# taz.de -- Aufnahmeprogramm für Afghanistan: Scheitern, Schande oder letzte R… | |
> Die Bundesregierung wickelt das Rettungsprogramm für afghanische | |
> Menschenrechtler*innen ab. Das ist schäbig – und bezeichnend für die | |
> deutsche Politik. | |
Klammheimlich beerdigt die Bundesregierung gerade das Aufnahmeprogramm | |
(BAP), mit dem afghanische Menschenrechtler*innen vor den Taliban | |
gerettet werden sollten. Schon seit dem Sommer wurden keine neuen | |
Aufnahmezusagen mehr vergeben, wie Hilfsorganisationen berichten. Und dabei | |
soll es laut Bundesregierung bis Ende der Legislaturperiode auch bleiben. | |
Spätestens nach den Neuwahlen dürfte das Programm endgültig Geschichte | |
sein. | |
Die bisherige Bilanz ist kläglich: Zum Start des BAP im Oktober 2022 war | |
das offizielle Ziel, jeden Monat 1.000 Menschen zu evakuieren. In den 25 | |
Monaten seitdem wurden aber insgesamt nur etwa 1.020 Personen eingeflogen. | |
An etwa 2.000 weitere Afghan*innen hat die Bundesregierung noch | |
rechtlich bindende Aufnahmezusagen vergeben. Insgesamt werden es also nicht | |
mehr als 3.000 Personen sein, die nach jetzigem Stand durch das BAP | |
gerettet werden. Wieso lässt Deutschland die Menschen so im Stich? | |
Am Geld jedenfalls liegt es nicht. Zwar waren im ersten Haushaltsentwurf | |
für 2025 keine Mittel mehr für das BAP vorgesehen. Doch am 6. November – | |
Stunden bevor die Ampel zerbrach – einigten sich Haushaltsexpert*innen | |
von SPD-, Grünen- und FDP-Fraktion auf eine Lösung, die die | |
Weiterfinanzierung gesichert hätte. | |
Das war ein Signal der Abgeordneten an die Bundesregierung: Wir wollen, | |
dass das BAP weiterläuft, wenigstens bis Ende der Legislatur. Zwar wird es | |
nach dem Ampelbruch keinen Haushalt mehr geben, der Kompromiss vom 6. | |
November ließe sich aber auch in der vorläufigen Haushaltsführung | |
berücksichtigen, die dann greift. Doch die Restbundesregierung ignoriert | |
das offenbar. | |
## Niedertracht nicht neu | |
Diese Niedertracht gegenüber den Afghan*innen ist nicht neu. Und das BAP | |
ist auch nicht versehentlich gescheitert. Dass die afghanischen | |
Menschenrechtler*innen im Stich gelassen werden, fügt sich nahtlos ein | |
in den [1][flüchtlingsfeindlichen] Kurs der deutschen Politik und die | |
Stimmung in der Gesellschaft. | |
Wie weit die Kette des moralischen Versagens gegenüber den Afghan*innen | |
zurückreicht, macht auch der [2][Untersuchungsausschuss] zum Abzug der | |
Bundeswehr aus Afghanistan sichtbar. Heiko Maas, SPD-Außenminister als | |
Kabul 2021 an die Taliban fiel, berichtete da, wie schlecht die | |
Bundesregierung damals über die Lage vor Ort unterrichtet war. Am 13. | |
August 2021 habe der [3][deutsche Auslandsgeheimdienst BND] berichtet, | |
Kabul werde nicht vor September fallen. | |
Zwei Tage später war diese Einschätzung „von der Realität überholt“, wie | |
Maas es ausdrückte. Es lag auch an solchen Fehleinschätzungen, dass die | |
Evakuierung der afghanischen Helfer*innen von Bundeswehr und | |
Entwicklungszusammenarbeit chaotisch verlief. | |
Bei diesen sogenannten Ortskräften handelte es sich um Afghan*innen, die | |
unter hohem persönlichen Risiko für die deutschen Truppen und sonstigen | |
Stellen arbeiteten. Als Übersetzer etwa, ortskundige Führer oder auch als | |
Köche. Sie taten das aus demokratischen Überzeugungen oder einfach nur, um | |
sich finanziell über Wasser zu halten. | |
## Die Bundesregierung hatte keinen Plan | |
Deutschland dankte es diesen Menschen nie. Selbst wenn man über die fatale | |
Fehleinschätzung zum genauen Zeitpunkt der Machtübernahme hinwegsieht: Dass | |
