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# taz.de -- Die vergessenen Juden von Thessaloniki: Überall Schatten
> Thessaloniki nannte man einst Jerusalem des Balkan. Dann kamen die Nazis.
> Die Erinnerungen sind erloschen, die Stadt will griechisch sein.
Bild: Judenstern, der 2003 in einer Ausstellung über Thessalonikis Juden in de…
Nein, das ist nicht die Stadt, in der ich das Licht erblickte / Nein, das
sind nicht die Menschen, die ich in meiner Kindheit kannte /.Nein, das ist
nicht die Sonne, die früher schien / Das ist auch nicht der Himmel, der
mich verzauberte
Und ich glaube, auf einem anderen Planeten zu leben / Wo ich mit jedem
Schritt fühle, als ob ich sähe / Schatten, die in unendlicher Zahl
paradieren / Und ihr Anblick bewegt mich entsetzlich
Unter ihnen glaube ich bekannte Figuren zu sehen / Von den Alten, meinen
Brüdern, zahllosen Freunden / Unter ihnen sind tausend unschuldige Kinder/
Reine Lichter, die die Bestien nicht zögerten auszulöschen
(„Saloniki“ von Shlomo Reubens, August 1966, aus dem Ladino)
An der vierspurigen Uferpromenade in Thessaloniki, wo ein ständiger Strom
lärmender Autos das Zentrum erreicht, steht ein siebenarmiger Leuchter. Die
Menora ist aus Bronze gegossen, über zwei Meter hoch, ihre Flammen sind
wild, und sie verschmelzen mit den menschlichen Figuren, die in ihnen
verbrennen. Es ist eine Statue, deren Anblick schmerzt, wenn man sie länger
betrachtet.
Hier, am Rande des Eleftherias-Platzes, begannen früher die jüdisch
geprägten Stadtviertel Tophane und Salhane. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts
hat man hier prächtig verzierte Gebäude errichtet, das Kaufhaus Stein
öffnete seine Türen, Cafés und Theater waren um den Platz gruppiert. Manche
der Gebäude gibt es noch, eingezwängt zwischen profanen Betonbauten. Der
Plateia Eleftherias ist heute ein großer Parkplatz.
Am 9. Juli 1942 um acht Uhr morgens mussten sich auf Befehl der deutschen
Besatzer alle jüdischen Männer zwischen 16 und 45 Jahren – zusammen etwa
9.000 Menschen – auf der Plateia Eleftheria versammeln. Es dauerte lange,
bis sie, die in langen Reihen anstanden, registriert waren.
Manche der Männer wurden zu gymnastischen Übungen gezwungen, allen war die
Einnahme von Getränken und das Tragen von Hüten verboten, und viele fielen
in der Hitze des griechischen Sommers in Ohnmacht. Rundherum standen
griechische Bewohner der Stadt. Sie glotzten. Am nächsten Tag hieß es in
der Zeitung Apoyevmatini, diese Juden seien „Parasiten“, die nun endlich
dazu gebracht würden, richtig zu arbeiten.
Es war der Anfang vom Ende der großartigen jüdischen Geschichte
Thessalonikis.
## Die Angst der Verbliebenen
73 Jahre später sitzt David Saltiel im Konferenzraum des jüdischen
Gemeindezentrums. Saltiel, 1931 geboren, groß, kräftig und mit einem
gewaltigen grauen Schnurrbart ausgestattet, ist Rabbiner und seit 16 Jahren
Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Thessalonikis.
Er erzählt, dass es in der Stadt noch etwa 1.500 Juden gebe. Sie sind sehr
ängstlich. Juden und Muslime werden in Griechenland als Fremdkörper
wahrgenommen. Vor vielen Jahren, als er Militärdienst leistete, habe ihn
ein Offizier gefragt, warum er als Jude nicht in Israel lebe, erzählt
Saltiel. „Meine Antwort lautete: Ich bin Grieche!“
Heute litten die Juden ebenso wie alle anderen Bewohner Thessalonikis unter
der wirtschaftlichen Depression. „Das Land geht durch schwierige Zeiten“,
sagt Saltiel dazu nur. Und schwierige Zeiten sind gute Zeiten für
Nationalisten. Zwar sind die Anhänger der rechtsradikalen Partei Goldene
Morgenröte noch nicht gezielt gegen Juden vorgegangen, aber vielleicht ist
das nur eine Frage der Zeit. „Wir kämpfen gegen sie. Anfangs dachte ich,
das sei ein vorübergehendes Phänomen. Aber das war leider nicht richtig.“
Der Staat und die Stadt unterstützen die Juden finanziell nicht. Dabei
müsse die Monastiriótes-Synagoge dringend renoviert werden, sagt Saltiel.
