| # taz.de -- Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft: Wer ist Hanna? | |
| > Unter dem Hashtag #IchbinHanna ist eine Debatte über prekäre | |
| > Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft entbrannt. Drei | |
| > Wissenschaftlerinnen erzählen. | |
| Bild: Ob Sozial-, Geistes- oder Naturwissenschaft: Schlechte Bedingungen gibt's… | |
| Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) erklärte in einem | |
| Video, was das [1][Wissenschaftszeitvertragsgesetz] (WissZeitVG) ist. Ein | |
| Gesetz, das dafür sorgt, dass vor allem Promovierende und Postdocs | |
| befristete Stellen unterschreiben. Damit das „System nicht verstopft“ | |
| werde, wie es in dem Video heißt. Die Protagonistin in dem Erklärvideo | |
| heißt Hanna. | |
| Wissenschaftler:innen initiierten deshalb den Hashtag #IchbinHanna, | |
| unter dem sie berichteten, [2][was die dauerhaften Befristungen] für sie | |
| bedeuten: Druck, Planungsunsicherheit, unerfüllte Kinderwünsche und das | |
| Verlassen der Wissenschaft gehören dazu. Für einige ist auch klar: Sie sind | |
| nicht Hanna, weil sie auf ein Visum angewiesen sind oder als BPoC | |
| Diskriminierungsstrukturen ausgesetzt sind, die auch andere Auswirkungen | |
| haben als prekäre Arbeitsverhältnisse. Mittlerweile wurde das Video vom | |
| BMBF offline genommen und per [3][Stellungnahme auf die Kritik reagiert.] | |
| ## „Ich habe schon Videokonferenzen aus dem Krankenhaus heraus gemacht“ | |
| Ich schreibe meine Doktorarbeit über Zeitlichkeit und Behinderung in der | |
| zeitgenössischen amerikanischen Literatur. Ich habe Mukoviszidose, eine | |
| chronische Stoffwechselerkrankung. Mit Mukoviszidose hat man eine | |
| reduzierte Lebenserwartung. Als ich angefangen habe zu studieren, war es | |
| teilweise so, dass ich gesagt habe: „Ich erreiche das Rentenalter ja gar | |
| nicht.“ Und dachte mir: „Na ja, was soll’s, dann habe ich halt nicht so d… | |
| Mega-Karrierechancen, ich weiß eh nicht, wie alt ich werde. Dann kann ich | |
| auch in die Wissenschaft.“ Ich habe Glück, dass es ein neues Medikament | |
| gibt, mit dem es mir viel viel besser geht. Das normalisiert meine | |
| Lebenserwartung ein Stück weit, aber jetzt muss ich mich doch mit diesem | |
| schrecklichen Arbeitsmarkt auseinandersetzen. | |
| Gerade arbeite ich in meinem dritten Vertrag, der im Juli ausläuft. Ich | |
| weiß, dass die Verlängerung beantragt ist, aber die ist noch nicht durch. | |
| Meine Chefin will mich zwar weiterbeschäftigen, aber dass ich nicht weiß, | |
| ob und wann mein Arbeitsvertrag verlängert wird, nimmt mir die Motivation. | |
| Es erzeugt diese völlig paradoxe Situation: Natürlich will ich schnell | |
| fertig werden mit der Diss, aber in dem Moment, wo ich mit der Diss fertig | |
| werde, habe ich keinen Job mehr. Das ist eine Qualifikationsstelle und die | |
| muss ich wieder freimachen. Das hat einen Einfluss auf die Lebensplanung. | |
| Und der Druck macht total was mit einem. Du vergleichst ständig Lebensläufe | |
| mit anderen, die viel veröffentlicht haben und hier noch mal eine Konferenz | |
| organisiert haben. Dadurch entsteht ein Zwang zur totalen | |
| Hyperproduktivität. Du musst immer noch ein bisschen besser sein als die | |
| anderen. | |
| Manchmal kollidiert dieser Zwang zur Überproduktivität aber mit meinem | |
| Körper: Ich muss regelmäßig ärztlich kontrolliert werden, Medikamente | |
| nehmen, ich muss inhalieren. Das kostet alles Zeit. Und oft habe ich | |
| einfach nicht so viel Kraft. Weil: für meinen Körper ist alles – das ganz | |
| normale Funktionieren, rumlaufen, Treppensteigen, Essen – anstrengender. | |
| Und ich kann mich nicht immer rausziehen: Ich habe schon Videokonferenzen | |
| gemacht aus dem Krankenhaus heraus, um den Anschluss nicht zu verlieren. | |
| Und klar, das ist noch mal ein extra Druck, ich muss es eben auch besonders | |
