# taz.de -- Annalena Baerbock im Porträt: Keine Angst vor Turbulenzen | |
> Seit anderthalb Jahren ist Annalena Baerbock Außenministerin. Sie | |
> versucht, Prinzipien und Pragmatismus zu verbinden. Das gelingt nicht | |
> immer. | |
Bild: Der erste Härtetest: Annalena Baerbock bei einer Pressekonferenz mit Ser… | |
Kurz vor der Datumsgrenze erwischen die Turbulenzen den Airbus. Die kleine | |
Konferenzkabine im Regierungsflieger wird ordentlich durchgeschüttelt, die | |
Anschnallzeichen leuchten auf, die Außenministerin hat weiterhin gute | |
Laune. | |
Eine lange Reise liegt hinter ihr: Sechs Tage lang war sie in China, | |
Südkorea und Japan. Drei Stunden sind jetzt geschafft seit dem Abflug aus | |
Tokio, bis Berlin sind es noch mal elf. Der russische Luftraum ist tabu, | |
der Umweg führt in dieser Nacht Mitte April über den Pazifik und den | |
Nordpol. | |
Zeit genug also für eine Fragerunde mit den mitreisenden Journalist*innen, | |
die jetzt vor ihr sitzen – und deren Gesichter von Minute zu Minute blasser | |
werden: als erst das Auf und Ab der Maschine immer heftiger wird, als | |
irgendwann noch ein penetrantes Piepen einsetzt, als dann eine | |
Flugbegleiterin hereinplatzt und alle raus aus der Kabine und zurück auf | |
die Sitzplätze bittet. „Dann sehen wir uns später wieder“, sagt Baerbock | |
fröhlich zum Abschied. „Hoffentlich.“ | |
Nervöses Lachen aus der Runde. Die Ministerin ist die Einzige, so scheint | |
es, der die Turbulenzen nichts ausmachen. | |
Seit anderthalb Jahren führt Annalena Baerbock das Außenministerium. | |
Gefühlt sind es der Umstände halber mindestens drei: Turbulent verläuft | |
schließlich auch das Weltgeschehen, seit sie im Amt ist. Zeit zur | |
Einarbeitung hatte sie nicht, Zeit zum Durchschnaufen auch nicht. | |
Doch so schwierig die Umstände sind, so nah ihr der Krieg in der Ukraine | |
geht und so viel Wirbel es auch um sie selbst zuweilen gibt: Einen | |
angeschlagenen Eindruck macht sie in diesen Tagen nicht. Im Gegenteil. | |
Persönlich könnte es ja auch schlechter laufen. Baerbock hat die 18 Monate | |
im Amt genutzt, um sich neu zu profilieren. Fast vergessen ist der | |
verkorkste Bundestagswahlkampf, zu dem sie als Spitzenkandidatin angetreten | |
war. Weit weg sind auch die skeptischen Fragen zu Beginn ihrer Amtszeit: | |
Kann sie es mit den Großen in der Welt aufnehmen? Sie, die zwar vier Jahre | |
Chefin einer Oppositionspartei war, aber noch nie ein Regierungsamt | |
innehatte? Und die als Frau – das schwang oft mit – von all den Männern auf | |
der internationalen Bühne doch nicht ernst genommen würde? | |
Sie brauchte nicht lang für die erste Antwort. Januar 2022: Sieben Wochen | |
nach ihrem Amtsantritt, kurz vor Beginn des Kriegs in der Ukraine, | |
[1][reist Baerbock nach Moskau]. Sie trifft dort Sergei Lawrow, seit knapp | |
zwei Jahrzehnten russischer Außenminister. | |
Während des Gesprächs hinter verschlossenen Türen, so erzählen es Baerbocks | |
Leute, übergibt ihr der Russe eine mehrseitige diplomatische Note. Er wirft | |
Deutschland darin einen Rechtsbruch beim Umgang mit der Pipeline Nord | |
