# taz.de -- Ampelpläne gegen die Klimakrise: Der Pfad der Tugend | |
> Bringt der Koalitionsvertrag Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad? Wir | |
> schaffen das, sagt die Ampelregierung in spe. Mogelpackung, sagen | |
> KritikerInnen. | |
Bild: Klimastreik von Fridays for Future am 22. Oktober in Berlin – anlässli… | |
Wenn bis zum nächsten Montag die 125.000 Parteimitglieder der Grünen | |
entscheiden, ob sie den Koalitionsvertrag der Ampel annehmen, spielt eine | |
Zahl eine zentrale Rolle: 1,5 Grad Celsius. Um nicht mehr als diesen Wert | |
soll idealerweise die globale Temperatur bis zum Jahr 2100 steigen, und | |
Deutschland soll dafür seinen Anteil leisten. | |
## 1. Warum ist die Zahl wichtig? | |
Weil die KoalitionärInnen und allen voran die Grünen selbst diesen Maßstab | |
vorgeben: Die neue Ampelregierung werde ihre „Klima-, Energie- und | |
Wirtschaftspolitik am 1,5-Grad-Pfad ausrichten“, [1][heißt es im | |
Koalitionsvertrag]. Schließlich haben vor allem die Grünen im Wahlkampf | |
betont: Diese Regierung sei die letzte, die die Klimakrise noch abwenden | |
könne. Deshalb könnten sie nur mitmachen, wenn die „auf den 1,5-Grad-Pfad | |
kommt“, hieß es vor Wahl und Koalitionsbildung. | |
## 2. Was ist das überhaupt, ein „1,5-Grad-Pfad“? | |
Vor allem ein semantischer Trick, den die Grünen vor einem Jahr für den | |
Wahlkampf aus dem Hut zauberten. Er garantiert nicht die Einhaltung des | |
Ziels oder auch nur den deutschen Anteil daran, was in vier Jahren ohnehin | |
unmöglich ist. Aber der Begriff legt nahe, dass man alles tun werde, um den | |
Spagat zu schaffen zwischen den Ansprüchen der Klimabewegung, das | |
1,5-Grad-Ziel langfristig zu halten und den Realitäten der | |
Regierungsverantwortung, kurzfristig nicht reihenweise Betriebe und | |
Kraftwerke zu schließen. | |
## 3. Wie rechnet sich die Ampel grün? | |
Für Robert Habeck, den designierten grünen Vizekanzler und Minister für | |
Wirtschaft und Klimaschutz, geht die Rechnung so: „Wir haben Maßnahmen | |
beschlossen, die dazu führen werden, dass wir über den minus 65 Prozent | |
Emissionen in 2030 liegen werden“, der Vertrag sei „nicht um Symbole, | |
sondern um Maßnahmen“ herum entworfen. Die Grünen haben immer kritisiert, | |
das Klimaziel der Großen Koalition (Klimaneutralität bis 2045, minus 65 | |
Prozent Emissionen 2030 und 65 Prozent Anteil Ökostrom am Strombedarf) sei | |
zu lasch, um langfristig die 1,5 Grad zu halten. Jetzt wollen sie keine | |
neuen Ziele, sondern effektive Maßnahmen, die zu besseren Zielen führen: | |
klimaneutral möglichst bereits vor 2045, 80 Prozent Ökostrom bis 2030, ein | |
Kohleausstieg „idealerweise“ 2030, das faktische Aus für | |
Verbrennungsmotoren und fossile Heizungen bis 2030/2025. So sollen die | |
Ziele der Groko übertroffen werden – und das Land auf den Weg zu 1,5 Grad | |
kommen. So argumentiert auch die SPD. | |
## 4. Was meint die Klimabewegung? | |
Sie ist gespalten. Der BUND sieht den Vertrag bei den 1,5 Grad „mit großer | |
Skepsis“, weil konkrete Ausbauziele für Erneuerbare fehlen und 2045 zu spät | |
für die grüne Null sei. Die Umweltorganisation E3G meint, mit dem Vertrag | |
„dürfte das 1,5-Grad-Ziel nicht zu erreichen sein“. Für die Stiftung | |
Klimaneutralität sagt Rainer Baake, ehemals grüner Staatssekretär im | |
Umwelt- und Wirtschaftsministerium und Architekt der Energiewende, die | |
Maßnahmen seien „richtig und wichtig“, reichten aber nicht einmal für die | |
gesetzlichen 2030er-Ziele. Für Fridays for Future ist die Vereinbarung eine | |
Mogelpackung. „Die Ampel ist nicht auf dem 1,5-Grad-Pfad“, schimpft | |
Sprecherin Carla Reemtsma, „dafür bräuchte es einen Gasausstieg bis 2035, | |
ein Verbrennerende bis 2025, einen höheren CO2-Preis, eine komplett | |
dekarbonisierte Wirtschaft bis 2035.“ Grundsätzlich fordert FFF von jeder | |
Regierung ein CO2-Budget, das angibt, wie viel CO2 Deutschland in einer | |
