# taz.de -- Streiks im öffentlichen Dienst: Getarntes Klasseninteresse | |
> In der Kritik am Arbeitskampf der Beschäftigten im öffentlichen Dienst | |
> werden eigene Privilegien als Allgemeininteresse verkauft. | |
Bild: Streikaktion in Leipzig: Die Beschäftigten fordern mehr Geld statt Appla… | |
Wie können sie nur? Mitten in der Coronakrise? Es geht um Angestellte im | |
öffentlichen Dienst, also Pflegekräfte, Erzieher:innen oder | |
Müllwerker:innen, aber auch Beschäftigte in der Verwaltung, die in der | |
Pandemie die öffentliche Infrastruktur am Laufen halten. Und sich nun | |
erdreisten, in Tarifverhandlungen und mit Warnstreiks [1][mehr Lohn zu | |
fordern; 4,8 Prozent nämlich, mindestens aber 150 Euro mehr im Monat bei | |
einer einjährigen Laufzeit des Tarifvertrags statt 3,5 Prozent] mehr in | |
drei Jahresstufen, wie die Arbeitgeberseite anbietet. Die dritte | |
Verhandlungsrunde begann am Donnerstag. | |
Dabei hatte doch bisher alles so gut funktioniert in der Pandemie. Die, die | |
auch in Nichtpandemiezeiten für wenig Geld regelmäßig an ihre Grenzen | |
gehen, gingen nun auch noch über ihre Grenzen hinaus; und gehörten so zu | |
jenen Menschen, die das Gemeinwesen zusammenhielten. | |
Jetzt aber fordern sie mehr Geld statt nur Applaus, weil man sich vom | |
Ersteren auch etwas kaufen kann, und bedrohen mit Warnstreiks scheinbar das | |
Allgemeininteresse, so kritische Stimmen. Dieses Allgemeininteresse meint | |
hier aber Klasseninteresse. Und zwar das jener, die nicht so an ihre | |
Grenzen gehen müssen. | |
Argumente gegen die Gierigen | |
Weil die Leute sich aber nicht so leicht verarschen lassen, müssen sich die | |
Vertreter:innen dieses Allgemeininteresses doch noch ein paar Argumente | |
gegen die gierigen Arbeitskämpfer:innen zurechtlegen: Im öffentlichen | |
Sektor verdiene man halt nicht so viel wie im privaten, habe dafür mehr | |
Sicherheit, für einen [2][„neuen sozialen Kompromiss“ müsse deshalb | |
verzichtet] werden (taz Futurzwei); oder [3][es sei ja gar nicht so klar, | |
welche Berufe systemrelevant seien und welche nicht,] woraus dann nicht | |
geschlossen wird, dass alle mehr verdienen sollten, sondern dass die, die | |
jetzt fordern, zu Unrecht fordern (Zeit); oder dass [4][ein Großteil der | |
betroffenen Angestellten ja in der Verwaltung arbeiteten und] gar keine | |
Krankenpfleger:innen seien – also gar keine wahren Helden! (BR-Magazin | |
„Kontrovers“). | |
Als ich ein Kind war, hat meine Mutter oft zu mir gesagt: „Lass dir nicht | |
nehmen, was dir zusteht.“ Ich fand das unnötig, übertrieben misstrauisch | |
und auch ein bisschen paranoid, weil ich mir dachte: Erstens bin ich doch | |
kein Idiot! Und zweitens will mir niemand etwas wegnehmen. | |
Später habe ich gemerkt, dass das so klar nicht ist. Sie wusste | |
offensichtlich, wovon sie spricht: Was einem zusteht, das bekommt man nicht | |
unbedingt einfach so. Manche müssen es sich erkämpfen. Und wer es einfach | |
so bekommt und wer nicht, das hängt davon ab, in welche Klasse man geboren | |
wird. | |
Kämpfen müssen die einen, weil die anderen nicht müde werden, ihr eigenes | |
Privileg als das aller Menschen, als das gute, alte Allgemeininteresse zu | |
verkaufen. Deshalb: Liebe Lohnabhängige im öffentlichen Sektor und auch | |
woanders, lasst euch nicht nehmen, was euch zusteht! | |
22 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Tarifkonflikt-im-oeffentlichen-Dienst/!5720369 | |
[2] /Zukunft-der-Gewerkschaften/!171783/ | |
[3] https://www.zeit.de/2020/43/gewerkschaften-oeffentlicher-dienst-lohnerhoehu… | |
[4] https://www.ardmediathek.de/ard/video/kontrovers/arbeitskampf-im-oeffentlic… | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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