Stream 2 vor, die zu diesem Zeitpunkt zwar noch intakt ist, aber nicht in | |
Betrieb gehen darf. Baerbock müsse sich das Dossier nicht sofort | |
durchlesen, sagt er, das sollen ihre Experten in Ruhe zu Hause machen. | |
Eine bekannte Taktik: Die deutsche Delegation geht davon aus, dass Lawrow | |
den Punkt schon ein paar Minuten später wieder ansprechen würde – dann vor | |
laufenden Kameras, während der gemeinsamen Pressekonferenz. Baerbock, die | |
in London ein Jahr lang Völkerrecht studiert hat, überfliegt das Papier | |
direkt. Die Überprüfung müsse sie nicht abwarten, entgegnet sie dann, auf | |
Seite 2 habe die Argumentation einen entscheidenden Fehler. Auf der | |
Pressekonferenz belässt es Lawrow danach bei einem einzigen Satz zur | |
Pipeline. | |
Baerbock hält vor den Kameras auch bestimmt dagegen, als es um den | |
russischen Aufmarsch an der ukrainischen Grenze geht. Ähnlich deutliche | |
Auftritte folgen ein halbes Jahr später bei ihrem Antrittsbesuch in | |
Istanbul und schließlich in diesem Frühjahr bei ihrer ersten Reise nach | |
Peking. | |
## Sie bekommt Lob, aber auch maßlose Kritik | |
Bei vielen kommt sie damit gut an. „Sie macht ihren Job deutlich besser, | |
als viele erwartet haben“, sagt der Grünen-Europapolitiker Anton Hofreiter, | |
der eigentlich nicht mehr gut auf Baerbock zu sprechen war, nachdem sie ihn | |
bei der Kabinettsbildung ausgebootet hatte. „In diesen Zeiten ist sie mit | |
ihrer Klarheit gegenüber Russland und China die richtige Person.“ | |
Dieser Meinung sind nicht nur Grünen-Mitglieder. Trotz der Umfragenkrise | |
ihrer Partei steht die Außenministerin in allen Beliebtheitsrankings weit | |
oben. Vor ihr lag zuletzt nur Verteidigungsminister Boris Pistorius, der | |
noch nicht lange genug im Amt ist, um sich schon unbeliebt gemacht zu | |
haben. | |
Gleichzeitig polarisiert Baerbock aber auch. Der Vorwurf ihrer Gegner, für | |
die Weltbühne habe sie zu wenig Gewicht, ist nahtlos ins Gegenteil | |
umgeschlagen. Er lautet nun: Überall zerschlage Baerbock Porzellan. | |
„Was für ein Unfall, dass diese Frau Außenministerin geworden ist“, sagte | |
[2][kürzlich der Fernseh-Philosoph Richard David Precht]. Sie habe die | |
„moralische Inbrunst einer Klassensprecherin“. | |
„Manchmal sieht es so aus, als reise sie zu dem einzigen Zweck um die Welt, | |
den Anderen ihre Ansichten und Überzeugungen mitzuteilen“, [3][hieß es vor | |
zwei Wochen in der Welt]. | |
Und international könne ja wohl nur Erfolg haben, „wer mit vielen Fragen in | |
Gespräche hineingeht“ und „nicht predigend mit erhobenem Zeigefinger | |
herumläuft“, sagte im letzten Spätsommer … | |
Nun ja, der letzte Satz stammt von Annalena Baerbock selbst. Er fiel im | |
September, als die Außenministerin zum ersten Mal in ihrer Amtszeit die | |
deutschen Botschafter*innen aus aller Welt zu einer Konferenz nach | |
Berlin kommen ließ. Unter den Kronleuchtern im Weltsaal ihres Ministeriums | |
erklärte sie dort, wie sie sich die Grundzüge ihrer Außenpolitik vorstellt. | |
Von den Schlagworten, die sonst gemeinhin mit ihrem Kurs verknüpft sind, | |
war wenig zu hören. [4][Von einer „wertegeleiteten Außenpolitik“, die sie | |