weltweiten Pro-Kopf-Rechnung noch zustehen würde. So hat es ein | |
Beratungsgremium der Bundesregierung, der Sachverständigenrat für | |
Umweltfragen (SRU), vorgeschlagen. Beim jetzigen Stand der Emissionen wäre | |
dieses Budget etwa 2027 aufgebraucht. | |
## 5. Was sagt die Wissenschaft? | |
Viele Thinktanks sind bislang zurückhaltend. Am Freitag legte das | |
[2][Consultingunternehmen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung | |
DIW Econ im Auftrag der Klima-Allianz], einem Bündnis von Umwelt- und | |
Sozialverbänden, eine erste Analyse vor. Fazit: Mit einem ehrgeizigen | |
„Klimasofortpaket“ könnte Deutschland seine Ziele aus dem Klimaschutzgesetz | |
für 2030 schaffen. Aber: „Der Koalitionsvertrag enthält nicht ausreichend | |
konkrete Maßnahmenpläne, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen.“ | |
## 6. Verfehlt die Ampel also ihren eigenen Anspruch? | |
Andere ExpertInnen sind gnädiger mit der Ampel. Der Deutsche | |
Naturschutzring DNR meint, wenn die Vereinbarung „schnell umgesetzt wird, | |
hat Deutschland zumindest eine Chance, die 1,5-Grad-Marke einzuhalten“. | |
Germanwatch spricht von einem „Aufbruchsignal“, das sich aber nur | |
durchsetze, wenn Maßnahmen wie der Klimacheck für Gesetze, Finanzierung und | |
ein ökologischer Bundesverkehrswegeplan ein wirkliches | |
„sozial-ökologisch-digitales Reformprojekt“ möglich machten. | |
## 7. Woher kommen die Unterschiede in der Bewertung? | |
Vor allem daher, ob man einen „Budgetansatz“ akzeptiert, der weltweit die | |
gleichen Pro-Kopf-Emissionen fordert. Das klingt logisch, wurde aber nie | |
international beschlossen. Anders argumentiert Patrick Graichen, derzeit | |
noch Chef des Thinktanks Agora Energiewende, der Staatssekretär in Habecks | |
Klimaministerium werden soll. Er zitiert das Szenario der Internationalen | |
Energie-Agentur IEA zum weltweiten 1,5-Grad-Fahrplan: „Die IEA geht davon | |
aus, dass die Industrieländer bis 2040/2045 klimaneutral sein müssen, die | |
Schwellenländer 2050/2055 und die Entwicklungsländer mit der fossilen | |
Wirtschaft gar nicht erst anfangen.“ Die Wege dahin zeige die IEA auch: | |
keine neuen Öl- und Gasheizungen nach 2025, ein Ende der Kohleverstromung | |
bis 2030, keine neuen Verbrennungsmotoren nach 2035. „Genau das steht in | |
der Koalitionsvereinbarung“, so Graichen. „Das ist also der 1,5-Grad-Pfad | |
für das Industrieland Deutschland.“ | |
## 8. Was fehlt? | |
ExpertInnen mahnen, dass die Frage der „internationalen Klimagerechtigkeit“ | |
noch nicht ausbuchstabiert sei. Das sind Milliardentransfers aus den | |
Industrieländern für die Schwellen- und Entwicklungsländer, um dort die | |
Energiewende voranzutreiben. Denn nur wenn Entwicklung und Armutsbekämpfung | |
im Globalen Süden fossilfrei umgesetzt werden, werden 1,5 Grad global | |
realistisch. Das aber wird teuer. Diese Woche veröffentlichte [3][das | |
Öko-Institut im Auftrag der Umweltstiftung WWF dazu eine Studie. Ergebnis: | |
Zwischen 8 und 25 Milliarden Euro] mehr als heute müsste Deutschland | |
jährlich für die nächsten 30 Jahre in diese Klima-Außenpolitik stecken, um | |
tatsächlich „auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen“. | |
## 9. Und jetzt? | |
Im Vertrag bekennt sich die Ampel zum internationalen Klimaschutz: „Wir | |
sorgen für einen weiteren Aufwuchs der internationalen Klimafinanzierung.“ | |
Von zusätzlichen mindestens 8 Milliarden Euro jährlich ist da allerdings | |
nicht die Rede. Über den 1,5-Grad-Pfad entscheidet also nicht zuletzt: | |
FDP-Finanzminister Christian Linder. | |
3 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Einigungen-der-Ampel-Parteien/!5817741 | |
[2] https://www.klima-allianz.de/presse/meldung/studie-so-viel-klimaschutz-stec… | |
[3] https://www.oeko.de/aktuelles/2021/finanzstroeme-fuer-den-klimaschutz | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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