Er hofft auf Hilfe vom deutschen Generalkonsulat.
## Die Synagoge
Die Synagoge steht am Rande des Zentrums, in der Syngroú-Straße. Es ist
eine ruhige Gegend, ein paar Kaffeehäuser warten auf Besucher. 1943 befand
sich hier ein jüdisches Getto, eingerichtet auf Befehl von Alois Brunner
und Dieter Wisliceny, die im Auftrag von Adolf Eichmann die „Endlösung der
Judenfrage“ in Thessaloniki in die Tat umsetzten.
Die Monastiriótes-Synagoge wurde von den Nazis nur deshalb nicht zerstört,
weil das Rote Kreuz sie als Lager benutzte. Drinnen stehen immer noch die
alten Kinostühle, die nach dem Krieg als provisorische Sitzgelegenheiten
eingebaut waren.
Die siebenarmige Menora ist die einzige Erinnerung an das ehemalige Getto,
und auch sie stand zunächst versteckt in einem Vorort, bevor man sie am
zentralen Eleftheria-Platz installierte. Ja, es gibt noch eine Plakette am
alten Güterbahnhof, dort, wo die Güterwagen voller Menschen nach Auschwitz
abfuhren, und neuerdings ein Mahnmal an der Universität. Aber das ist
alles.
## Eine griechische Stadt
Thessaloniki ist griechisch, das verspricht auch die Ausstellung zur
Stadtgeschichte im Weißen Turm an der Seepromenade, einem der Wahrzeichen
der Stadt, das einst von den Osmanen erbaut wurde. Es scheint, als wolle
die Stadt die Erinnerung an ihre früheren Einwohner tilgen, als solle
nichts mehr daran erinnern, dass dieses wunderbare Thessaloniki über
Jahrhunderte keine griechische, sondern eine jüdische, muslimische und
christliche Stadt – in dieser Reihenfolge – gewesen ist. Schon vor Jahren
hat man versprochen, an der Universität einen Lehrstuhl für jüdische
Geschichte einzurichten. Es ist bei dem Versprechen geblieben.
Dort, wo heute die Aristoteles-Universität steht, befand sich einmal der
jüdische Friedhof, einer der größten weltweit, mit hunderttausenden
Gräbern, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreichten. Nichts ist zwischen
den Universitätsgebäuden von den Grabstätten geblieben.
Hier geht die Geschichte von den 9.000 Juden weiter, die 1942 auf dem
Eleftheria-Platz zur Zwangsarbeit abgeführt wurden. Denn die jüdische
Gemeinde unternahm alles, um diese Menschen wieder freizubekommen. Max
Merten, Chef der Wehrmachtsverwaltung, verlangte 3,5 Millionen Drachmen.
Das konnten die Juden nicht aufbringen, also nahmen die Deutschen 2,5
Milliarden und beschlagnahmten zusätzlich auf freundschaftlichen Rat des
griechischen Gouverneurs Vasilis Simonidis das Friedhofsgelände, auf das
die Stadt schon lange ein Auge geworfen hatte. Aus Grabsteinen wurde
Baumaterial. Bis heute finden sich immer wieder Grabsteine in der Stadt –
etwa wenn man beim Renovieren den Putz eines Hauses entfernt.
Nach dem Krieg blieb das Gelände wie selbstverständlich im Besitz der
Stadt. Eine Entschädigung hat damals niemand bezahlt, weder die Griechen
noch die Deutschen. Erst 2010 bequemte sich die Athener Regierung zur
Zahlung von rund zehn Millionen Euro. Eine Schadenersatzklage gegen
Deutschland ist noch immer nicht entschieden. Es sieht nicht gut aus.
Einige der Grabsteine stehen heute im Erdgeschoss des kleinen Jüdischen
Museums, das die Gemeinde aus eigenen Mitteln unterhält. Erika Perahia
Zemour, eine kleine, schwarzhaarige Frau, kennt ihre Geschichten, sie weiß
um jeden einzelnen Stein.
## Vertrieben aus Spanien
Doch aus den hebräischen Buchstaben, die in die Steine gemeißelt sind, kann
auch sie nur mit Schwierigkeiten einen Sinn herauslesen. Denn sie sind in
Ladino verfasst, einer Sprache, die auf das Spanische zurückgeht. Von dort
sind die Juden Thessalonikis einst im 15. Jahrhundert gekommen, vertrieben
von den christlichen Herrschern Ferdinand und Isabella und willkommen
geheißen von den muslimischen Osmanen aus Konstantinopel.