vor ihrem Amtsantritt angekündigt hatte], sprach Baerbock nicht. Seit sie | |
regiert, verwendet sie den Begriff ohnehin sparsam. Im Weltsaal beschreibt | |
die Außenministerin ihren Kurs stattdessen mit einem Dreiklang, der | |
Ausgewogenheit signalisieren soll: „Wertefest“, sagt sie zwar. Aber auch: | |
„interessengeleitet und lösungsorientiert“. | |
Als Grünen-Chefin arbeitete Baerbock früher zusammen mit Robert Habeck | |
daran, dass sich die Partei eine neue Haltung zulegt. Sie wollten wegkommen | |
von der „moralischen Erziehung des Menschengeschlechts“, wie es Habeck vor | |
zehn Jahren nach einer verlorenen Bundestagswahl ausdrückte. Nimmt man | |
Baerbock beim Wort, hat sie diesen Vorsatz auch für ihre Außenpolitik | |
gefasst. | |
Und das ist nicht ausschließlich Rhetorik. Thorsten Benner beschäftigt sich | |
am [5][Global Public Policy Institute] in Berlin mit internationaler | |
Politik. „Annalena Baerbock hat dem Begriff der ‚wertegeleiteten | |
Außenpolitik‘ zwar nie explizit abgeschworen“, sagt er. „Ihre reale | |
Außenpolitik lässt sich mit so einem Mantra aber überhaupt nicht | |
beschreiben. Sie hat oft einen extrem pragmatischen Ansatz.“ | |
Es gibt viele Gründe dafür, dass das öffentliche Bild der Außenministerin | |
damit nicht immer übereinstimmt. Einer ist, dass sich ein Image nun mal | |
nicht von einem Tag auf den nächsten ändert. Ein anderer, dass bei Baerbock | |
in vielen Fällen nicht auf Anhieb erkennbar ist, ob sie eine Entscheidung | |
aufgrund der Moral oder aufgrund der Nützlichkeit getroffen hat. Oft führen | |
bei ihr beide Wege zum gleichen Ergebnis. | |
Ein Mittwochabend Anfang Mai: Im Lichthof, dem riesigen Foyer des | |
Außenministeriums, spielt Baerbock Fußball. Im August findet die | |
Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland statt, die Außenministerin | |
wird vor Ort sein und jetzt hat sie schon mal zu einer Vorab-Veranstaltung | |
eingeladen. Mit Nachwuchsspielerinnen des SV Siemensstadt schießt sie auf | |
ein Mini-Tor. Ihre drei Versuche gehen zwar drüber, aber es entstehen mal | |
wieder gute Fotos. „Gute Haltung“, heißt es später auf Twitter. | |
Vor den Schussübungen sitzt sie mit dem DFB-Präsidenten und der | |
Nationaltrainerin auf dem Podium. Sie erzählt von ihrer Reise in den | |
Nordirak, wo sie im März ebenfalls gekickt hat – mit Flüchtlingsmädchen auf | |
einem Bolzplatz, der von Deutschland finanziert wurde. Das Projekt verkauft | |
sie an diesem Abend als Standortmarketing für den deutschen Arbeitsmarkt: | |
Wenn die irakischen Spielerinnen mal erwachsen seien und überlegten, als | |
Fachkräfte in ein anderes Land zu gehen – dann dächten sie hoffentlich an | |
Deutschland. | |
Ähnlich argumentiert Baerbock auch bei anderen Themen. Ob es um die | |
Leitlinien zur feministischen Außenpolitik geht oder um Menschenrechte in | |
China: Immer findet sie eine Begründung, warum ihre Forderungen gut für die | |
deutsche Wirtschaft seien. „Sie bringt Prinzipien und Pragmatismus nahtlos | |
zusammen“, [6][schrieb US-Außenminister Antony Blinken im vergangenen Jahr | |
im Time-Magazin über seine deutsche Kollegin]. | |