es dazu in absehbarer Zukunft so kommen würde, muss jedem klar gewesen | |
sein, der sich im Sommer 2021 nur ein bisschen mit Afghanistan | |
beschäftigte. Dennoch gab es bei der Bundesregierung keine substanziellen | |
Pläne, wie die Ortskräfte und ihre Angehörigen gerettet werden sollten, für | |
die der Siegeszug der Taliban akute Lebensgefahr bedeutete. | |
So begannen die Bemühungen nach dem Fall Kabuls überhastet und chaotisch. | |
Die Regeln waren starr: Wer über ein Subunternehmen angestellt war, das die | |
Bundeswehr beauftragte, kam nicht in Frage. Und die Verfahren zogen sich | |
hin. Inzwischen hat die Bundesregierung zugegeben, dass „einzelne“ | |
Afghan*innen, die eine Aufnahmezusage hatten, aber noch auf die Evakuierung | |
warten mussten, getötet wurden. | |
Parallel zur Evakuierung der Ortskräfte begannen auch | |
Evakuierungsbemühungen für afghanische Menschenrechtler*innen und | |
Demokratieaktivist*innen. Einbezogen wurden zudem einzelne Personen, die | |
durch den Frauenhass und die Queerfeindlichkeit der Taliban besonders | |
bedroht waren. Auch hier lief vieles falsch: Hilfsorganisationen beklagten | |
lange Wartezeiten und zu enge Kriterien bei der Auswahl der zu | |
Evakuierenden. | |
Trotz all der Probleme konnten dank dieser frühen Bemühungen aber immerhin | |
rund 26.000 Afghan*innen tatsächlich nach Deutschland kommen. Mit dem | |
Bundesaufnahmeprogramm – so die Hoffnung – sollten es ab 2022 noch mehr | |
werden, die nun durch einen geordneten und dauerhaften Prozess Schutz | |
finden sollten. | |
## Paranoia oder Rassismus | |
Dass daraus nichts wurde, hat vor allem mit Nancy Faeser (SPD) zu tun, | |
deren Bundesinnenministerium (BMI) für das Programm verantwortlich war. Mit | |
sehr viel Wohlwollen könnte man den Kurs des BMI als Ausdruck der Paranoia | |
sehen, die es mit sich bringt, wenn man für die Sicherheit von rund 80 | |
Millionen deutschen Bürger*innen verantwortlich ist. | |
Noch bevor eine einzige Person über das BAP nach Deutschland gekommen war, | |
stoppte das Ministerium die Visavergabe wieder, um noch schärfere | |
Sicherheitskontrollen zu etablieren. Hintergrund waren Berichte, dass sich | |
Islamist*innen einschleichen wollten, doch Beweise dafür gibt es bis | |
heute nicht. Erst Monate später lief das Programm wieder an. | |
Maßgeblich für die Verzögerung durch das BMI dürfte aber der massive | |
Stimmungsumschwung gewesen sein, der kurz nach dem Start des BAP einsetzte. | |
Die öffentliche Meinung wandte sich ab Anfang 2023 gegen Einwanderung, von | |
der die deutsche Wirtschaft nicht direkt profitiert. Seitdem streitet | |
Deutschland wieder über die Aufnahme von Geflüchteten, angeheizt von Union | |
und AfD. Der rassistische Tenor ist unüberhörbar. | |
Die Ampelkoalition unterwarf sich dem praktisch ohne Gegenwehr. Ganz vorne | |
dabei: Nancy Faeser. Zusammen mit Kanzler Olaf Scholz setzte die | |
Innenministerin durch, dass die Bundesregierung einer Reform des | |
EU-Asylsystems zustimmte, die so noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen | |
wäre. Auch wegen Faeser werden Geflüchtete nun an den EU-Außengrenzen bald | |
in Haftlagern festgesetzt. | |
## Der deutsche Mainstream ist moralisch bankrott | |
Auch im deutschen Asylrecht führte die Innenministerin eine Verschärfung | |
nach der anderen ein. Seit den 1990er Jahren hat keine Bundesregierung mehr | |
so viel Energie darauf verwandt, es Geflüchteten möglichst schwer zu | |
machen. Warum sollte man da noch zusätzlich Afghan*innen ins Land holen? | |
Dass viele deutsche Politiker*innen das Bundesaufnahmeprogramm aktuell | |
