| # taz.de -- Aufgenommene Afghanin: Endlich durchatmen | |
| > Nach 3 Jahren Bangen ist die Frauenrechtlerin Shokria S. in Deutschland | |
| > angekommen: Sie ist eine der Afghan:innen, die in Pakistan ausharrten. | |
| Bild: Geflüchtete Afghaninnen suchen Zuflucht in einem öffentlichen Park, Isl… | |
| Göttingen taz | Die letzten Meter rennt Shokria S. ihrer Freundin Nooria Y. | |
| entgegen. Eine lange Umarmung, Wangenküsse, Tränen. „Sie ist wie Familie | |
| für mich“, sagt S. Mehr als vier Jahre haben sie sich nicht gesehen. Beide | |
| flohen vor den islamistischen Taliban aus Afghanistan. Doch während Y. | |
| schon seit 2022 in Deutschland lebt, kam S. erst am Montag nach Hannover, | |
| [1][gemeinsam mit 46 weiteren Afghan:innen.] Drei Jahre musste die | |
| Frauenrechtsaktivistin warten, ein Jahr davon in Pakistan. Ihr Recht auf | |
| Schutz musste sie sich schließlich vor Gericht erkämpfen – gegen den | |
| erbitterten Widerstand der aktuellen Bundesregierung. | |
| Jetzt lebt sie zunächst im Verteilungslager Friedland bei Göttingen. Mit | |
| Willkommensschildern, Blumen und Süßigkeiten begrüßten auch Andreas Linder | |
| und Idrees Ahmadazai sie hier am Mittwoch. Beide arbeiten beim Tübinger | |
| Verein Move on, Linder als Leiter, Ahmadazai als Berater. Move on begleitet | |
| Geflüchtete und war auch eine Meldestelle für das Bundesaufnahmeprogramm | |
| (BAP), über das nun auch S. gekommen ist. Seit drei Jahren betreut der | |
| Verein ihren Fall. | |
| Um zu verstehen, was da so lange gedauert hat, muss man verstehen, was das | |
| Bundesaufnahmeprogramm ist. Nach dem Fall Kabuls an die Islamisten im | |
| Sommer 2021 waren die deutschen Stellen zunächst völlig überfordert. In den | |
| Ministerien hatte kaum jemand darüber nachgedacht, was die Ereignisse für | |
| die ehemaligen Helfer:innen der Bundeswehr und die Entwicklungshilfe | |
| bedeuten würde. | |
| Stück für Stück begannen aber Evakuierungen dieser besonders gefährdeten | |
| Personen. Im Sommer 2022 beschloss die Ampelkoalition dann zusätzlich das | |
| Bundesaufnahmeprogramm, das sich an einen anderen Personenkreis richtete: | |
| Menschenrechtsaktivist:innen, Journalist:innen, Frauen, queere Personen. | |
| Doch wirklich funktioniert hat es nie. Statt der angepeilten 1.000 | |
| Aufnahmezusagen pro Monat wurden es bis Ende des Programms 2024 nur rund | |
| 3.000 insgesamt. Und die saßen fast alle noch in Pakistan fest, wo sie sich | |
| für die Rettung hatten registrieren müssen. Rund 2.300 Menschen warten dort | |
| bis heute. S. war eine von ihnen. | |
| ## Frauenbildung | |
| Die 31-Jährige wuchs im Westen Afghanistans auf und studierte Rechts- und | |
| Politikwissenschaften. Jahrelang kämpfte sie dafür, dass Frauen und Mädchen | |
| Zugang zu Bildung erhielten, organisierte Unterricht oder brachte Frauen | |
| aus Regionen, in denen die Taliban präsent waren, an sichere Orte zum | |
| Lernen. Als Mitglied der Taliban-kritischen Partei Rawande Sabz | |
| organisierte sie zusammen mit Y. regelmäßig öffentliche Demonstrationen. | |
| „Ich bin stolz auf mich, dass ich für Frauen dort gearbeitet habe“, sagt S. | |
| Mit der Machtübernahme änderte sich alles. Obwohl sie die Einzige in ihrer | |
| Familie war, die ein Einkommen hatte, musste sie ihre Arbeit aufgeben. Ihr | |
| Engagement machte sie zur Zielscheibe, sie begann sich zu verstecken. „Ich | |
| suchte einen Weg aus Afghanistan“, sagt S. | |
| Im August 2022 stellte der Verein den Antrag, S. in das | |
| Bundesaufnahmeprogramm aufzunehmen. 13 Monate später entschied die | |
| Auswahlkommission schließlich zu ihren Gunsten. Doch bis zur offiziellen | |