## Werte und Interessen passen nicht immer zusammen | |
Es gibt aber auch Fälle, in denen sich Werte und Interessen nicht so gut | |
übereinanderlegen lassen. Da wird es mitunter auch für Baerbock schwierig. | |
Ein Samstag im Oktober 2022: Baerbock steht auf der Bühne des | |
Konferenzzentrums im Bonner Bundesviertel, wo die Grünen zum Parteitag | |
zusammengekommen sind. Wenige Tage zuvor ist bekannt geworden, dass die | |
Bundesregierung der Lieferung von Kampfjet-Teilen für Saudi-Arabien | |
zugestimmt hat – trotz saudischer Völkerrechtsbrüche im Jemen-Krieg. Wie | |
erklärt man das jetzt den Delegierten? | |
Baerbocks Rechtfertigung: Eine Ablehnung hätte in Zukunft gemeinsame | |
europäische Rüstungsprojekte erschwert. Die Bundeswehr müsste dann mehr | |
Geld für ihre Waffen ausgeben und der Regierung blieben keine Mittel für | |
die Kindergrundsicherung. | |
Es ist eine sehr spezielle Art, zu sagen, dass Geld und gute Beziehungen | |
manchmal doch wichtiger sind als Menschenrechte. Kräftigen Applaus gibt es | |
nach der Rede zwar. Die Partei mag ihre Außenministerin. Abseits der Bühne | |
bekommt Baerbock später aber mehr als einmal die Rückmeldung: Das war | |
nichts. | |
Zu der Zeit hat sie noch ein anderes Problem. In Iran sind kurz zuvor die | |
Proteste gegen das dortige Regime angelaufen. Es dauert ein paar Tage, bis | |
das Auswärtige Amt einen ersten Kommentar dazu absetzt. Zu spät und zu | |
wenig, heißt es daraufhin von Aktivist*innen. Die feministische | |
Außenministerin verschläft eine feministische Revolte: Man kann sich | |
vorstellen, dass sie der Vorwurf getroffen hat. | |
Ihr Plan, um in die Offensive zu kommen, ist eine Sondersitzung des | |
UN-Menschenrechtsrats. Das Gremium in Genf soll eine Kommission einsetzen, | |
die die Repressionen gegen die Opposition untersucht. Baerbocks | |
Berater*innen in Berlin raten ihr fast einstimmig davon ab, persönlich | |
zu der Sitzung zu reisen. Der Apparat befürchtet, dass die Resolution die | |
Mehrheit ohnehin verfehlt. Er will nicht, dass die Ministerin zu sehr damit | |
verbunden wird. Sie zieht aber durch. | |
Ein Grüner, der früher mit der jungen Abgeordneten Baerbock im | |
Wirtschaftsausschuss des Bundestags saß, erinnert sich an einen | |
Charakterzug: „Wenn sie sich in einer Angelegenheit eine Meinung gebildet | |
hat, dann war sie fundiert – und es brauchte schon sehr gute Argumente, um | |
mit ihr darüber in die Diskussion gehen zu können.“ | |
Wer weniger wohlwollend über Baerbock denkt, empfindet diese Eigenschaft | |
vielleicht als selbstgerecht. Wer sie mag, als selbstbewusst. Ihre Kühnheit | |
hat ihr in ihrer Karriere auf jeden Fall oft geholfen, hat ihr innerhalb | |
weniger Jahre den Aufstieg zum Parteivorsitz, die Kanzlerkandidatur und das | |
Amt der Außenministerin eingebracht. Und sie hilft auch jetzt wieder: | |
[7][Zusammen mit ihrer isländischen Amtskollegin kann sie 25 Staaten aus | |
sechs Kontinenten von der Iran-Resolution überzeugen – eine Mehrheit im | |
Menschenrechtsrat.] | |
Kritik an Baerbocks Iran-Politik gibt es zwar immer noch. Der Vorwurf, sie | |
mache zu wenig, hält sich. Seit der Abstimmung im November kann sie aber | |
