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# taz.de -- Annalena Baerbock im Porträt: Keine Angst vor Turbulenzen
> Seit anderthalb Jahren ist Annalena Baerbock Außenministerin. Sie
> versucht, Prinzipien und Pragmatismus zu verbinden. Das gelingt nicht
> immer.
Bild: Der erste Härtetest: Annalena Baerbock bei einer Pressekonferenz mit Ser…
Kurz vor der Datumsgrenze erwischen die Turbulenzen den Airbus. Die kleine
Konferenzkabine im Regierungsflieger wird ordentlich durchgeschüttelt, die
Anschnallzeichen leuchten auf, die Außenministerin hat weiterhin gute
Laune.
Eine lange Reise liegt hinter ihr: Sechs Tage lang war sie in China,
Südkorea und Japan. Drei Stunden sind jetzt geschafft seit dem Abflug aus
Tokio, bis Berlin sind es noch mal elf. Der russische Luftraum ist tabu,
der Umweg führt in dieser Nacht Mitte April über den Pazifik und den
Nordpol.
Zeit genug also für eine Fragerunde mit den mitreisenden Journalist*innen,
die jetzt vor ihr sitzen – und deren Gesichter von Minute zu Minute blasser
werden: als erst das Auf und Ab der Maschine immer heftiger wird, als
irgendwann noch ein penetrantes Piepen einsetzt, als dann eine
Flugbegleiterin hereinplatzt und alle raus aus der Kabine und zurück auf
die Sitzplätze bittet. „Dann sehen wir uns später wieder“, sagt Baerbock
fröhlich zum Abschied. „Hoffentlich.“
Nervöses Lachen aus der Runde. Die Ministerin ist die Einzige, so scheint
es, der die Turbulenzen nichts ausmachen.
Seit anderthalb Jahren führt Annalena Baerbock das Außenministerium.
Gefühlt sind es der Umstände halber mindestens drei: Turbulent verläuft
schließlich auch das Weltgeschehen, seit sie im Amt ist. Zeit zur
Einarbeitung hatte sie nicht, Zeit zum Durchschnaufen auch nicht.
Doch so schwierig die Umstände sind, so nah ihr der Krieg in der Ukraine
geht und so viel Wirbel es auch um sie selbst zuweilen gibt: Einen
angeschlagenen Eindruck macht sie in diesen Tagen nicht. Im Gegenteil.
Persönlich könnte es ja auch schlechter laufen. Baerbock hat die 18 Monate
im Amt genutzt, um sich neu zu profilieren. Fast vergessen ist der
verkorkste Bundestagswahlkampf, zu dem sie als Spitzenkandidatin angetreten
war. Weit weg sind auch die skeptischen Fragen zu Beginn ihrer Amtszeit:
Kann sie es mit den Großen in der Welt aufnehmen? Sie, die zwar vier Jahre
Chefin einer Oppositionspartei war, aber noch nie ein Regierungsamt
innehatte? Und die als Frau – das schwang oft mit – von all den Männern auf
der internationalen Bühne doch nicht ernst genommen würde?
Sie brauchte nicht lang für die erste Antwort. Januar 2022: Sieben Wochen
nach ihrem Amtsantritt, kurz vor Beginn des Kriegs in der Ukraine,
[1][reist Baerbock nach Moskau]. Sie trifft dort Sergei Lawrow, seit knapp
zwei Jahrzehnten russischer Außenminister.
Während des Gesprächs hinter verschlossenen Türen, so erzählen es Baerbocks
Leute, übergibt ihr der Russe eine mehrseitige diplomatische Note. Er wirft
Deutschland darin einen Rechtsbruch beim Umgang mit der Pipeline Nord
Stream 2 vor, die zu diesem Zeitpunkt zwar noch intakt ist, aber nicht in
Betrieb gehen darf. Baerbock müsse sich das Dossier nicht sofort
durchlesen, sagt er, das sollen ihre Experten in Ruhe zu Hause machen.
Eine bekannte Taktik: Die deutsche Delegation geht davon aus, dass Lawrow
den Punkt schon ein paar Minuten später wieder ansprechen würde – dann vor
laufenden Kameras, während der gemeinsamen Pressekonferenz. Baerbock, die
in London ein Jahr lang Völkerrecht studiert hat, überfliegt das Papier
direkt. Die Überprüfung müsse sie nicht abwarten, entgegnet sie dann, auf
Seite 2 habe die Argumentation einen entscheidenden Fehler. Auf der
Pressekonferenz belässt es Lawrow danach bei einem einzigen Satz zur
Pipeline.