nur noch als Einfallstor sehen, durch das noch mehr ungewollte Menschen ins | |
Land kommen, zeigt auch eine Beschlussvorlage für die Konferenz der | |
Landesinnenminister*innen aus der ersten Dezemberwoche. Im Papier, | |
das von den Unions-Minister*innen stammt, finden sich neben Rufen nach | |
weiteren Asylrechtsverschärfungen auch die Forderung, alle | |
Aufnahmeprogramme „unverzüglich“ zu stoppen. | |
Das kommt einem moralischen Bankrott gleich. Gerade | |
Unionspolitiker*innen wie etwa [4][Innenminister Joachim Herrmann | |
(CSU) aus Bayern oder sein Kollege Michael Stübgen aus Brandenburg], | |
betonen gern, dass sie sehr wohl Geflüchteten aufnehmen wollten – nur | |
müssten es eben „echte“ Geflüchtete sein. Solche also, die nicht aus | |
wirtschaftlichen Gründen kommen, sondern weil sie politisch verfolgt | |
werden. Womit wir bei den afghanischen Menschenrechtler*innen wären. | |
Sie erfüllen nicht nur dieses Kriterium voll und ganz, sondern sind in | |
ihrer schwierigen Position auch erst durch gehöriges Zutun Deutschlands | |
gelandet. Man weiß nicht, wo diese Menschen wären, wenn die internationale | |
Allianz mit deutscher Beteiligung nicht 2001 die Taliban gestürzt hätte. | |
Aber ihre heutige Lage wäre wohl eine andere, so viel darf man schon | |
annehmen. | |
## Letzter Aufruf an die Regierung | |
Dabei schreibt das BAP derart umfangreiche Überprüfungen vor, dass auch all | |
diejenigen Politiker*innen ruhig schlafen können, die in | |
Migrant*innen vor allem ein Sicherheitsrisiko sehen. Am allerbesten | |
sollte den „migrationsskeptischen“ Politiker*innen aber folgendes | |
gefallen: Ob Afghan*innen einen Anspruch auf den Schutz in Deutschland | |
haben, wird nicht erst geklärt, nachdem sie hier angekommen sind, sondern | |
bereits in der deutschen Botschaft in Pakistan geprüft. | |
Solche Prüfverfahren in Drittstaaten sind eigentlich der Traum all | |
derjenigen, die sich mehr Kontrolle über Migration wünschen. Nur | |
handverlesene Einwanderung bitte! Dass gerade solche Politiker*innen | |
auf ein noch schnelleres Ende des BAP drängen, zeigt, wie hohl ihre | |
Rhetorik ist. | |
Angesichts all der Heuchelei wäre es leicht, mit dem Kopf zu schütteln und | |
sich anderen Themen zuzuwenden. Doch das hieße, auch die letzten | |
Afghan*innen hängen zu lassen. Stattdessen braucht es noch einmal | |
öffentliche Aufmerksamkeit. | |
Menschenrechtsorganisationen wie die Kabul Luftbrücke, die in das BAP | |
eingebunden sind, haben am 4. Dezember einen Aufruf an die Bundesregierung | |
veröffentlicht. Sie verlangen schlicht, dass all die Anträge noch | |
bearbeitet werden, die bereits für eine Evakuierung kontaktiert worden | |
sind, aber noch keine Aufnahmezusage bekommen haben. Es geht dabei um rund | |
17.000 Menschen. | |
Sie haben Hoffnung geschöpft und sich teils verschuldet, um zur deutschen | |
Botschaft [5][in Pakistan zu reisen]. Sie haben mit großen Mühen die | |
nötigen Dokumente beschafft. Und nicht zuletzt haben sie dadurch wohl auch | |
die Aufmerksamkeit der Taliban noch weiter auf sich gezogen. | |
Es wäre das Mindeste, die Fälle dieser Menschen noch zu prüfen und all | |
diejenigen herzuholen, denen Gefahr droht. Auch das würde aus dem | |
Bundesaufnahmeprogramm keinen Erfolg mehr machen, oder etwas, worauf die | |
scheidende Bundesregierung stolz sein könnte. Aber immerhin würde es dann | |
nicht als eine einzige Schande in Erinnerung bleiben, weil es die Menschen | |
einfach zurückgelassen und der Gewalt der Taliban ausgeliefert hat. | |
7 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Frederik Eikmanns | |
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