zumindest auf einen Erfolg verweisen. | |
Gleichzeitig wirkt das Zustandekommen der Resolution dem Eindruck entgegen, | |
die Außenministerin kenne nur den Angriffsmodus und sei zur klassischen | |
Diplomatie nicht in der Lage. In ihrem Umfeld im Auswärtigen Amt stellt man | |
ohnehin infrage, dass Baerbock international außergewöhnlich krawallig | |
auftritt. „Die letzten Pressekonferenzen von Heiko Maas mit Lawrow oder den | |
Chinesen waren auch sehr konfrontativ. Damals wurde das aber als Ergebnis | |
der gegensätzlichen Positionen gewertet, nicht als sein persönlicher Stil“, | |
sagt einer ihrer Vertrauten. | |
Tatsächlich sind erstaunlicherweise noch nicht mal fundamentale | |
Unterschiede zu erkennen, wenn man Baerbocks Antrittsbesuch in China mit | |
dem des Bundeskanzlers vergleicht. Chinesische Markteingriffe, der Abbau | |
wirtschaftlicher Abhängigkeiten, Pekings Einfluss auf Moskau, die | |
Menschenrechtslage und der Streit um Taiwan: Beide sprechen all das an. | |
Auch die Wortwahl unterscheidet sich nur graduell. Man kann ein schönes | |
Quiz spielen, in dem man sich gegenseitig Sätze aus den jeweiligen | |
Pressekonferenzen in Peking vorliest und dann raten lässt, wer was gesagt | |
hat. | |
„Ich habe deutlich gemacht, dass eine Veränderung des Status quo von Taiwan | |
nur friedlich und im gegenseitigen Einvernehmen erfolgen darf.“ | |
„Eine einseitige und erst recht gewaltsame Änderung des Status quo wäre für | |
uns als Europäer nicht akzeptabel.“ | |
(Antwort: oben Scholz, unten Baerbock) | |
Überhaupt: Fundamental über Kreuz sind der Kanzler und die Außenministerin | |
offenbar nicht mehr. Ihre Stile unterscheiden sich zwar voneinander, einige | |
ihrer politischen Überzeugungen auch. Den Streit über das Tempo der | |
Waffenhilfe für die Ukraine führten sie im letzten Jahr tatsächlich | |
erbittert. Die Bundesregierung war außenpolitisch gespalten. [8][Die Zeit | |
schrieb, dass die beiden über Wochen nicht richtig miteinander gesprochen | |
hätten.] | |
Seit das Thema Waffen aber durch ist und Deutschland sogar Kampfpanzer | |
liefert, hat sich das Verhältnis beruhigt. Erkennbar bemühen sie sich | |
jetzt, Differenzen nicht öffentlich auszutragen. | |
„Unsere Rollen sind unterschiedlich und es ist ein Mehrwert, wenn man sich | |
ergänzt. Im Zweifel kann man dadurch mehr erreichen“, sagt Baerbock dazu. | |
Auf der Gegenseite muss man schon die Regierungsebene verlassen und sich | |
durch die SPD-Bundestagsfraktion telefonieren, um Kritisches über die | |
Außenministerin zu hören. Und selbst dort klingen die Vorhaltungen | |
mittlerweile zahm. | |
„Ich finde, dass im Auswärtigen Amt neben der militärischen Unterstützung | |
für die Ukraine auch diplomatische Bemühungen eine größere Rolle spielen | |
sollten“, sagt der SPD-Außenpolitiker Michael Müller zwar immer noch. „Ab… | |
über die letzten Monate hat sich etwas verändert. Die Ministerin hat den | |
erhobenen Zeigefinger nicht mehr ganz so schnell oben und agiert nicht in | |
Konkurrenz zum Kanzleramt. Offensichtlich ist mittlerweile die | |
Rollenverteilung in der Regierung akzeptiert.“ | |