Baerbock hält vor den Kameras auch bestimmt dagegen, als es um den
russischen Aufmarsch an der ukrainischen Grenze geht. Ähnlich deutliche
Auftritte folgen ein halbes Jahr später bei ihrem Antrittsbesuch in
Istanbul und schließlich in diesem Frühjahr bei ihrer ersten Reise nach
Peking.
## Sie bekommt Lob, aber auch maßlose Kritik
Bei vielen kommt sie damit gut an. „Sie macht ihren Job deutlich besser,
als viele erwartet haben“, sagt der Grünen-Europapolitiker Anton Hofreiter,
der eigentlich nicht mehr gut auf Baerbock zu sprechen war, nachdem sie ihn
bei der Kabinettsbildung ausgebootet hatte. „In diesen Zeiten ist sie mit
ihrer Klarheit gegenüber Russland und China die richtige Person.“
Dieser Meinung sind nicht nur Grünen-Mitglieder. Trotz der Umfragenkrise
ihrer Partei steht die Außenministerin in allen Beliebtheitsrankings weit
oben. Vor ihr lag zuletzt nur Verteidigungsminister Boris Pistorius, der
noch nicht lange genug im Amt ist, um sich schon unbeliebt gemacht zu
haben.
Gleichzeitig polarisiert Baerbock aber auch. Der Vorwurf ihrer Gegner, für
die Weltbühne habe sie zu wenig Gewicht, ist nahtlos ins Gegenteil
umgeschlagen. Er lautet nun: Überall zerschlage Baerbock Porzellan.
„Was für ein Unfall, dass diese Frau Außenministerin geworden ist“, sagte
[2][kürzlich der Fernseh-Philosoph Richard David Precht]. Sie habe die
„moralische Inbrunst einer Klassensprecherin“.
„Manchmal sieht es so aus, als reise sie zu dem einzigen Zweck um die Welt,
den Anderen ihre Ansichten und Überzeugungen mitzuteilen“, [3][hieß es vor
zwei Wochen in der Welt].
Und international könne ja wohl nur Erfolg haben, „wer mit vielen Fragen in
Gespräche hineingeht“ und „nicht predigend mit erhobenem Zeigefinger
herumläuft“, sagte im letzten Spätsommer …
Nun ja, der letzte Satz stammt von Annalena Baerbock selbst. Er fiel im
September, als die Außenministerin zum ersten Mal in ihrer Amtszeit die
deutschen Botschafter*innen aus aller Welt zu einer Konferenz nach
Berlin kommen ließ. Unter den Kronleuchtern im Weltsaal ihres Ministeriums
erklärte sie dort, wie sie sich die Grundzüge ihrer Außenpolitik vorstellt.
Von den Schlagworten, die sonst gemeinhin mit ihrem Kurs verknüpft sind,
war wenig zu hören. [4][Von einer „wertegeleiteten Außenpolitik“, die sie
vor ihrem Amtsantritt angekündigt hatte], sprach Baerbock nicht. Seit sie
regiert, verwendet sie den Begriff ohnehin sparsam. Im Weltsaal beschreibt
die Außenministerin ihren Kurs stattdessen mit einem Dreiklang, der
Ausgewogenheit signalisieren soll: „Wertefest“, sagt sie zwar. Aber auch:
„interessengeleitet und lösungsorientiert“.
Als Grünen-Chefin arbeitete Baerbock früher zusammen mit Robert Habeck
daran, dass sich die Partei eine neue Haltung zulegt. Sie wollten wegkommen
von der „moralischen Erziehung des Menschengeschlechts“, wie es Habeck vor
zehn Jahren nach einer verlorenen Bundestagswahl ausdrückte. Nimmt man
Baerbock beim Wort, hat sie diesen Vorsatz auch für ihre Außenpolitik
gefasst.
