| # taz.de -- Auschwitz-Prozess in Detmold: Er bereue zutiefst | |
| > Im wohl letzten NS-Prozess bricht ein früherer SS-Mann sein Schweigen. | |
| > Beihilfe zum Mord an 170.000 Menschen, so lautet die Anklage. | |
| Bild: Der Angeklagte ehemalige SS-Wachmann Reinhold Hanning | |
| Reinhold Hanning wird, im Rollstuhl sitzend, von einem Justizbediensteten | |
| in den Saal gebracht. Der Kopf des 94-Jährigen Angeklagten ist gesenkt. | |
| Hanning ist der Beihilfe zum Mord angeklagt, begangen zu seiner Zeit als | |
| SS-Wachmann 1943 und 1944 in Auschwitz. | |
| Im Gerichtssaal hat auch Leon Schwarzbaum Platz genommen. Der 94-Jährige | |
| hat Auschwitz als jüdischer Häftling überlebt. Im Februar, zu Beginn des | |
| Verfahrens vor dem Landgericht Detmold, hat er Zeugnis abgelegt, von dem, | |
| was er dort erleben musste. Er hat von einem Pritschenwagen berichtet, die | |
| Ladefläche voll mit nackten, weinenden und schreienden Menschen, die ihre | |
| Arme erhoben hatten. Der Lastwagen war auf dem Weg zu den Gaskammern. | |
| Schwarzbaum hat den Angeklagten beschworen, sich zu äußern. Sie beide | |
| stünden schließlich bald vor dem höchsten Richter. | |
| Hanning hat dazu nichts gesagt. Er hat auch geschwiegen, als Justin Sonder, | |
| 90, berichtete, wie in Auschwitz ein Jungen am Galgen erhängt wurde, weil | |
| er ein Stück Brot gestohlen haben soll, und dass dessen letztes Wort „Mama“ | |
| gewesen sei. Er hat nichts gesagt, als Imre Lebowitz, 87, erzählte, dass 70 | |
| seiner 80 Familienangehörigen in Auschwitz ermordet worden sind. Zwölf | |
| Verhandlungstage lang saß Hanning nur da. Aber jetzt will er sprechen. Was | |
| Schwarzbaum von diesem Freitag erwartet? „Er soll die Wahrheit sagen. Das | |
| ist mir wichtiger, als dass er verurteilt wird.“ | |
| Und Hanning spricht. Nach einer langen Erklärung seines Anwalts Johannes | |
| Salmen, einer Art Lebenslauf, sagt er, von einem Zettel ablesend, leise, | |
| den Kopf leicht angehoben: „Ich bereue zutiefst, dass ich einer | |
| verbrecherischen Organisation angehört habe. Ich schäme mich dafür, dass | |
| ich das Unrecht habe geschehen lassen. Ich entschuldige mich in aller | |
| Form.“ | |
| ## Die Richterin bedankt sich | |
| Man meint, das Gericht, die fast 200 Zuschauer, alle seien erstarrt. Einige | |
| Sekunden lang geschieht nichts. Dann bedankt sich Richterin Anke Gudda bei | |
| dem Angeklagten dafür, dass er Verantwortung übernehme. Sie kündigt an, | |
| dass sich das Verfahren nun beschleunigen lassen könnte, falls eine weitere | |
| Beweisaufnahme nicht mehr erforderlich sei. | |
| Diese Entschuldigung: Ist es das, was sich Schwarzbaum gewünscht hat? Er | |
| schüttelt den Kopf. „Es mag sein, dass er ein anderer Mensch geworden ist. | |
| Aber er hat nichts zu den Toten gesagt. Er will die Grausamkeiten nicht | |
| gesehen haben. Das ist mir nicht genug.“ Sein Anwalt Thomas Walther meint: | |
| „Der Tod hat in diesem Bericht nicht stattgefunden.“ | |
| Es ist nämlich so: Mehr als ein Dutzend sehr alte Menschen sind in Detmold | |
| als Zeugen aufgetreten. Die Überlebenden legten Zeugnis ab vom Schrecken | |
| des Lagers, vom Hunger, vom Fehlen medizinischer Versorgung, von dem Dreck, | |
| dem Frieren, der Angst. Und dem Tod. Viele berichteten, dass sie bis heute | |
| von Albträumen über Auschwitz geplagt würden. | |
| Man hätte gerne gewusst, wie es dem früheren SS-Unterscharführer Hanning so | |
| erging nach dem Krieg, als er in seinem Dorf die Milch ausfuhr. Doch so | |
| ausführlich die persönliche Erklärung ausfällt, so dünn sind darin die | |
| Spuren eines persönlichen Schuldeingeständnisses. | |
| ## Die Auschwitz-Äußerungen sind unpräzise | |
| Seine Stiefmutter sei es gewesen, die seinen freiwilligen Eintritt in die | |
| Waffen-SS 1940 in Detmold ohne sein Zutun in die Wege geleitet habe. Danach | |
| sei er in Graz ausgebildet worden, sei in Serbien im Kampfeinsatz gewesen, | |
