# taz.de -- Autogerechte Infrastruktur: Verteilungskampf an der Kreuzung | |
> Mit der Rekommunalisierung des Ampelmanagements will der Berliner Senat | |
> die Verkehrswende beschleunigen. Die Zivilgesellschaft ist skeptisch. | |
Der [1][tragische Tod einer Radfahrerin], die von einem Betonmischer | |
überfahren wurde, sorgte Ende Oktober für hitzige Diskussionen. Viel wurde | |
darüber gestritten, ob ihr Tod nicht durch das schnellere Eintreffen eines | |
Rettungswagens hätte vermieden werden können. Deutlich weniger diskutiert | |
wurde hingegen darüber, wie es überhaupt zu dem Unfall kam. Denn statt den | |
Radweg zu benutzen, fuhr die 44-Jährige auf einer schwer einsehbaren | |
Autospur. Wahrscheinlich, um eine Fußgängerampel zu vermeiden, an der sie | |
zwei Ampelphasen lang hätte warten müssen, um die Fahrbahn zu überqueren. | |
Eigentlich sollten solche autogerechten Ampelschaltungen laut dem | |
Mobilitätsgesetz längst passé sein: Vorrang und längere Ampelphasen für | |
ÖPNV, Fußgänger:innen und Radfahrer:innen sind in dem 2018 | |
beschlossenen Gesetz festgeschrieben. Um die Vorgaben schneller zu | |
erfüllen, rekommunalisiert der Senat zu Jahresbeginn das Ampelmanagement. | |
Ab dem 1. Januar wird sich das neu gegründete landeseigene Unternehmen | |
InfraSignal um Betrieb, Installierung und Anpassung der über 2.000 | |
Ampelanlagen in Berlin kümmern. | |
„Mit Ampelschaltungen kann ich einen unglaublichen Beitrag zu | |
Verkehrssicherheit und Verkehrswende leisten“, begrüßt Antje Kapek, | |
Sprecherin der Grünen für Verkehrspolitik, den Schritt des Senats. So | |
ließen sich viele [2][tödliche Abbiegeunfälle] durch getrennte | |
Ampelschaltungen für Rechtsabbiegende und Radfahrende vermeiden. | |
An dem technischen Ampelmanagement wird sich jedoch zunächst nichts ändern. | |
Doch der Senat hofft auf mehr Tempo bei der Optimierung der Ampelanlagen | |
zugunsten des ÖPNV-, Fuß- und Radverkehrs. Da der Vertrag mit dem | |
niederländischen Unternehmen Alliander, auf das das Ampelmanagement 2006 | |
ausgelagert wurde, diese Aufgaben nicht vorsah, kam es zu einem riesigen | |
Bearbeitungsstau, da viele der neuen Aufgaben erst aufwändig abgestimmt | |
werden mussten. | |
## Positives Signal | |
„Der entscheidende Vorteil ist, dass künftig ohne größeren Aufschub | |
Vertragsanpassungen erfolgen können, die bislang aufgrund | |
vergaberechtlicher Randbedingungen nicht möglich waren“, sagt Jan Thomsen, | |
Sprecher der Senatsverwaltung für Mobilität und Verkehr, der taz. | |
Auch die Verkehrswende-Bewegung sieht in der Rekommunalisierung der Ampeln | |
ein positives Signal. Kritik gibt es allerdings daran, dass der | |
motorisierte Verkehr weiterhin bevorzugt werde. „Regelwerke, Gesetze, | |
Verordnungen und das Denkmuster der Handelnden waren bislang darauf | |
ausgerichtet, die Leistungsfähigkeit des Kfz-Verkehrs zu optimieren“, so | |
Ragnhild Sørensen, Sprecherin des Lobbyverbands Changing Cities, zur taz. | |
Wie tief die autogerechte Stadt im Verwaltungshandeln verankert ist, zeigen | |
die gesetzlichen Vorgaben, nach denen die Dauer der Ampelphasen bestimmt | |
wird. Diese werden bundesweit vom Bundesverkehrsministerium in der | |
Richtlinie für Lichtsignalanlagen festgelegt. Wie lange eine Ampel auf Grün | |
steht, ergibt sich aus einer komplexen Formel, die in der Richtlinie | |
vorgegeben ist. | |
„Die Zielrichtung der Formel ist eine möglichst geringe Wartezeit für | |
Kraftfahrzeuge“, erklärt Roland Hauschulz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter | |
im Fachgebiet Straßenplanung und Straßenbetrieb an der Technischen | |
Universität Berlin. Die einzige variable Eingangsgröße für die Formel sei | |
die Kfz-Verkehrsmenge. Je nach dem, wie viele Autos auf einer Straße | |
durchschnittlich verkehren, ergibt sich eine Mindestgrünzeit, an der nicht | |
gerüttelt werden könne. | |
## Für Fußgänger:innen nur das Minimum | |
Nach der Berechnung der Grünzeiten für den Autoverkehr werde die Restzeit | |
auf den Rad- und Fußverkehr aufgeteilt. „In der Praxis kann dabei oft nur | |
die Mindestdauer eingehalten werden“, sagt Hauschulz. Im Gegensatz zum | |
Autoverkehr richtet sich diese nicht nach der Menge der Fußgänger:innen | |
und Radfahrer:innen. Maßgeblich ist vielmehr die Strecke, die die | |
Verkehrsteilnehmer:innen zurücklegen müssen. | |
Dabei wird für Fußgänger:innen in der Regel eine Geschwindigkeit von | |
1,2 Meter pro Sekunde angenommen. Das entspricht 4,3 Kilometern pro Stunde | |
– eine recht sportliche Geschwindigkeit, insbesondere für Alte, | |
Gehbehinderte und Kinder. Zwar hat die Senatsverwaltung die Geschwindigkeit | |
auf einen Meter pro Sekunde gesenkt, das Grundprinzip bleibt aber das | |
Gleiche. | |
Theoretisch lassen sich laut dem Verkehrsexperten längere Grünphasen für | |
Fuß- und Radverkehr umsetzen, indem für möglichst viele | |
Verkehrsteilnehmer:innen einzelne Ampelphasen geschaltet werden – | |
Busse, Passant:innen, Radfahrer:innen, geradeaus fahrende Autos, | |
rechtsabbiegende Autos und so weiter. | |
Doch je kleinteiliger die Schaltung und je länger die Grünzeiten, desto | |
größer ist die Wartezeit für alle anderen Verkehrsteilnehmer:innen. Dauert | |
der gesamte Ampelzyklus zu lange, steige wiederum das Verkehrsrisiko, weil | |
dann mehr Menschen über Rot laufen. „Ampelschaltungen sind immer eine | |
politische Entscheidung, die nicht von Politiker:innen, sondern Leuten der | |
Fachplanung getroffen werden müssen“, fasst Hauschulz zusammen. Irgendwer | |
müsse immer benachteiligt werden. | |
Die Umweltorganisation BUND ist skeptisch, dass angesichts dieser | |
Herausforderungen die Rekommunalisierung des Ampelmanagements viel bewegen | |
wird: „Wir bezweifeln angesichts der bisherigen Erfahrungen, dass es | |
schnelle Fortschritte geben wird“, sagt Nicolas Šustr, Sprecher des BUND | |
Berlin, zur taz. | |
29 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jonas Wahmkow | |
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