Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Rumhängen früher und heute: Kein Geld ausgeben für Vergnügen
> In der Jugend fehlten die nötigen Euros für die Cola in der Kneipe, heute
> führt der Lockdown zu ähnlicher Langeweile. Und zu trügerischer
> Genugtuung.
Bild: Die Lokale bleiben leer, auf Lockdown light folgt wohl der Lockdown-Advent
Düstere Aussichten: Wie schlaue Füchse es vielleicht schon geahnt haben,
[1][geht der Lockdown light wohl in einen Lockdown-Advent über]. Und an
regnerisch-grauen Novembertagen finstert es schon kurz nach 16 Uhr.
Irgendjemand hat kürzlich auf Twitter geschrieben, was das für eine miese
Kombi sei. Das stimmt.
Düstere Stimmungen folgen daraus. Freund:innen drehen am Rad, manche
kochen verrückte Rezepte nach, andere suchten Netflix wie noch nie, manche
haben Angst, dass das Weihnachtsfest in die Novemberregenpfütze fallen
könnte. Ich nutze jede Gelegenheit, um aus meiner Wohnung zu kommen, obwohl
ich meine erste eigene Wohnung, die ich mir mittlerweile ganz heimelig
eingerichtet habe, schon sehr mag.
Ich gehe raus, aber ich komme schnell wieder zurück, weil es nichts zu tun
gibt; [2][weil ich keine Freund:innen zu einem Bier in der Kneipe treffen
kann], oder zu einem Abendessen in einem Restaurant; oder ins Kino gehen
kann, oder ins Museum, oder Theater, oder in meiner Lieblingsfußballkneipe
Bundesliga schauen kann. Dinge, die man halt so macht, wenn es keine
Pandemie gibt.
Nur Arbeiten und Rumhängen
Es gibt depressive Momente in diesen dunklen Tagen, an denen ich denke, wie
scheiße das alles gerade ist; dass das Leben gerade nur aus Arbeiten und
Rumhängen in der Wohnung besteht. Aber ich muss gerade auch viel an meine
Kindheit und Jugend denken; weil mich die aktuelle Eintönigkeit an die
Langeweile von früher erinnert: auch damals nach der Schule rumhängen zu
Hause, amerikanische Sitcoms schauen, dann draußen herumlungern, und wenn
gerade ein guter Tag ist, zum Fußballtraining gehen, aber nichts tun
können, was Geld kostet – weil bei uns kein Geld für Vergnügen ausgegeben
wurde.
Ich erinnere mich daran, wie ich mich später als Jugendlicher mit meinen
Eltern gestritten habe, weil ich ein paar Euro mehr haben wollte, um doch
ins Kino zu gehen, oder irgendwo ein Getränk mit Mitschüler:innen zu
trinken, damit sich daraus vielleicht Freundschaften ergeben können.
Einmal wollte ich das mit zwei anderen Jungs machen, die so waren wie ich:
Ausländereltern, Arbeitereltern. Der eine fragte den anderen, ob er
mitkommen wolle in diese eine Kneipe, wo eigentlich nur die deutschen Kids
mit reichen Eltern hingehen. Der Gefragte fragte zurück: „Was kostet dort
eine Cola?“. „2 Euro oder so.“ „Dann kauf ich mir lieber eine Flasche im
Supermarkt.“ Das mag wie ein Witz klingen, aber er meinte das ernst. Wie
kann man auch so viel Geld für einen Softdrink ausgeben?
Wenn ich an früher denke, dann ist das ein bisschen traurig, aber es hilft
mir, heute klarzukommen. Es macht mir zwar ein schlechtes Gewissen, aber
ich spüre gerade auch eine Genugtuung: Jetzt wisst ihr, wie das ist, wenn
man nichts tun kann! Aber die Genugtuung ist trügerisch. Wenn Restaurants
und Bars wieder öffnen, werden sich die einen dort wieder auf eine Cola
treffen können, während die anderen lieber eine PET-Flasche kaufen.
20 Nov 2020
## LINKS
[1] /Bund-Laender-Runde-zu-Corona-vertagt-sich/!5729627
[2] /Eilklage-gegen-Corona-Lockdown-scheitert/!5727920
## AUTOREN
Volkan Ağar
## TAGS
Kolumne Postprolet
Lockdown
Jugend
Langeweile
Kolumne Postprolet
Kolumne Postprolet
Kolumne Postprolet
Streik
Schwerpunkt Armut
Kolumne Postprolet
## ARTIKEL ZUM THEMA
Schule in Coronazeiten: Woher kommt die Ungleichheit?
In der Pandemie sorgen sich auf einmal alle um „benachteiligte“ Kinder. Das
sagt mehr über die Besorgten als über die Situation der Schüler*innen.
Einkaufen vor dem Lockdown: Shopping-Scham löst Flugscham ab
In der Pandemie wollen alle recht haben und zu den Guten gehören. In der
Abgrenzung vom Shoppingpöbel wirken alte Ressentiments.
Was uns bewegt und was nicht: Alltäglicher Horror
Islamistischer Terror und ein diktatorischer Trump. Das Weltgeschehen weckt
derzeit Endzeitgefühle. Armut und Ungleichheit wirken da eher langweilig.
Streiks im öffentlichen Dienst: Getarntes Klasseninteresse
In der Kritik am Arbeitskampf der Beschäftigten im öffentlichen Dienst
werden eigene Privilegien als Allgemeininteresse verkauft.
Hartz IV soll erhöht werden: 16 Pizzen vom Discounter
14 Euro mehr sollen Hartz-IV-Empfänger:innen demnächst bekommen. Aber hey,
mit diesen paar Euro zusätzlich kann man sich doch fast die Welt kaufen.
Äußerung zu Müßiggang in Pandemie: Die Angst des Friedrich Merz
CDU-Chef-Anwärter Friedrich Merz hat Angst vor Müßiggängern, weil er selbst
einer ist. Wer arbeiten muss, kann in Coronazeiten nicht einfach chillen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.