| bis ihn bei Kiew ein russischer Granatsplitter ins Lazarett und von dort | |
| weiter nach Auschwitz gebracht habe. Dort habe ihm die soldatische | |
| Kameradschaft gefehlt: „Hier habe ich so gut wie niemandem getraut.“ | |
| Zweimal habe er um seine Versetzung an die Front ersucht, ohne Ergebnis. | |
| Ganz im Gegensatz zu den Schilderungen der Überlebenden bleiben seine | |
| Äußerungen über Auschwitz unpräzise. Hanning gibt zu, Wachdienste auf den | |
| Türmen an der Grenze des Lagers verrichtet zu haben. Er habe auch Häftlinge | |
| bei ihren Zwangsarbeitseinsätzen außerhalb des Lagers als Wachmann | |
| begleitet. Aber niemals habe es einen Fluchtversuch gegeben. Hanning sagt | |
| dabei aber nicht, dass er nicht geschossen habe. Er habe versucht, nicht | |
| zum Dienst an der Rampe eingeteilt zu werden, dorthin, wo die eintreffenden | |
| Juden nach „arbeitsfähig“ und „nicht arbeitsfähig“, für ein kurzes L… | |
| als Sklave oder einen schnellen Tod in der Gaskammer, selektiert wurden. | |
| Aber er vermeidet eine Aussage, ob er dort nicht trotzdem eingeteilt worden | |
| ist. Und kein Wort zu den Toten. | |
| Aber vielleicht wäre das alles zu viel verlangt von einem 94-jährigen Mann. | |
| Vielleicht kann Reinhold Hanning die Ansprüche des gleichaltrigen Leon | |
| Schwarzbaum nicht erfüllen. | |
| Konkret wird die Erklärung Hannings immer dann, wenn er Häftlingen geholfen | |
| haben will. Er erinnere sich an einen Mann in Sträflingskleidung, der ein | |
| Fahrzeug reparieren musste. Im Gespräch habe sich herausgestellt, dass der | |
| Mann aus Bielefeld stammte, ganz in der Nähe seines Heimatdorfes | |
| Billinghausen. Nach mehrfacher Bitte habe er, Hanning, trotz drohender | |
| Strafen, einen Brief des Häftlings an seine Frau an sich genommen und in | |
| Bielefeld abgegeben. Will sich da ein ehemaliger SS-Mann in Auschwitz fast | |
| schon zum Widerstandskämpfer stilisieren? | |
| ## „Man erfuhr, dass Züge ankamen“ | |
| Immerhin: An diesem Freitag hat ein SS-Mann gestanden, dabei gewesen zu | |
| sein. Er hat auch nicht, wie in vielen früheren Fällen, behauptet, von dem | |
| Morden nichts mitbekommen zu haben. „Man erfuhr natürlich, dass Züge mit | |
| Güterwaggons in Auschwitz ankamen, die vollgestopft mit Menschen waren. | |
| Woher die Züge im Einzelnen kamen, wurde uns nicht gesagt. Uns war aber | |
| schon bekannt, dass ein Großteil der Leute, die mit den Zügen ankamen, | |
| getötet wurden.“ Für die Frage seiner Schuld der Beihilfe zum Mord ist es | |
| von geringerer Bedeutung, ob Hanning selbst einen Schuss abgegeben hat. Die | |
| Anklage geht davon aus, dass schon seine Anwesenheit in Auschwitz für einen | |
| Schuldspruch ausreicht, weil alle, die damals im Dienst der SS dort tätig | |
| waren, dafür sorgten, dass diese Mordfabrik weiterarbeiten konnte. | |
| Beihilfe zum Mord an mindestens 170.000 Menschen, so lautet die Anklage | |
| gegen Hanning. Richterin Gudda hat am Vortag aus Dokumenten die Transporte | |
| und die Zahl ihrer Insassen verlesen, die im Anklagezeitraum von Januar | |
| 1943 bis Juni 1944 Auschwitz erreichten: Ausgangsbahnhof, Ankunftstag, | |
| soundso viele Menschen als arbeitsfähig selektiert, soundso viele vergast. | |
| Sie liest „Bialystok, 170 selektiert, 1.830 vergast, Westerbork, 179 | |
| selektiert, 1.005 vergast, Drancy 168, 832 vergast, Drancy 196, 802 | |
| vergast, Sosnowitz, niemand selektiert, alle 1.000 vergast“. | |
| „Thessaloniki“, „vergast“, „vergast, vergast, vergast“. So geht das… | |
| gute 25 Minuten. Gudda bemüht sich, ihre Stimme nicht ins Monotone abfallen | |
| zu lassen, und es wird immer unfassbarer, was dort in Auschwitz geschehen | |
| ist. | |
| Daran hat Reinhold Hannings Erklärung nichts, aber auch gar nichts | |
| geändert. | |
| 29 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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