## Image und Wirklichkeit | |
Ist am Image der Klartext-Ministerin denn gar nichts mehr dran? Handelt es | |
sich nur um eine kollektiv verzerrte Wahrnehmung? Ganz so ist es auch | |
wieder nicht. | |
Zurück in den Weltsaal des Außenministeriums, wo Baerbock ihren | |
Botschafter*innen unter riesigen Kronleuchtern ihre Politik erklärt. | |
Diplomatie im 21. Jahrhundert sei auch ein Kampf um Narrative, sagt sie. | |
Und deswegen gehe es manchmal durchaus darum, hart dagegenzuhalten. | |
Als Beispiel nennt sie die Diskussion um Lebensmittel aus der Ukraine und | |
Russland, die kurz nach Kriegsbeginn aufflammte. Dass die | |
Nahrungsmittelpreise auf dem Weltmarkt stiegen, sei die Schuld des Westens, | |
behauptete Moskau damals. Neue Sanktionen verhinderten den Export | |
russischen Getreides. International breitete sich diese Erzählung rasch | |
aus. | |
„Wenn wir das danach zurückholen wollen, dann braucht man im Zweifel auch | |
eine harte Sprache“, sagt Baerbock in ihrer Rede. Je zugespitzter man | |
formuliert, desto eher dringt man durch: Das russische Narrativ konterte | |
sie, indem sie fortan von einem „Kornkrieg“ sprach, den Moskau durch die | |
Blockade ukrainischer Häfen führe. | |
Und wenn die Gegenseite dann ihrerseits eine Schippe drauflegt? „Ein | |
Shitstorm bedeutet nicht nur, dass manche es anders sehen“, sagt die | |
Außenministerin vor ihren Botschafter*innen. „Sondern er bedeutet auch, | |
dass man gehört worden ist. Darauf kommt es in diesen Tagen an.“ | |
Es ist ein wenig wie im Flugzeug über dem Pazifik: Keine Angst vor | |
Turbulenzen. Natürlich widerspricht das aber der klassischen Vorstellung | |
von Diplomatie, die vorsichtig formuliert und die Form stets wahrt. Der | |
Ansatz ist neu, und so ist es kein Wunder, dass er manche irritiert. Zumal | |
wenn das Vertrauen fehlt, dass tatsächlich jede Zuspitzung wohlüberlegt | |
ist. | |
Mitte Februar, 90 Meter unter der Erde: In Helsinki besichtigt die | |
Außenministerin einen Zivilschutzbunker, in dem im Notfall 6.000 Menschen | |
Platz finden würden – gut geschützt sogar vor einem Angriff mit Atomwaffen. | |
Ehrenamtliche zeigen ihr, wie sie in dem Fall den Eingang luftdicht | |
versiegeln würden. | |
Die Stimmung ist fröhlich. Baerbock ist gut darin, bei solchen Begegnungen | |
eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Ihre Fragen wirken nicht bemüht, | |
sondern zugewandt. Mit ihrer Art baut sie schnell eine Bindung: hier ein | |
Scherz, da eine Anekdote, dort noch ein neuer Gedanke zum Thema – alles | |
sehr schnell aufeinander. Manchmal aber auch zu schnell. | |
Nach einer halben Stunde, als der Termin vorbei ist, sollen die | |
Helfer*innen die Bunkertür wieder öffnen. „Unfortunately there was no | |
attack“, sagt Baerbock. Es gab ja leider keinen Angriff. | |
Zum Glück ist dieses Mal keine Kamera dabei. Anders als bei einigen anderen | |
Anlässen, bei denen der Ministerin nicht nur ihr Hang zur Spontaneität in | |
die Quere kam, sondern eben auch der zur Zuspitzung. Im Januar zum | |
Beispiel, als sie in Straßburg im Europarat sagte: „We are fighting a war | |
against Russia.“ Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland. | |