Und das ist nicht ausschließlich Rhetorik. Thorsten Benner beschäftigt sich
am [5][Global Public Policy Institute] in Berlin mit internationaler
Politik. „Annalena Baerbock hat dem Begriff der ‚wertegeleiteten
Außenpolitik‘ zwar nie explizit abgeschworen“, sagt er. „Ihre reale
Außenpolitik lässt sich mit so einem Mantra aber überhaupt nicht
beschreiben. Sie hat oft einen extrem pragmatischen Ansatz.“
Es gibt viele Gründe dafür, dass das öffentliche Bild der Außenministerin
damit nicht immer übereinstimmt. Einer ist, dass sich ein Image nun mal
nicht von einem Tag auf den nächsten ändert. Ein anderer, dass bei Baerbock
in vielen Fällen nicht auf Anhieb erkennbar ist, ob sie eine Entscheidung
aufgrund der Moral oder aufgrund der Nützlichkeit getroffen hat. Oft führen
bei ihr beide Wege zum gleichen Ergebnis.
Ein Mittwochabend Anfang Mai: Im Lichthof, dem riesigen Foyer des
Außenministeriums, spielt Baerbock Fußball. Im August findet die
Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland statt, die Außenministerin
wird vor Ort sein und jetzt hat sie schon mal zu einer Vorab-Veranstaltung
eingeladen. Mit Nachwuchsspielerinnen des SV Siemensstadt schießt sie auf
ein Mini-Tor. Ihre drei Versuche gehen zwar drüber, aber es entstehen mal
wieder gute Fotos. „Gute Haltung“, heißt es später auf Twitter.
Vor den Schussübungen sitzt sie mit dem DFB-Präsidenten und der
Nationaltrainerin auf dem Podium. Sie erzählt von ihrer Reise in den
Nordirak, wo sie im März ebenfalls gekickt hat – mit Flüchtlingsmädchen auf
einem Bolzplatz, der von Deutschland finanziert wurde. Das Projekt verkauft
sie an diesem Abend als Standortmarketing für den deutschen Arbeitsmarkt:
Wenn die irakischen Spielerinnen mal erwachsen seien und überlegten, als
Fachkräfte in ein anderes Land zu gehen – dann dächten sie hoffentlich an
Deutschland.
Ähnlich argumentiert Baerbock auch bei anderen Themen. Ob es um die
Leitlinien zur feministischen Außenpolitik geht oder um Menschenrechte in
China: Immer findet sie eine Begründung, warum ihre Forderungen gut für die
deutsche Wirtschaft seien. „Sie bringt Prinzipien und Pragmatismus nahtlos
zusammen“, [6][schrieb US-Außenminister Antony Blinken im vergangenen Jahr
im Time-Magazin über seine deutsche Kollegin].
## Werte und Interessen passen nicht immer zusammen
Es gibt aber auch Fälle, in denen sich Werte und Interessen nicht so gut
übereinanderlegen lassen. Da wird es mitunter auch für Baerbock schwierig.
Ein Samstag im Oktober 2022: Baerbock steht auf der Bühne des
Konferenzzentrums im Bonner Bundesviertel, wo die Grünen zum Parteitag
zusammengekommen sind. Wenige Tage zuvor ist bekannt geworden, dass die
Bundesregierung der Lieferung von Kampfjet-Teilen für Saudi-Arabien
zugestimmt hat – trotz saudischer Völkerrechtsbrüche im Jemen-Krieg. Wie
erklärt man das jetzt den Delegierten?
Baerbocks Rechtfertigung: Eine Ablehnung hätte in Zukunft gemeinsame
europäische Rüstungsprojekte erschwert. Die Bundeswehr müsste dann mehr
Geld für ihre Waffen ausgeben und der Regierung blieben keine Mittel für
die Kindergrundsicherung.
Es ist eine sehr spezielle Art, zu sagen, dass Geld und gute Beziehungen
manchmal doch wichtiger sind als Menschenrechte. Kräftigen Applaus gibt es
nach der Rede zwar. Die Partei mag ihre Außenministerin. Abseits der Bühne
bekommt Baerbock später aber mehr als einmal die Rückmeldung: Das war
nichts.
Zu der Zeit hat sie noch ein anderes Problem. In Iran sind kurz zuvor die
Proteste gegen das dortige Regime angelaufen. Es dauert ein paar Tage, bis
das Auswärtige Amt einen ersten Kommentar dazu absetzt. Zu spät und zu
wenig, heißt es daraufhin von Aktivist*innen. Die feministische
Außenministerin verschläft eine feministische Revolte: Man kann sich
vorstellen, dass sie der Vorwurf getroffen hat.
