| # taz.de -- Ausbeutung bei Lieferdiensten: Nur zum Schein beschäftigt | |
| > Wer für Wolt oder Uber arbeitet, arbeitet oft für Subunternehmen. Die | |
| > Konzerne ziehen sich damit aus der Verantwortung – mit fatalen | |
| > Konsequenzen. | |
| Berlin taz | „What do we want?“ – Workers wages!“, „When do we want t… | |
| Now!“, rufen Demonstrant*innen am Montagnachmittag am Kottbusser Tor. | |
| Fahrer*innen des Lieferdienstes Wolt und Unterstützer*innen haben | |
| sich hier zu einer Protestaktion versammelt, zu der mehr als 100 meist | |
| migrantische Arbeiter*innen aufgerufen hatten. Sie werfen dem | |
| Unternehmen vor, ihnen seit Monaten ausstehende Löhne, Arbeitsschutz und | |
| Geld im Krankheitsfall vorzuenthalten. | |
| „Wolt ows us money and rights“, also auf Deutsch „Wolt schuldet uns Geld | |
| und Rechte“, steht auf einem mehr als zehn Meter langen Banner, das trotz | |
| des Getümmels von der Straße, dem Radweg und aus den Bussen gut sichtbar | |
| ist. Nach einer Viertelstunde sind schon mehr als 50 Protestierende auf dem | |
| Platz vor dem Zentrum Kreuzberg zusammengekommen. Unterstützt werden sie | |
| vom Lieferando Workers Collective, auch einige Passant*innen bleiben | |
| stehen und gesellen sich dazu. „Stop the Pseudo Subcontracting System“, ist | |
| eine ihrer Forderungen, die auf kleineren Schildern geschrieben steht. | |
| Es ist nicht die erste Demonstration dieser Art: Bereits [1][Anfang April] | |
| hatten die Fahrer*innen vor der Wolt-Zentrale in Friedrichshain gegen | |
| den „Lohndiebstahl“ protestiert. Das Management im Firmensitz an der Spree | |
| reagierte nicht gerade konstruktiv: Ein Video dokumentiert, wie sich die | |
| Büromitarbeiter*innen mit einem Fahrradschloss im Gebäude | |
| verbarrikadierten, statt auf die Beschwerden einzugehen. Wolt selbst gibt | |
| gegenüber der taz an, lediglich 29 Mitarbeiter*innen über einen | |
| Personaldienstleister eingestellt zu haben, der die Auszahlungen nicht | |
| weitergegeben haben soll. Die Fälle würden juristisch geprüft, heißt es. | |
| Seit November 2022 stellt Wolt Fahrer*innen in Berlin teilweise nicht | |
| mehr direkt an. „Sie verstecken sich hinter Subunternehmen, sie sparen Geld | |
| und am Ende leiden die Fahrer*innen“, sagt ein Fahrer bei der Kundgebung im | |
| April. Für ihn und seine Kolleg*innen scheint der Fall klar: Die | |
| Kund*innen bestellen über die Wolt-App, die Fahrer*innen bekommen die | |
| Aufträge über die Software von Wolt, sie tragen die typische blaue Kleidung | |
| mit dem Firmenlogo, wenn sie die Bestellung liefern – also soll Wolt auch | |
| zahlen. | |
| ## Studie untersucht System mit Subunternehmen | |
| Das Prinzip Subunternehmen ist nicht neu und Wolt ist keine Ausnahme in der | |
| Branche. Eine Studie, die im März dieses Jahres im Rahmen des Projekts | |
| „Platform Labour in Urban Spaces“ veröffentlicht wurde, hat die | |
| Arbeitsbedingungen beim Fahr-Dienstleister Uber beleuchtet. Das Unternehmen | |
| operiert seit 2014 in Berlin, seit 2016 mit Subunternehmen. Die | |
| Umstrukturierung könnte eine Art Vorbild in der Branche gewesen sein. | |
| Denn auch Uber spart, zu Lasten der Beschäftigten. Valentin Niebler aus dem | |
| Forschungsteam der Studie erklärt im Gespräch mit der taz, dass die | |
| Fahrer*innen seitdem vor allem bei Subunternehmen angestellt sind, | |
| manche mit wenigen, manche mit mehr als hundert Mitarbeitenden. In jeder | |
| Stadt gibt es einen „Generalunternehmer“, dem diese Betriebe untergeordnet | |
| sind. Der agiert im Auftrag von Uber. | |
| Die Studie nennt neben Lohndiebstahl, wie ihn auch die Wolt-Rider beklagen, | |
| Verdienste unter dem Mindestlohn als häufiges Problem der Fahrer*innen. | |
| Auch werden Krankheitstage und Urlaub oft nicht bezahlt. Versicherungen | |
| oder Sozialversicherungsbeiträge werden nur zum Teil oder gar nicht | |
| übernommen. Viele der Fahrer*innen hätten trotz Vollzeitarbeit nur den | |
| Status von Minijobber*innen. Das Konstrukt erleichtert es den | |
| Plattformkonzernen, sich vor den Pflichten als Arbeitgeber zu drücken. | |
| „Wenn ein Problem auftritt, zeigt sich keine der Instanzen verantwortlich“, | |
