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# taz.de -- Äußerung zu Müßiggang in Pandemie: Die Angst des Friedrich Merz
> CDU-Chef-Anwärter Friedrich Merz hat Angst vor Müßiggängern, weil er
> selbst einer ist. Wer arbeiten muss, kann in Coronazeiten nicht einfach
> chillen.
Bild: Wer seine Arbeitskraft verkauft, muss auch mal chillen
Friedrich Merz macht sich Sorgen. „Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass
wir uns nicht alle daran gewöhnen, dass wir ohne Arbeit leben können“,
sagte der frühere Aufsichtsratschef des weltweit größten
Vermögensverwalters Blackrock in einem Talk-Format der Bild. Wieder so ein
Merz-Spruch, den man ignorieren könnte, der aber auch repräsentativ ist für
eine gewisse bürgerlich-saturierte, mittelschichtig-durchschnittliche
Attitüde. Sonst würde sich dieser Mann ja auch keine Chancen als Kanzler
ausrechnen.
Wer nicht wie Herr Merz in eine gehobene Schicht geboren wurde und später
Posten bei Reichtumsverwaltern besetzt, der weiß, dass das Problem der
Lohnabhängigen nicht gerade der Müßiggang ist. Dabei haben gerade
Vermögende, die andere für sich arbeiten lassen, um so ihre Vermögen zu
vermehren, ein Interesse daran, dass Lohnabhängige auch mal chillen. Denn
wer seine Arbeitskraft verkaufen muss, der muss auch aufpassen, dass er
sich nicht kaputt schuftet und so unfähig wird, seine Arbeitskraft zu
verkaufen.
Außerdem ist ein Leben ohne Arbeit gerade in den Milieus kaum vorstellbar,
in denen das Überleben schon immer vom unmittelbaren Lohn abhing. Das kann
jemand, der vor allem in Aufsichtsräten sitzt, ohne Erfolg für politische
Ämter kandidiert oder dumme Sprüche reißt, kaum verstehen. Die Ungleichheit
hier ist deshalb nicht nur eine materielle, sondern auch eine
lebensweltliche: Wer seine Arbeitskraft verkauft, um zu überleben, für den
wird Lohnarbeit irgendwann zu mehr als dem Mittel des Überlebens: Sinn,
Identität, Mission, immer auch mit Blick auf ein anderes Leben in der
Zukunft. Dann fällt es schwer, an freien Tagen einfach an den See zu
fahren.
## Um Sinn ringen
Mein Vater hat in einer Textilfabrik gearbeitet und Nachtschichten
geschoben. Frühmorgens, wenn er von der Arbeit kam, hat er meine Brüder und
mich zum Frühstück geweckt. Er hat uns dann in die Schule geschickt und oft
angefangen, zu Hause zu arbeiten: im Garten, an den Wohnzimmerwänden,
Fliesen gelegt.
Man muss kein Fabrikarbeiter sein, um zu verstehen, was da passiert ist:
auch prekäre und relativ abgesicherte [1][Angestellte in der
Informationsgesellschaft] kennen dieses Gefühl, wenn sie in ihrer Freizeit
um Sinn ringen müssen. Auf gewisse Weise sind sie ja auch Teil eines
heutzutage global ausdifferenzierten Proletariats. Die sozialen Aufsteiger
unter ihnen kennen das Gefühl noch besser.
Merz' Sorge sagt deshalb mehr über ihn selbst und seine Neigungen aus, als
über jene, um die er sich sorgt: Weil er vermutlich selbst niemals so
richtig vom Verkauf seiner Arbeitskraft abhing, hatte er Freiheiten, die
Lohnabhängige nicht haben. Deshalb stellt er sich das Faulenzen als große
volkswirtschaftliche Gefahr vor. Das zeigt, dass in dieser Welt nicht nur
das Geld ungleich verteilt ist. Sondern auch die Fähigkeit zum Müßiggang.
24 Sep 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Volkan Ağar
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