| Aufnahmezusage verging erneut ein halbes Jahr, erst im April 2024 erhielt | |
| sie die Bestätigung. Jetzt konnte sie nach Pakistan reisen | |
| Doch auch die Ausreise war voller Hürden: S. brauchte einen Reisepass und | |
| ein teures Visum, Unterstützung durch deutsche Behörden gab es laut | |
| Vereinsleiter Linder keine. Erschwerend kam hinzu: Ohne einen „Mahram“, | |
| einen männlichen Verwandten, dürfen Frauen in Afghanistan das Haus nicht | |
| verlassen. Über Ahmadzai fand S. eine Familie, mit der sie die Grenze nach | |
| Pakistan überquerte. „Ich hatte das Gesicht hinter einer Maske verborgen, | |
| damit die Taliban mich nicht erkannten“, erzählt sie. | |
| „Am Anfang dachte ich, ich bleibe nur zwei Monate in Pakistan“, sagt S. Die | |
| Gästehäuser der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit | |
| (GIZ) sollten nur eine Zwischenstation sein. In Pakistan stauten sich dann | |
| die Fälle. „Wir konnten nur warten, warten, warten“, erzählt S. Sie fühl… | |
| sich allein, ihre Stimmung damals vergleicht sie mit einer Depression, | |
| ständig musste sie ihre Abschiebung fürchten. Denn die pakistanischen Visa | |
| sind nur kurz gültig, auch die Verlängerungen sind teuer und kompliziert. | |
| Anfang 2025 drängte Move on bei der deutschen Botschaft, endlich S. | |
| Sicherheitsinterviews durchzuführen. Schon damals forderten NGOs, die | |
| Bundesregierung von SPD, Grünen und FDP müsse mehr tun, um die Menschen aus | |
| Pakistan zu holen. Doch in einem Wahlkampf, in dem die Migrationsdebatte | |
| dominierte, passte die Aufnahme von Geflüchteten nicht ins Bild. „Wir | |
| konnten ab Ende 2024 keine neuen Fälle mehr eingeben“, sagt Linder. Die | |
| Ampelregierung hatte auch schon zuvor das Programm mehrfach unterbrochen. | |
| ## Absage durch Schwarz-Rot | |
| Erst im April fand S. Sicherheitsinterview statt. Doch dann kam die neue | |
| Bundesregierung von Union und SPD ins Amt. [2][Und die stoppte das | |
| Aufnahmeprogramm ganz offiziell.] Unionspolitiker:innen sagten immer | |
| wieder ganz offen, dass sie die Aufnahmezusagen zurücknehmen wollten. Keine | |
| der Personen aus Afghanistan, denen Deutschland Schutz versprochen hatte, | |
| sollte noch kommen dürfen. Nur war zunächst nicht klar, ob das juristisch | |
| überhaupt möglich ist. | |
| Gleichzeitig verschärfte Pakistan den Druck auf afghanische Geflüchtete. | |
| Immer wieder setzten die Behörden Fristen, bis wann die Bundesregierung die | |
| Menschen nach Deutschland bringen sollte, doch Berlin ließ sie | |
| verstreichen. Im Juli begannen die ersten Verhaftungen durch die | |
| pakistanischen Behörden. Damals konnten deutsche Stellen Abschiebungen nach | |
| Afghanistan noch verhindern. Doch bei den Razzien im August gelang das | |
| nicht mehr. Nach Angaben der Bundesregierung wurden mehr als 400 Menschen | |
| festgenommen, [3][210 von ihnen abgeschoben.] | |
| Auch in S. Unterkunft kam es zu Razzien. Zusammen mit zwei anderen Frauen | |
| floh sie ins Freie, verbrachte die Tage in Parks und auf öffentlichen | |
| Plätzen, zum Schlafen kehrte sie nicht ins Haus zurück. In dieser Zeit | |
| schrieb sie mehrfach E-Mails an den Verein. „Der Albtraum mit der Polizei | |
| hat mir den Schlaf geraubt. Mein Körper schmerzt vor Müdigkeit. Mein Magen | |
| tut weh. Mein Kopf schmerzt und ich weine.“ Sie berichtete von ihrer | |
| Verfassung, die mental, emotional und körperlich am Limit war. „Kann eine | |
| Person diesen Stress allein ertragen? Ich möchte nur, dass endlich über | |
| mein Schicksal entschieden wird. Ich halte das nicht mehr aus.“ | |
| Einige Tage später kehrte sie zwar in die Unterkunft zurück, doch die | |