| gut machen, um zu beweisen, dass ich ja trotz und wegen der Behinderung | |
| immer noch hier mitreden darf. | |
| Dorothee Marx (32) promoviert an der Uni Kiel zu chronischen Erkrankungen | |
| und Behinderungen in Comics und Literatur | |
| ## „Zurück an eine deutsche Uni möchte ich nie mehr“ | |
| Ich habe meinen Magister in Deutschland gemacht und bin nach einem Jahr als | |
| wissenschaftliche Hilfskraft weggegangen. Meine Erfahrung ist die, wie es | |
| für jemanden mit einer sozialen Herkunft in der Arbeiter:innenklasse | |
| und mit „Migrationshintergrund“ an der Uni war. Das ist nur ein Faktor, | |
| warum ich mich entschieden habe, nicht in Deutschland an der Uni zu | |
| bleiben, aber auch Finanzen und mein Forschungsinteresse hängen damit | |
| zusammen. 2017 habe ich in Edinburgh promoviert über die postkoloniale | |
| Situation der Stadt Brüssel. Jetzt arbeite ich als Wissenschaftlerin in den | |
| Postcolonial und Decolonial Studies. Zurück an eine deutsche Uni möchte ich | |
| nie mehr. | |
| Meine Sicht ist eine privilegierte: Ich hatte eine großartige Mentorin. | |
| Dazu kommt, dass ich keine Kinder oder keine Pflegeverantwortung für | |
| irgendjemanden habe. Ich konnte gehen. Das ist selbst, wenn man in | |
| Deutschland bleibt, ein Problem mit den sehr kurzfristigen Verträgen. Dass | |
| man immer in der Position sein muss, seine Koffer zu packen und nächstes | |
| Jahr woanders zu arbeiten. Das ist für viele unmöglich. | |
| Was mich so wahnsinnig daran frustriert, ist diese Vorstellung: Wer ist | |
| diese Person, für die diese Stellen geschaffen werden? Wenn das | |
| Bildungsministerium sagt, dass dass Wissenschaftszeitgesetz tatsächlich in | |
| irgendeiner Weise eine gute Sache sein soll, dann kann sie ja nur eine gute | |
| Sache sein für jemanden, der:die total unabhängig ist, der:die keine | |
| Verpflichtungen in irgendeiner Art hat. Ich kann ja auch diese | |
| Kurzfristigkeit psychisch nur aushalten, wenn ich ein Sicherheitsnetz habe. | |
| Wenn ich weiß: Ach, wenn ich keinen Job kriege, dann zieh ich einfach | |
| wieder bei Mama und Papa ein. | |
| Was in der Debatte um das Wissenschaftszeitgesetz untergeht, ist auch das | |
| System der deutschen Uni. Doktorand:innen, vor allem die, die mit einem | |
| Arbeitsvisum an einer deutschen Uni angestellt sind, haben ein | |
| problematisches Abhängigkeitsverhältnis zu ihrer:ihrem Gutachter:in. Es | |
| kommt in diesem System zu vielen Situationen, die ich auch so nicht mehr | |
| erlebt habe, seitdem ich in Großbritannien arbeite. Zum Beispiel wie | |
| Lehrende in höher gestellten Positionen sich über Studierende äußern, über | |
| deren Hintergrund, Interessen, Ausdrucksfähigkeit, und auf sie eingehen. | |
| Äußerungen, die latent rassistisch, klassistisch, sexistisch sein können. | |
| Momente, in denen ich mir gedacht habe: Das ist kein Umfeld, in dem ich | |
| mich wiederfinden will. Wo ich das Gefühl hatte, dass ich wahnsinnig viel | |
| erklären muss – auch meine Existenz in diesem Raum ständig erklären muss. | |
| Dann kommt hinzu, was und wie in Deutschland unterrichtet wird. Gerade in | |
| so recht traditionsverwurzelten Fächern wie der Romanistik. Es ist ein | |
| relativ weißer Kanon – es findet wenig statt, was Dekolonialisierung | |
| angeht. Es gibt zwar positive Ausnahmen, aber wir brauchen einen | |
| langfristigen Wandel. Wenn sich jemand denkt: Okay, bin ich drin, aber | |
| fühle mich als Arbeiter:inkind und/oder als nichtweißer Mensch trotzdem | |
| fehl am Platz. Ich denke, das ist das Hauptproblem. | |
| Sarah Arens (35) hat in Saarbrücken Romanistik studiert, in Edinburgh ihre | |
| Promotion in Postcolonial und Decolonial Studies verfasst und arbeitet | |
| heute als Wissenschaftlerin in St. Andrews, Großbritannien | |