Richtig einfangen konnte ihr Ministerium den Satz bis heute nicht. Erst | |
Mitte Mai wurde Baerbock auf einer Pressekonferenz von einer chinesischen | |
Journalistin schon wieder darauf angesprochen. | |
„Das ist eine ihrer Schwächen: Dinge zu überhöhen und zu übertreiben“, … | |
ein Grüner. Schon zu ihren Zeiten als Parteichefin galten ihre zuweilen | |
steilen Sprüche intern als Schwachstelle. Sie ärgere sich hinterher | |
fürchterlich über ihre Fehler, hieß es damals stets aus ihrer Pressestelle. | |
Aus ihrem neuen Umfeld im Ministerium klingt sie jetzt genauso: „Sie hat | |
sich über solche Sätze sehr geärgert. Aber sie will sie auch nicht um den | |
Preis vermeiden, dass sie nur noch Phrasen vom Sprechzettel liest.“ | |
Vielleicht ist das auch ihr größtes Manko, falls sie noch mal nach der | |
Kandidatur fürs Kanzleramt greift. Im Laufe des nächsten Jahres werden die | |
Grünen voraussichtlich klären, wen sie 2025 ins Rennen schicken. Nach der | |
verlorenen letzten Bundestagswahl schien klar, dass dann Robert Habeck an | |
der Reihe ist. Baerbock hatte schließlich ihre Chance. | |
Das Argument zählt immer noch. Mittlerweile hat sie sich im Amt aber neu | |
profiliert, während das Regieren den einstigen Medienstar Habeck entzaubert | |
hat. Auch nach dem Rauswurf seines Staatssekretärs Patrick Graichen steht | |
er im Gegenwind. Bis die Entscheidung über die Kandidatur nächstes Jahr | |
ansteht, kann sich die Geschichte zwar noch mehrmals wenden, für eine | |
Prognose ist es zu früh. Aber als chancenlos gilt Baerbock heute nicht | |
mehr. | |
Zumal sie ihrem Konkurrenten eines noch immer voraus hat: Um die Partei | |
bemüht sie sich stärker. Im vergangenen September, die mehrtägige Konferenz | |
der Botschafter*innen im Ministerium läuft noch, klinkt sie sich für | |
einen Abend aus. Die Bundestagsfraktion hat zu ihrem Jahresempfang geladen. | |
Es ist ein lauer Spätsommerabend auf einem ehemaligen Bahnhofsgelände in | |
Berlin-Pankow, hunderte Gäste sind da. Baerbock bleibt bis nach | |
Mitternacht, nimmt sich Zeit für die eigenen Leute. | |
Robert Habeck sitzt an dem Abend in der Talkshow von Sandra Maischberger. | |
Die Moderatorin fragt, ob wegen der hohen Energiepreise eine Pleitewelle | |
drohe. Habeck spricht minutenlang über Bäckereien, die nicht in die | |
Insolvenz gehen müssten, nur weil sie keine Brötchen mehr verkaufen. Beim | |
Fernsehpublikum weckt das mehr Zweifel als Vertrauen. | |
Zumindest an diesem Abend hat nicht Baerbock das Porzellan zerschlagen. | |
28 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Treffen-Baerbock-und-Lawrow/!5826151 | |
[2] https://www.rnd.de/politik/precht-zieht-ueber-baerbock-her-was-fuer-ein-unf… | |
[3] https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus245221170/Annalena-Baerbock-Man-… | |
[4] /Annalena-Baerbock-ueber-Aussenpolitik/!5819421 | |
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[7] /Beschluss-des-UN-Menschenrechtsrats/!5897799 | |
[8] https://www.zeit.de/2023/07/panzer-lieferungen-annalena-baerbock-olaf-schol… | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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