| Albträume blieben so lange, bis sie Pakistan verlassen konnte. „Immer, wenn | |
| ich die Augen schloss, sah ich die Polizei.“ Auch heute, erzählt S., leide | |
| sie noch unter Magenproblemen. Nachdem sie das erzählt hat, braucht sie | |
| eine Pause, verdeckt mit der Hand ihr Gesicht und ringt um Fassung. | |
| Für viele Geflüchtete blieb nur ein Ausweg: Sie mussten ihr Recht auf | |
| Aufnahme vor Gericht einklagen. Auch S. gehörte zur zweiten Welle von | |
| Fällen, die am Verwaltungsgericht Berlin verhandelt wurden. Unterstützt | |
| wurde sie dabei vom Verein und der Rechtsanwältin Maria Kalin aus dem | |
| Deutschen Anwaltverein. Gemeinsam erstritten sie schließlich das notwendige | |
| Visum. Die Aufnahmezusage durch das BAP ist bindend, so das Gericht. | |
| Nachdem das Bundesinnenministerium alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft | |
| hatte, sich gegen solche Entscheide zu wehren, gab es schließlich zumindest | |
| in einigen Fällen nach. Am vergangenen Freitag kam endlich die erlösende | |
| Nachricht für S. und die 46 anderen: Reisepass, elektronisches Flugticket | |
| und ein Visum. Ein Foto, das der taz vorliegt, zeigt, dass S. Visum bereits | |
| im April ausgestellt worden war. | |
| In der Nacht von Sonntag wurde S. abgeholt und zum Flughafen gebracht, der | |
| Abflug war für sechs Uhr morgens angesetzt. Nach der Landung in Hannover | |
| erwartete sie eine Menge Journalist:innen, die die Ankunft begleiteten. | |
| Erst als das vorbei war, konnte S. tief durchatmen. Auf die Frage nach | |
| ihrem ersten Eindruck von Deutschland kam ihre Antwort ohne Zögern: | |
| „Freiheit!“ | |
| ## Berufswunsch Kosmetikerin | |
| Rund zwei Wochen wird S. noch in Friedland bleiben. Danach hofft sie, in | |
| die Nähe von Lübeck ziehen zu können. Dort lebt ihr Bruder, den sie seit | |
| zehn Jahren nicht mehr gesehen hat. Außerdem möchte sie ihre | |
| Deutschkenntnisse vertiefen. „In Pakistan habe ich immer andere Frauen | |
| geschminkt. Das möchte ich auch hier gern beruflich machen“, sagt S. Es ist | |
| einer der wenigen Momente, in denen sie lächelt, während sie über die Zeit | |
| in Pakistan spricht. | |
| Obwohl S. schon einiges auf Deutsch versteht, übersetzt Ahmadzai das | |
| Gespräch. Am Mittwochnachmittag muss er jedoch immer wieder unterbrechen. | |
| Sein Handy leuchtet ständig auf. Neue Nachrichten und Anrufe aus Pakistan | |
| von denen, die immer noch auf die Rettung warten müssen. | |
| Der Verein betreut noch sieben weitere Fälle im Rahmen des BAP. Einer der | |
| Betroffenen wurde bereits im August nach Afghanistan abgeschoben. „Hallo, | |
| wir müssen das Haus verlassen. Die Polizei ist da“, lautet jetzt eine | |
| Nachricht, die auf Ahmadzai Handy eingeht. Die Razzien haben wieder | |
| begonnen. Wieder heißt es, sich auf den Straßen Islamabads zu verstecken. | |
| Das steht im Widerspruch zu den Zusicherungen von Außenminister Johann | |
| Wadephul, es werde bis Ende des Jahres keine Razzien mehr geben. „Pakistan | |
| hält sich nicht an die Absprachen mit Wadephul. Die Menschen müssen so | |
| schnell wie möglich nach Deutschland geholt werden“, fordert Linder. Laut | |
| Angaben der Organisation Kabul Luftbrücke wurden am Dienstag und Mittwoch | |
| 22 Personen verhaftet, 8 von ihnen seien bereits wieder in Afghanistan. | |
| Zurück bei den Taliban, die ihr Leben bedrohen. | |
| Aktualisiert am 5.09.2025. Der Nachname der Protagonistin wurde aus | |
| Sicherheitsgründen anonymisiert. d. R. | |
| 5 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Laura Verseck | |
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