Ihr Plan, um in die Offensive zu kommen, ist eine Sondersitzung des
UN-Menschenrechtsrats. Das Gremium in Genf soll eine Kommission einsetzen,
die die Repressionen gegen die Opposition untersucht. Baerbocks
Berater*innen in Berlin raten ihr fast einstimmig davon ab, persönlich
zu der Sitzung zu reisen. Der Apparat befürchtet, dass die Resolution die
Mehrheit ohnehin verfehlt. Er will nicht, dass die Ministerin zu sehr damit
verbunden wird. Sie zieht aber durch.
Ein Grüner, der früher mit der jungen Abgeordneten Baerbock im
Wirtschaftsausschuss des Bundestags saß, erinnert sich an einen
Charakterzug: „Wenn sie sich in einer Angelegenheit eine Meinung gebildet
hat, dann war sie fundiert – und es brauchte schon sehr gute Argumente, um
mit ihr darüber in die Diskussion gehen zu können.“
Wer weniger wohlwollend über Baerbock denkt, empfindet diese Eigenschaft
vielleicht als selbstgerecht. Wer sie mag, als selbstbewusst. Ihre Kühnheit
hat ihr in ihrer Karriere auf jeden Fall oft geholfen, hat ihr innerhalb
weniger Jahre den Aufstieg zum Parteivorsitz, die Kanzlerkandidatur und das
Amt der Außenministerin eingebracht. Und sie hilft auch jetzt wieder:
[7][Zusammen mit ihrer isländischen Amtskollegin kann sie 25 Staaten aus
sechs Kontinenten von der Iran-Resolution überzeugen – eine Mehrheit im
Menschenrechtsrat.]
Kritik an Baerbocks Iran-Politik gibt es zwar immer noch. Der Vorwurf, sie
mache zu wenig, hält sich. Seit der Abstimmung im November kann sie aber
zumindest auf einen Erfolg verweisen.
Gleichzeitig wirkt das Zustandekommen der Resolution dem Eindruck entgegen,
die Außenministerin kenne nur den Angriffsmodus und sei zur klassischen
Diplomatie nicht in der Lage. In ihrem Umfeld im Auswärtigen Amt stellt man
ohnehin infrage, dass Baerbock international außergewöhnlich krawallig
auftritt. „Die letzten Pressekonferenzen von Heiko Maas mit Lawrow oder den
Chinesen waren auch sehr konfrontativ. Damals wurde das aber als Ergebnis
der gegensätzlichen Positionen gewertet, nicht als sein persönlicher Stil“,
sagt einer ihrer Vertrauten.
Tatsächlich sind erstaunlicherweise noch nicht mal fundamentale
Unterschiede zu erkennen, wenn man Baerbocks Antrittsbesuch in China mit
dem des Bundeskanzlers vergleicht. Chinesische Markteingriffe, der Abbau
wirtschaftlicher Abhängigkeiten, Pekings Einfluss auf Moskau, die
Menschenrechtslage und der Streit um Taiwan: Beide sprechen all das an.
Auch die Wortwahl unterscheidet sich nur graduell. Man kann ein schönes
Quiz spielen, in dem man sich gegenseitig Sätze aus den jeweiligen
Pressekonferenzen in Peking vorliest und dann raten lässt, wer was gesagt
hat.
„Ich habe deutlich gemacht, dass eine Veränderung des Status quo von Taiwan
nur friedlich und im gegenseitigen Einvernehmen erfolgen darf.“
„Eine einseitige und erst recht gewaltsame Änderung des Status quo wäre für
uns als Europäer nicht akzeptabel.“
(Antwort: oben Scholz, unten Baerbock)
Überhaupt: Fundamental über Kreuz sind der Kanzler und die Außenministerin
offenbar nicht mehr. Ihre Stile unterscheiden sich zwar voneinander, einige
ihrer politischen Überzeugungen auch. Den Streit über das Tempo der
Waffenhilfe für die Ukraine führten sie im letzten Jahr tatsächlich
erbittert. Die Bundesregierung war außenpolitisch gespalten. [8][Die Zeit
schrieb, dass die beiden über Wochen nicht richtig miteinander gesprochen
hätten.]