20.000 Sepharden – spanische Juden – sollen es gewesen sein, denen der
Sultan eine neue Existenz in der damals menschenleeren Stadt anbot. Und die
Juden blieben. Sie sprachen weiter Ladino, und auch die Muslime und
Christen Thessalonikis verstanden Ladino und konnten sich mit den Juden
verständigen. „Meine Eltern stammen aus der ersten Generation, die
Griechisch sprach“, sagt Erika Perahia Zemour.
Schon im 16. Jahrhundert bildeten die Juden neben Christlich-Orthodoxen und
Muslimen in Thessaloniki die Mehrheit der Stadtbevölkerung. Thessaloniki
entwickelte sich zu einem internationalen Handelszentrum, mit Routen in den
Balkan, zur Adria und bis in den Jemen, nach Persien und Indien.
Die Stadt blühte, und die Sepharden engagierten sich keineswegs nur im
Handel – sie betrieben Schlachthäuser und eröffneten Läden, gründeten die
ersten Druckereien, arbeiteten als Fischer und im expandierenden Hafen und
stellten die Uniformen für die Elitetruppe des Sultans, die Janitscharen,
her.
Die jüdische Oberschicht stellte ihren Luxus derart zur Schau, dass das
Rabbinat im Jahre 1554 anordnete, dass „Frauen außerhalb ihres Hauses, ob
auf den Märkten oder in den Straßen, keinen silbernen oder goldenen
Schmuck, Ringe, Ketten oder Edelsteine tragen dürfen außer einem
Fingerring“.
## „Mutter Israels“
Die Rabbiner waren es auch, die eigene Gerichte betrieben, wo die Juden
Konflikte innerhalb ihrer Gemeinschaft bereinigen konnten, denn das
Osmanische Reich dachte gar nicht daran, sich in die internen
Angelegenheiten von Juden oder Christen einzumischen. Aus keiner Stadt
außer Konstantinopel flossen so reiche Steuereinnahmen in die Börse des
Sultans wie aus Thessaloniki, der „Mutter Israels“, wie die Bewohner ihre
Heimat nannten.
Im Winter des Jahres 1644 tauchte in Konstantinopel ein Mann namens
Schabbatai Zwi auf, der nichts weniger verkündete, als dass er der lange
erwartete Messias der Juden sei. Er trug silberne und goldene Kleider und
stützte sich auf ein Zepter.
Der Messias! Die jüdische Welt geriet in Aufregung, die wachsende Schar
seiner Anhänger war verzückt, viele Rabbiner empört. Schabbatai Zwi kam
auch nach Thessaloniki, er spaltete die Gemeinde und wurde schließlich
ausgewiesen. Der Sultan ließ den angeblichen Messias verhören und zwang
ihn, zum Islam zu konvertieren.
Das war nicht das Ende einer religiösen Bewegung, sondern deren Beginn.
Wollte Schabbatai Zwi die Gläubigen nicht in Wahrheit prüfen?,
argumentierten seine Anhänger. Und so folgten ihm hunderte Juden zum Islam.
Eine Sekte entstand, die sich Ma’min nannte und von den Muslimen als Dönme
bezeichnet wurde. Eines ihrer Zentren wurde Thessaloniki.
## An Sonnabenden löscht kein Dampfer seine Ladung
Eisenbahnzüge aus Mitteleuropa, eine dampfbetriebene Getreidemühle, der
expandierende Hafen voller Schiffe: Fotos von Thessaloniki an der Schwelle
zum 20. Jahrhundert vermitteln das Bild einer rasant wachsenden Metropole
am Rande des Osmanischen Reichs.
Besucher von damals gaben sich erstaunt ob der Eindrücke, die sie hier
vorfanden: „Ich sah etwas Außergewöhnliches, was ich noch nie sah. Eine
jüdische Stadt, eine jüdische Arbeiterstadt“, notierte der junge David
Ben-Gurion, später erster Premierminister Israels, während seines Besuchs
im Jahr 1911.
