| Auch Mehmet Avcu und Florian Neff haben beide von dem Programm profitiert: | |
| Mehmet hat über zwei Jahre regelmäßig mit seiner Begleiterin gelernt, seine | |
| Schulnoten verbessert und mit ihr Bewerbungsunterlagen erarbeitet, die er | |
| heute noch verwendet. Florian hat mit Hilfe seiner Betreuerin nach | |
| Ausbildungen gesucht, die ihn interessieren, Bewerbungsgespräche geübt und | |
| so Selbstbewusstsein getankt. Beide haben mittlerweile einen | |
| Ausbildungsplatz gefunden. Doch wie viele Schüler:innen künftig dank der | |
| BerEb den Einstieg ins Berufsleben schaffen, ist ungewiss. | |
| ## EU-Gelder weggebrochen | |
| Denn das Programm wird trotz der positiven Bilanz seit dem Jahr 2019 in | |
| immer weniger Bundesländern angeboten. In elf Bundesländern wird die BerEb | |
| gar nicht mehr gefördert, in Bayern war bis vor Kurzem unklar, ob sie | |
| fortgeführt wird. Grund für diese Entwicklung ist laut den Ländern die | |
| Einstellung der Mittel des Europäischen Sozialfonds (ESF). Über diese | |
| Mittel wurde die BerEb in allen Bundesländern zu 50 Prozent finanziert, die | |
| andere Hälfte übernahm die jeweilige Regionaldirektion der Bundesagentur | |
| für Arbeit. Seit dem Wegfall der ESF-Mittel im Jahr 2019 wären nun die | |
| Länder zur Hälfte für die Finanzierung verantwortlich. Auf Anfrage der taz | |
| nennen einige der Bildungs- und Kultusministerien alternative Programme, | |
| über die benachteiligte Schüler:innen beim Übergang von der Schule in | |
| den Beruf unterstützt würden. | |
| Brandenburg etwa verweist auf die „[4][Assistierte Ausbildung]“, allerdings | |
| begleitet das Programm Schüler:innen nur bis zum Ende des ersten | |
| Ausbildungsjahrs – bei der BerEb waren es bis zu 18 Monate nach | |
| Ausbildungsbeginn. Rheinland-Pfalz führt die „[5][Übergangscoaches]“ an, | |
| die direkt nach Förderende der BerEb die Aufgabe der | |
| Berufseinstiegsbegleiter:innen übernehmen, allerdings werden die | |
| Jugendlichen nicht mehr individuell, sondern in Gruppen betreut. In | |
| Sachsen-Anhalt gibt es die Initiativen „[6][Schulerfolg sichern]“ und das | |
| „[7][Regionale Übergangsmanagement Sachsen-Anhalt]“. Beide Programme werden | |
| aus ESF-Mitteln finanziert. Nordrhein-Westfalen ist eines der wenigen | |
| Länder, die das Programm nach dem Auslaufen der ESF-Mittel über | |
| Landesmittel weiterfinanziert und sogar ausgebaut hat. Die übrigen Länder | |
| scheinen sich das intensive Mentoringprogramm nicht leisten zu wollen. | |
| Das Förderende der BerEb in mehreren Bundesländern beurteilt Heidi | |
| Hirschfeld als einen großen Fehler: „Es ist hochproblematisch, die BerEb | |
| alternativlos einzustampfen“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin von der | |
| Hochschule für Soziale Arbeit im Schweizer Ort Muttenz. Eine Stärke des | |
| Programms sei gerade die intensive Begleitung, sagt Hirschfeld, die an der | |
| Evaluation der BerEb beteiligt war. Im Rahmen ihrer Dissertation hat sich | |
| Hirschfeld eingehend mit der Wirkung sozialpädagogischer Begleitung beim | |
| Übergang von der Schule in den Beruf beschäftigt. „Die Beziehungsarbeit | |
| ermöglicht es den Jugendlichen, die Hilfestellungen zur beruflichen | |
| Integration sowie im sozialen und privaten Bereich anzunehmen.“ | |
| Wie wichtig das Vertrauensverhältnis zu ihrer Begleitperson war, sagen auch | |
| die inzwischen 17-jährigen Mehmet Avcu und Florian Neff. „Sie war immer für | |
| mich da“, sagt Mehmet, „auch wenn es mir mal nicht so gut ging.“ Florian | |
| sagt, ihm habe geholfen, dass seine Betreuerin „keine Lehrerin ist, sondern | |
| eine außenstehende, neutrale Person, mit der ich auch so einfach gut reden | |
| konnte. Wir haben auch über andere Dinge gesprochen.“ | |
| ## Erfolge durch enge Kontakte | |
| Auch Frank Schiemann ist von dem Programm überzeugt. Der Geschäftsführer | |
| des Instituts für sozialökonomische Strukturanalyse in Berlin ist | |
| Mitverantwortlicher für die Evaluation. Neben dem intensiven Austausch über | |
| die Berufswahl trägt aus seiner Sicht vor allem die Kontinuität der | |