Seit das Thema Waffen aber durch ist und Deutschland sogar Kampfpanzer
liefert, hat sich das Verhältnis beruhigt. Erkennbar bemühen sie sich
jetzt, Differenzen nicht öffentlich auszutragen.
„Unsere Rollen sind unterschiedlich und es ist ein Mehrwert, wenn man sich
ergänzt. Im Zweifel kann man dadurch mehr erreichen“, sagt Baerbock dazu.
Auf der Gegenseite muss man schon die Regierungsebene verlassen und sich
durch die SPD-Bundestagsfraktion telefonieren, um Kritisches über die
Außenministerin zu hören. Und selbst dort klingen die Vorhaltungen
mittlerweile zahm.
„Ich finde, dass im Auswärtigen Amt neben der militärischen Unterstützung
für die Ukraine auch diplomatische Bemühungen eine größere Rolle spielen
sollten“, sagt der SPD-Außenpolitiker Michael Müller zwar immer noch. „Ab…
über die letzten Monate hat sich etwas verändert. Die Ministerin hat den
erhobenen Zeigefinger nicht mehr ganz so schnell oben und agiert nicht in
Konkurrenz zum Kanzleramt. Offensichtlich ist mittlerweile die
Rollenverteilung in der Regierung akzeptiert.“
## Image und Wirklichkeit
Ist am Image der Klartext-Ministerin denn gar nichts mehr dran? Handelt es
sich nur um eine kollektiv verzerrte Wahrnehmung? Ganz so ist es auch
wieder nicht.
Zurück in den Weltsaal des Außenministeriums, wo Baerbock ihren
Botschafter*innen unter riesigen Kronleuchtern ihre Politik erklärt.
Diplomatie im 21. Jahrhundert sei auch ein Kampf um Narrative, sagt sie.
Und deswegen gehe es manchmal durchaus darum, hart dagegenzuhalten.
Als Beispiel nennt sie die Diskussion um Lebensmittel aus der Ukraine und
Russland, die kurz nach Kriegsbeginn aufflammte. Dass die
Nahrungsmittelpreise auf dem Weltmarkt stiegen, sei die Schuld des Westens,
behauptete Moskau damals. Neue Sanktionen verhinderten den Export
russischen Getreides. International breitete sich diese Erzählung rasch
aus.
„Wenn wir das danach zurückholen wollen, dann braucht man im Zweifel auch
eine harte Sprache“, sagt Baerbock in ihrer Rede. Je zugespitzter man
formuliert, desto eher dringt man durch: Das russische Narrativ konterte
sie, indem sie fortan von einem „Kornkrieg“ sprach, den Moskau durch die
Blockade ukrainischer Häfen führe.
Und wenn die Gegenseite dann ihrerseits eine Schippe drauflegt? „Ein
Shitstorm bedeutet nicht nur, dass manche es anders sehen“, sagt die
Außenministerin vor ihren Botschafter*innen. „Sondern er bedeutet auch,
dass man gehört worden ist. Darauf kommt es in diesen Tagen an.“
Es ist ein wenig wie im Flugzeug über dem Pazifik: Keine Angst vor
Turbulenzen. Natürlich widerspricht das aber der klassischen Vorstellung
von Diplomatie, die vorsichtig formuliert und die Form stets wahrt. Der
Ansatz ist neu, und so ist es kein Wunder, dass er manche irritiert. Zumal
wenn das Vertrauen fehlt, dass tatsächlich jede Zuspitzung wohlüberlegt
ist.
Mitte Februar, 90 Meter unter der Erde: In Helsinki besichtigt die
Außenministerin einen Zivilschutzbunker, in dem im Notfall 6.000 Menschen
Platz finden würden – gut geschützt sogar vor einem Angriff mit Atomwaffen.
Ehrenamtliche zeigen ihr, wie sie in dem Fall den Eingang luftdicht
versiegeln würden.
Die Stimmung ist fröhlich. Baerbock ist gut darin, bei solchen Begegnungen
eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Ihre Fragen wirken nicht bemüht,
sondern zugewandt. Mit ihrer Art baut sie schnell eine Bindung: hier ein
Scherz, da eine Anekdote, dort noch ein neuer Gedanke zum Thema – alles
sehr schnell aufeinander. Manchmal aber auch zu schnell.