Der jüdische Anwalt E. N. Adler, der 1898 anlässlich einer Reise zu den
Juden im Orient auch Thessaloniki einen Besuch abstattete, schrieb: „Mehr
als die Hälfte der zirka 130.000 Einwohner von Saloniki sind Juden, und
drei Viertel des gesamten Handels ist in ihren Händen. Alle Bootsleute des
Hafens sind Juden, und an den Sonnabenden können die Dampfer weder einladen
noch ihre Ladung löschen. Träger und Schuhmacher, Maurer und
Seidenarbeiter, alle sind sie Juden.“
Dutzende jüdische Tageszeitungen wetteiferten in der liberalen Stadt um
Leser, darunter gleich zwei linke Blätter. Und auch die Ma’min, jene
Nachfahren der Anhänger Schabbatai Zwis, spielten neben Juden, Muslimen und
Christen eine wichtige intellektuelle Rolle.
## Eine untergegangene Stadt
Wenn der Historiker Evangelos Chekimoglou in seinem schummrigen Büro im
ersten Stock des Jüdischen Museums Pläne auf seinem Schreibtisch
ausbreitet, sieht man, wie sich Thessaloniki verändert hat. Es sind
Zeichnungen mit dem Straßenverlauf der modernen City und Pläne des alten
Thessaloniki voller gewundener Gassen, Höfe und Hinterhäuser.
Der 62-jährige Kurator des Museums erforscht eine untergegangene Stadt. Er
deutet auf längst verschwundene Bethäuser und Synagogen und sagt, damals
habe es wohl Hunderte solcher Einrichtungen gegeben. „Vor hundert Jahren
hatte jeder Platz in Thessaloniki auch einen jüdischen Namen.“
Draußen, auf dem weitläufigen Aristotelous-Platz, der sich zur
Meerespromenade öffnet und von Prachtbauten aus den Zwanziger Jahren
umgeben ist, entsteht für den Besucher der Eindruck, als sei dies ein
organisch gewachsenes Zentrum. Doch wer die Stadt erwandert, wundert sich
bald über das schachbrettartige Muster seiner Straßen.
Ja, Thessaloniki ist eine griechische Stadt, laut und schmutzig von den
tausenden Autos, überfüllt von Passanten, unregelmäßig schwankend in seiner
Bebauung zwischen Betonkästen, Resten von Jugendstilelementen und
dazwischen eingestreuten orthodoxen Kirchen, heiß und brüllend, quirlig,
abschreckend hässlich und wunderbar schön. Aber alt?
## Stadtbrand als Schlag gegen die Juden
Der 18. August 1917 war ein heißer Tag gewesen, mit starken Nordwinden, so
schreibt es der Historiker Mark Mazower in seinem Buch über Thessaloniki.
Am Nachmittag haben die Menschen einen feinen Rauchgeruch in der Nase.
Einige der Holzhäuser der Stadt waren in Brand geraten, so wie das fast
regelmäßig geschah. Die Feuerwehr rückte aus, behindert von den schmalen
Gassen, den vielen Menschen, bepackten Eseln und Leiterkarren. Sie hatte
keine Chance.
Das, was als kleiner Brand begonnen hatte, breitete sich immer weiter aus,
fraß sich durch die Hinterhöfe, übersprang die Gassen und machte aus dem
Zentrum eine Todeszone. Am Ende, nach mehreren Tagen, als man den Fuß
wieder in die betroffenen Gebiete zu setzen wagte, war mehr als die Hälfte
der Stadt niedergebrannt und restlos vernichtet. Ganz besonders aber traf
es die Viertel, in denen besonders viele Juden gelebt hatten und die nun
mit ihren wenigen geretteten Habseligkeiten an der Peripherie und ohne
Obdach gestrandet waren.
Für den Kurator Chekimoglou vom Jüdischen Museum markiert der Stadtbrand
von 1917 den ersten von vielen vernichtenden Schlägen gegen die Juden
Thessalonikis. Aus einer Naturkatastrophe entwickelte sich ein von Menschen
gemachtes Desaster.
Die Regierung Griechenlands, wozu seit 1912 auch Thessaloniki gehörte,
enteignete die Besitzer der Grundstücke, die Betroffenen – nicht zufällig
in ihrer großen Mehrheit Juden – erhielten nur kleine Entschädigungen und
waren dazu gezwungen, an den Rand der Stadt in Elendssiedlungen umzuziehen.
Die ersten Juden wanderten aus. „Es war der erste Schritt, die Juden
Thessalonikis zu vergessen“, sagt Chekimoglou.
## Bevölkerungsaustausch als nächster Schlag
1923 der nächste Schlag. Griechenland hatte den Krieg gegen die Türkei
verloren und einem Bevölkerungsaustausch zugestimmt, nach dem alle
griechischen Bewohner Kleinasiens nach Hellas umgesiedelt wurden und die
Muslime dafür Griechenland verlassen sollten – eine völkerrechtlich
legitimierte ethnische Säuberung. Rund 100.000 griechische Flüchtlinge
erreichten Thessaloniki.