| ## „Gerade arbeite ich auf meinem elften Vertrag“ | |
| Ich bin seit ungefähr zehn Jahren in der Wissenschaft. Promoviert habe ich | |
| in der Naturwissenschaft, nun forsche ich im Bereich der Medizin. Gerade | |
| arbeite ich auf meinem elften Vertrag. Mir wurde gesagt, dass das der | |
| letzte Vertrag ist. Das Interessante ist, dass mir das nie aufgefallen ist, | |
| weil es bei allen Kollegen so ist. Das ist total normal, dass man sowohl | |
| während als auch nach der Promotion nur ganz kurze Verträge bekommt und die | |
| dann auslaufen und man dann auf irgendwelchen Drittmitteln sitzt, wo man | |
| mit den Projekten auch gar nichts zu tun hat. Einfach, um irgendwie | |
| angestellt zu sein. Ich habe das nie hinterfragt. Jetzt habe ich gemerkt: | |
| Oh Gott, was sind das wirklich für prekäre Bedingungen, dass ich mich noch | |
| nicht mal darauf verlassen kann, dass das funktioniert. Mir ist bewusst | |
| geworden, dass das sehr endlich ist. Dass ich nicht lange dort bleiben | |
| kann. | |
| In meinem Umfeld haben alle einen Back-up-Plan. Viele von uns sind | |
| Psychologen oder auch Ärzte. Die meisten haben mit der | |
| Psychotherapie-Ausbildung oder mit der Psychiater-Fachausbildung | |
| angefangen, weil sie sagen: Mit der Wissenschaft wird es bei ihnen ja | |
| sowieso nichts. Ich war aber bisher erfolgreich. Ich habe nach meiner | |
| Promotion mehrere Preise bekommen und habe auch eine Publikation, die in | |
| einem sehr hoch angesehenen Journal veröffentlicht wurde. Davon war ich | |
| motiviert, ich habe gedacht: Bei mir könnte es doch vielleicht klappen. | |
| Aber ich habe zwei kleine Kinder, und ein langfristiger Weg in der | |
| Wissenschaft ist eigentlich wenig familienkompatibel. Ich müsste jetzt | |
| eigentlich noch mal unbedingt ins Ausland. Wie mache ich das mit meinem | |
| Mann und den kleinen Kindern? Ich brauche eigentlich in den nächsten zwei | |
| Jahren eine Juniorprofessur. In Berlin ist das quasi unmöglich zu bekommen. | |
| Ich habe mich schon viel beworben, habe das nie bekommen, es ist einfach | |
| unglaublich kompetetiv hier. Ich kann mir nicht aussuchen, wo ich wohne, | |
| wenn ich weiter in meinem Feld arbeiten möchte. Wir waren neulich kurz | |
| davor, ins Ausland zu ziehen, weil es da eine Stelle für mich gibt. Das | |
| haben wir doch nicht gemacht, weil die Kinderbetreuung 1.500 Dollar pro | |
| Kind kostet. | |
| Sich auf eine Professur zu bewerben ist nichts, was ich neben meinem | |
| Vollzeitjob schaffe. Das mache ich wirklich in meinem Feierabend. Ich habe | |
| auch noch zwei kleine Kinder, die fordern mich. Dazu Beziehungspflege und | |
| Freunde. Es ist ein sehr ungesunder Arbeitsstil. Ich habe dadurch keine | |
| Sekunde für mich. Der Druck ist extrem. Und gleichzeitig will ich es | |
| wirklich noch mal versuchen. | |
| Bis Dezember probiere ich es noch mal volle Kanne, das alles in die Bahn zu | |
| lenken, in die ich es lenken möchte, und dann, das habe ich meinem Mann | |
| versprochen, ziehe ich auch wirklich Alternativen außerhalb der | |
| Wissenschaft in Erwägung. Ich bin leidenschaftliche Wissenschaftlerin, ich | |
| liebe, was ich mache, deswegen ist es für mich umso trauriger, dass für | |
| mich dieser Traum, in diesem Bereich zu bleiben, nicht ermöglicht wird. | |
| Die Naturwissenschaftlerin (36) möchte anonym bleiben, da sie befürchtet, | |
| dass eine Veröffentlichung unter ihrem Klarnamen ihr Arbeitsverhältnis | |
| gefährden könnte. Ihre Identität ist der taz bekannt. | |
| 16 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.gew.de/wissenschaft/wissenschaftszeitvertragsgesetz/ | |
| [2] /Arbeitsbedingungen-an-Hochschulen/!5731570 | |
| [3] https://www.bmbf.de/de/ichbinhanna---antwort-des-bmbf-auf-die-diskussion-in… | |
| ## AUTOREN | |
| Nicole Opitz | |
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