Nach einer halben Stunde, als der Termin vorbei ist, sollen die
Helfer*innen die Bunkertür wieder öffnen. „Unfortunately there was no
attack“, sagt Baerbock. Es gab ja leider keinen Angriff.
Zum Glück ist dieses Mal keine Kamera dabei. Anders als bei einigen anderen
Anlässen, bei denen der Ministerin nicht nur ihr Hang zur Spontaneität in
die Quere kam, sondern eben auch der zur Zuspitzung. Im Januar zum
Beispiel, als sie in Straßburg im Europarat sagte: „We are fighting a war
against Russia.“ Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland.
Richtig einfangen konnte ihr Ministerium den Satz bis heute nicht. Erst
Mitte Mai wurde Baerbock auf einer Pressekonferenz von einer chinesischen
Journalistin schon wieder darauf angesprochen.
„Das ist eine ihrer Schwächen: Dinge zu überhöhen und zu übertreiben“, …
ein Grüner. Schon zu ihren Zeiten als Parteichefin galten ihre zuweilen
steilen Sprüche intern als Schwachstelle. Sie ärgere sich hinterher
fürchterlich über ihre Fehler, hieß es damals stets aus ihrer Pressestelle.
Aus ihrem neuen Umfeld im Ministerium klingt sie jetzt genauso: „Sie hat
sich über solche Sätze sehr geärgert. Aber sie will sie auch nicht um den
Preis vermeiden, dass sie nur noch Phrasen vom Sprechzettel liest.“
Vielleicht ist das auch ihr größtes Manko, falls sie noch mal nach der
Kandidatur fürs Kanzleramt greift. Im Laufe des nächsten Jahres werden die
Grünen voraussichtlich klären, wen sie 2025 ins Rennen schicken. Nach der
verlorenen letzten Bundestagswahl schien klar, dass dann Robert Habeck an
der Reihe ist. Baerbock hatte schließlich ihre Chance.
Das Argument zählt immer noch. Mittlerweile hat sie sich im Amt aber neu
profiliert, während das Regieren den einstigen Medienstar Habeck entzaubert
hat. Auch nach dem Rauswurf seines Staatssekretärs Patrick Graichen steht
er im Gegenwind. Bis die Entscheidung über die Kandidatur nächstes Jahr
ansteht, kann sich die Geschichte zwar noch mehrmals wenden, für eine
Prognose ist es zu früh. Aber als chancenlos gilt Baerbock heute nicht
mehr.
Zumal sie ihrem Konkurrenten eines noch immer voraus hat: Um die Partei
bemüht sie sich stärker. Im vergangenen September, die mehrtägige Konferenz
der Botschafter*innen im Ministerium läuft noch, klinkt sie sich für
einen Abend aus. Die Bundestagsfraktion hat zu ihrem Jahresempfang geladen.
Es ist ein lauer Spätsommerabend auf einem ehemaligen Bahnhofsgelände in
Berlin-Pankow, hunderte Gäste sind da. Baerbock bleibt bis nach
Mitternacht, nimmt sich Zeit für die eigenen Leute.
Robert Habeck sitzt an dem Abend in der Talkshow von Sandra Maischberger.
Die Moderatorin fragt, ob wegen der hohen Energiepreise eine Pleitewelle
drohe. Habeck spricht minutenlang über Bäckereien, die nicht in die
Insolvenz gehen müssten, nur weil sie keine Brötchen mehr verkaufen. Beim
Fernsehpublikum weckt das mehr Zweifel als Vertrauen.
Zumindest an diesem Abend hat nicht Baerbock das Porzellan zerschlagen.
28 May 2023
## LINKS
[1] /Treffen-Baerbock-und-Lawrow/!5826151
[2] https://www.rnd.de/politik/precht-zieht-ueber-baerbock-her-was-fuer-ein-unf…
[3] https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus245221170/Annalena-Baerbock-Man-…
[4] /Annalena-Baerbock-ueber-Aussenpolitik/!5819421
[5] https://gppi.net/team/thorsten-benner
[6] https://time.com/collection/time100-next-2022/6213908/annalena-baerbock/
[7] /Beschluss-des-UN-Menschenrechtsrats/!5897799
[8] https://www.zeit.de/2023/07/panzer-lieferungen-annalena-baerbock-olaf-schol…
## AUTOREN
Tobias Schulze
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