Sie kannten die Stadt nicht, sie wussten nichts von ihrer jüdischen
Geschichte. Ein erbitterter Konkurrenzkampf entstand, in dem die
griechische Seite die Oberhand gewann. Der Sabbat als Feiertag für
Thessaloniki wurde 1924 abgeschafft. 1926 riefen rechtsradikale Griechen
zum Boykott jüdischer Geschäfte auf. Noch mehr verarmte Juden verließen
ihre Stadt, deren ethnische Zusammensetzung ins Wanken geriet. Nun waren
die Griechen in der Mehrheit.
Der Nationalismus begann in Thessaloniki heimisch zu werden. Als das
höchste Ziel seiner Anhänger gilt die homogene, ethnisch reine Nation in
sicheren Mauern. So hatten Muslime in Griechenland nichts zu suchen und
Griechen nichts in der Türkei. So begriffen griechische Chauvinisten die
Juden Thessalonikis als Fremde, mit denen man nichts gemein haben wollte
und durfte.
1931 überfielen Anhänger der antisemitischen Partei Ethniki Enosi Ellados
das Cambellviertel. In den Baracken lebten Juden, die 1917 vor dem Feuer
geflohen waren. Die Nationalisten zündeten das Viertel an. Wieder zogen
viele Juden fort. Zwischen 1908 und 1940 gingen etwa 40.000 in die USA,
nach Frankreich, in die Türkei und nach Palästina.
Als die Truppen der Wehrmacht am 9. April 1941 Thessaloniki besetzten,
lebten noch etwa 50.000 Juden dort. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde
kamen in Haft, die meisten jüdischen Männer mussten Zwangsarbeit leisten.
Am 7. Februar 1943 ordneten die Nazis das Tragen eines „Judensterns“ für
alle jüdischen Bewohner der Stadt an, die älter als fünf Jahre waren. In 19
Eisenbahntransporten wurden die Juden im Sommer 1943 dann nach Auschwitz,
Treblinka und Bergen-Belsen gebracht. Sechs Tage dauerte die Fahrt, 70 bis
80 Personen wurden in einen Güterwagen gepresst.
## Nur einer der Gemeinde spricht noch Ladino
Nach dem Krieg kehrten nur 2.000 Menschen zurück. Einige Hundert von ihnen
hatten bei den Partisanen gekämpft, andere hatten versteckt überlebt. „Sie
fanden ihre Häuser bewohnt vor, und die neuen Bewohner weigerten sich
auszuziehen“, berichtet der Historiker Evangelos Chekimoglou. „Sie mussten
vor Gericht ziehen, aber solche Prozesse dauerten oft drei bis vier Jahre.“
Etwa die Hälfte gab auf und ging, davon viele nach Israel. So manche
einflussreiche griechische Familie soll sich damals an jüdischem Eigentum
bereichert haben. Umso besser gediehen bald darauf die deutsch-griechischen
Beziehungen.
„Nur noch die Älteren verstehen Ladino, weil es ihnen als Kinder
beigebracht worden ist. Aber sie sprechen es nicht mehr“, sagt Chekimoglou.
Ein Einziger von ihnen sei in der Lage, die alten Schriften zu entziffern,
„und der ist auch nicht jung“.
Die Juden Thessalonikis haben ihre Geschichte verloren. Nicht nur ist das
jüdisch geprägte Zentrum für immer vernichtet, nicht nur hat man fast alle
von ihnen ermordet, nicht nur ist ihr Friedhof zerstört und nicht nur ist
ihre Sprache verschwunden.
Auch ihre schriftlichen Überlieferungen sind gestohlen. Als eine ihrer
ersten Aktionen plünderten die Nazis 1941 mit ihrem „Kommando Rosenberg“
alle jüdischen Bibliotheken und Archive der Stadt und entführten das
Material nach Deutschland. 1945, nach der Befreiung, nahmen es die Sowjets
mit nach Moskau, und dort liegt es, allen Verhandlungsversuchen zum Trotz,
noch immer.
Im Obergeschoss des Jüdischen Museums sind Bilder, Dokumente und
Alltagsgegenstände ausgestellt. Daneben liegt Chekimoglous Büro. Er sagt:
„Jede Schulklasse, die hierherkommt, stellt dieselbe Frage: Haben hier
früher wirklich einmal Juden gelebt?“
15 Jul 2016
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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