| Begleitung wesentlich zur positiven Wirkung der BerEb bei. „Auch in der | |
| Arbeitsmarktforschung ist es eine bewiesene Erkenntnis, dass je enger der | |
| Kontakt zu den Arbeitssuchenden ist, in dem Fall zu den Schüler:innen, | |
| desto größer sind die Erfolge.“ Schiemann hält die BerEb – bezogen auf | |
| aktuellen Entwicklungen – für relevanter denn je. Trotz des | |
| Fachkräftemangels und erleichterter Zugangsvoraussetzungen für Ausbildungen | |
| gebe es immer noch Jugendliche, die nach ihrem Schulabschluss arbeitslos | |
| würden. „Diese Jugendlichen haben noch weit größere Schwierigkeiten einen | |
| Ausbildungsplatz zu bekommen, als das in den 2010er Jahren der Fall war. | |
| Mentoringprogramme, wie die Berufseinstiegsbegleitung, sind daher noch | |
| wichtiger geworden.“ | |
| Allerdings könnte man das Programm noch optimieren, sagt die | |
| Erziehungswissenschaftlerin Heidi Hirschfeld. Dass der Fokus allein auf der | |
| Integration in die Ausbildung liege und beispielsweise ein angestrebter | |
| höherer Schulabschluss nicht unterstützt wird, ist ihr zu starr. Das | |
| schränke die soziale Mobilität ein und verfestige bestehende | |
| Ungleichheiten. „Das gegenwärtige Schulsystem ist durch eine hohe | |
| Bildungsungerechtigkeit und Chancenungleichheit geprägt“, sagt Hirschfeld. | |
| Hier biete die Berufseinstiegsbegleitung zumindest eine Art Ausgleich, | |
| indem die benachteiligten Jugendlichen Unterstützung über eine längere | |
| Zeitspanne erhielten. | |
| Wie wichtig diese Unterstützung sein kann, erzählt Mehmet. Auf die Hilfe | |
| seiner Begleiterin kommt er auch nach seinem Abschluss zurück. Weil er | |
| nicht direkt eine Ausbildungsstelle findet, beginnt er ein | |
| Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) – in der Hoffnung, seine Chance auf eine | |
| Ausbildung zu erhöhen. Das BVJ entspricht aber nicht seinen Erwartungen und | |
| er kontaktiert Kerstin Grillmeier. Mit ihrer Unterstützung bewirbt er sich | |
| während seines Berufsvorbereitungsjahrs bei mehreren Unternehmen. Noch | |
| bevor das BVJ endet, beginnt er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. | |
| ## In Bayern bleibt es erhalten | |
| Auch im Fall von Florian Neff hat die Betreuerin maßgeblichen Anteil an | |
| seinem Erfolg: Sie bestärkt ihn darin, sich um eine Ausbildungsstelle als | |
| Fachinformatiker zu bewerben. „Ich habe fünf Bewerbungen verschickt und | |
| dann eine Zusage für meine Wunschstelle in meinem Wohnort bekommen.“ Für | |
| Florians Mutter eine große Erleichterung: „Ich hätte es nicht geschafft, | |
| ihn so zu unterstützen und ohne Frau Tajtelbaum hätte er den Job | |
| wahrscheinlich jetzt nicht.“ | |
| Das Programm bleibt in Bayern – zumindest vorerst – erhalten. Nach langem | |
| Hin und Her und viel Protest aus der Opposition erklärte das | |
| Kultusministerium schließlich, dass die Finanzierung für das nächste | |
| Schuljahr übernommen werde. Claudia Köhler, Abgeordnete der Grünen im | |
| Bayerischen Landtag, die sich für eine weitere Finanzierung der BerEb in | |
| Bayern einsetzte, befürchtet allerdings, dass es wieder zu | |
| Finanzierungsdebatten kommen könnte. Denn bereits jetzt gab es Abstriche: | |
| Neue Schüler:innen werden erst ab Januar in das Programm aufgenommen. | |
| Die Jahre zuvor wurde ein Einstieg in das Programm bereits zum | |
| Schuljahresbeginn im September angeboten. | |
| 8 Jun 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.arbeitsagentur.de/bildung/ausbildung/berufseinstiegsbegleitung | |
| [2] https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbiii/49.html | |
| [3] https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Forschungsbericht… | |
| [4] https://lasv.brandenburg.de/lasv/de/soziales/berufliche-bildung/assistierte… | |
| [5] https://berufsorientierung.bildung-rp.de/lehrkraefte/uebergangscoach.html | |
| [6] https://www.schulerfolg-sichern.de/programm/informationen-zum-download.html | |
| [7] https://ruemsa.sachsen-anhalt.de/ruemsa-im-ueberblick/was-ist-ruemsa/ | |
| ## AUTOREN | |
| Sara Rahnenführer | |
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