| sagt Valentin Niebler. „Dann verweisen zum Beispiel die Subunternehmer auf | |
| die anderen Subunternehmer, die verweisen auf Uber und Uber gibt das | |
| Problem zurück.“ Für die Fahrer*innen sei das so, als wäre niemand | |
| zuständig. „Das macht es schwer, Arbeitnehmerrechte einzufordern.“ Er sieht | |
| starke Ähnlichkeit mit den Berichten der Wolt-Beschäftigten. | |
| ## Von Scheinselbstständigkeit zur Scheinbeschäftigung | |
| Valentin Niebler und seine Kolleg*innen haben für diese Verhältnisse den | |
| Begriff der „Scheinbeschäftigung“ erfunden. Der Begriff meint, dass es zwar | |
| formal ein Beschäftigungsverhältnis gibt, die Angestellten aber wenig davon | |
| profitieren. | |
| In der Vergangenheit waren Dienstleistungsplattformen in die Kritik | |
| geraten, weil sie auf einem scheinbar gegensätzlichen Prinzip basierten: | |
| Auf dem Modell der Scheinselbstständigkeit. In den Jahren nach der Gründung | |
| 2014 in den USA waren die Fahrer*innen bei Uber nicht angestellt. Die | |
| Plattform gab an, nur die Fahrten zu vermitteln. | |
| Die Fahrer*innen waren offiziell Soloselbstständige, die sich allerdings | |
| nach den Vorgaben des Unternehmens richten mussten, als wären sie | |
| Angestellte. Aber sie kosteten das Unternehmen keine Sozialabgaben. Genau | |
| diese Einsparung machte das Modell in der Branche so attraktiv. | |
| Essenlieferdienste und auch Helpling übernahmen in dieser Zeit das Konzept. | |
| Nach Angaben des Rats der Europäischen Union sind in der EU mehr als fünf | |
| Millionen Menschen in der Plattformarbeit fälschlicherweise als | |
| Selbstständige eingestuft. Um das zu ändern und die Plattformen offiziell | |
| als Arbeitgeber in die Pflicht zu nehmen, legte die Europäische Kommission | |
| 2020 einen ersten Vorschlag zur Regulierung der Plattformarbeit vor. Diese | |
| Richtlinien sollen es leichter machen zu erkennen, dass jemand | |
| Arbeitnehmer*in ist und entsprechende Rechte hat. Das betrifft zum | |
| Beispiel Pausen, bezahlten Urlaub oder Zahlungen bei Krankheit. | |
| Am 1. Dezember 2020 entschied das Bundesarbeitsgericht, dass | |
| Plattformerwerbstätige als Arbeitnehmer*innen einzustufen sind, wenn | |
| sie in Organisationsstrukturen der Plattform eingebunden sind und | |
| weisungsgebunden arbeiten. Das gilt ausdrücklich auch, wenn die Weisungen | |
| durch Apps oder Algorithmen gegeben werden. Und auch dann, wenn im Vertrag | |
| von „selbstständigen“ Dienstleister*innen die Rede ist. | |
| ## Immer neue Schlupflöcher | |
| Scheinselbstständigkeit oder Scheinbeschäftigung? Für Rahid, der nicht mit | |
| seinem richtigen Namen in der Zeitung stehen will, macht das am Ende kaum | |
| einen Unterschied. Wie viele andere in Berlin hat er zeitgleich für Wolt | |
| und für Uber gearbeitet. Die Fahrer*innen nutzen beide Apps, um | |
| möglichst viele Aufträge zu bekommen und weniger unbezahlte Wartezeiten zu | |
| haben, die den Verdienst drücken. | |
| Eigentlich wollte er den einen Job mit dem anderen ergänzen, weil er zu | |
| wenig Geld verdiente. Jetzt hat er durch die ausstehenden Löhne bei Wolt | |
| zusätzlichen Ärger und noch knappere Einkünfte, sagt er der taz. Was die | |
| fehlende Verantwortung angeht, findet er die beiden Arbeitgeber recht | |
| ähnlich: „Es ist das Gleiche, auch wenn es zwei Gesichter sind“, sagt er. | |
| Die Studie zur Scheinbeschäftigung und auch die Situation in der | |
| Lieferbranche zeigt, dass der Status Arbeitnehmer*in nicht automatisch | |
| zu besseren Arbeitsbedingungen führt. „Die Gefahr ist groß, dass die | |
| Konzerne schnell neue Schlupflöcher finden werden, um die Regeln zu | |
| umgehen“, warnt Valentin Niebler. Obwohl die Fahrer*innen noch immer auf | |
| ihre Löhne warten, läuft das Geschäft von Wolt weiter. | |
| Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde nachträglich geändert. | |
| Ursprünglichen hieß es, dass Wolt seit November 2022 Fahrer*innen in | |
| Berlin generell nicht mehr direkt anstellt werden, das trifft aber nur auf | |
| einige zu. | |
| 19 Jun 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lisa Bor | |
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