# taz.de -- Adresse von bedrohter Anwältin geleakt: Immer wieder Hessen | |
> Die hessische Landesregierung hat die Privatadresse der | |
> NSU-Nebenklage-Anwältin Seda Başay-Yıldız an alle Fraktionen | |
> weitergegeben. Auch an die AfD. | |
Bild: Die NSU-Opferanwältin Seda Başay-Yıldız wird seit Jahren bedroht | |
Die NSU-Akten des Verfassungsschutzes in Hessen bleiben geheim. Die | |
gesperrte Meldeadresse der NSU-Opferanwältin Seda Başay-Yıldız hingegen | |
wurde mal wieder geleakt. Sie ging in den Unterlagen zum parlamentarischen | |
Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke ungeschwärzt allen | |
Fraktionen des hessischen Landtags zu – damit auch der AfD. Die Anwältin | |
[1][Seda Başay-Yıldız ist entsetzt] über die Landesregierung von Volker | |
Bouffier (CDU), wie die Frankfurter Rundschau berichtet. | |
Başay-Yıldız und ihre Familie wurden seit August 2018 mehrfach mutmaßlich | |
von Neonazis unter dem Absender „NSU 2.0“ bedroht. Die Nebenklage-Anwältin | |
der Hinterbliebenen des ersten NSU-Mordopfers Enver Şimşek war in der | |
Vergangenheit bereits umgezogen, weil ihre Adresse der extremen Rechten | |
bekannt war. Abgefragt wurden ihre Daten kurz vor dem ersten Drohschreiben | |
2018 auf einem Polizeicomputer im 1. Frankfurter Polizeirevier. Im Zuge der | |
Ermittlungen flog eine rassistische Chatgruppe in der hessischen Polizei | |
auf. | |
Nach einem Umzug erhielt sie trotz Meldesperre erneut Drohschreiben. | |
Insgesamt erhielt Başay-Yıldız über ein Dutzend solcher Schreiben. Sie und | |
ihre Familie stehen unter Polizeischutz. Immerhin wurde im Mai 2021 in | |
Berlin [2][zumindest ein Tatverdächtiger festgenommen] – über dessen | |
Verbindungen in die Polizei Hessen besteht [3][allerdings noch | |
Aufklärungsbedarf], wie ihn Başay-Yıldız und weitere Betroffene fordern. | |
Bei Başay-Yıldız richteten sich die Morddrohungen konkret gegen ihre | |
Tochter. Neben der neuen Privatadresse von Başay-Yıldız ging diesmal auch | |
die Adresse der Kita der Tochter direkt an die AfD. Ihre gesperrten | |
Meldedaten sind damit nun erneut rechten Kreisen bekannt gemacht geworden – | |
wohlgemerkt in einem Untersuchungsausschuss zu einem rechtsextremen Mord, | |
begangen von Stephan Ernst, der sich auf AfD-Demos herumtrieb. Başay-Yıldız | |
fragt sich zu Recht, was ihre Bedrohung mit dem Mordfall an Lübcke zu tun | |
habe und wie ihre Daten in diese Akten gekommen seien. | |
Zu Erinnerung: Im selben Bundesland wurde 2006 Halit Yozgat vom NSU | |
ermordet, während sich gleichzeitig der Verfassungsschützer Andreas Temme | |
am Tatort, einem Internet-Café, aufhielt. In Hessen wurden auch Teile der | |
NSU-Akten des Verfassungsschutzes als ultrageheim eingestuft mit einer | |
Sperrfrist bis ins Jahr 2134. Mittlerweile wurde die Frist immerhin wieder | |
auf 30 Jahre heruntergestuft – die Geheimhaltung bleibt also noch bis 2044 | |
bestehen. | |
Die erneute Veröffentlichung der Adresse von Başay-Yıldız geschieht in | |
genau diesem Kontext. Das heißt nicht, dass die Adresse absichtlich an die | |
AfD geschickt worden sein muss. Allerdings bedeutet es, dass hessische | |
Behörden weiterhin auf die Menschenwürde von Betroffenen von rechter Gewalt | |
und Morddrohungen pfeifen – in einem Untersuchungsausschuss über einen | |
rechtsextremen Mord. Akten über rechte Strukturen schützen sie gleichzeitig | |
peinlich genau mit dem Verweis auf Quellenschutz. | |
## „Wer schützt unsere Würde?“ | |
Das Bild verbessert sich nicht gerade dadurch, dass die hessische | |
Landesregierung es für unnötig hielt, nach dezenten Hinweisen der | |
Linksfraktion die Information wieder unter Verschluss zu bringen. | |
Stattdessen machte Staatskanzlei-Chef Axel Wintermeyer (CDU) laut | |
Frankfurter Rundschau alle Fraktionen per Mail ausdrücklich auf die | |
sensible Stelle aufmerksam. Er hätte auch mit Capslock schreiben können: | |
„Sieh her, AfD, hier ist die aktuelle Adresse von Seda Başay-Yıldız und der | |
Kita ihrer Tochter!“ | |
Es wird noch absurder: Im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu den „NSU | |
2.0“-Drohungen hatte der Ermittler Hanspeter Mener vermutet, dass der | |
Verfasser der Morddrohungen die Adresse aus dem persönlichen Umfeld von | |
Başay-Yıldız erhalten haben könne. Demgegenüber war der nun dem | |
Untersuchungsausschuss zugegangene Leak eine polizeiinterne Mail, die im | |
August 2019 an zehn Stellen oder Personen innerhalb der hessischen Polizei | |
ging. Başay-Yıldız nennt diese Verdächtigung ihres Umfelds wohl zu Recht | |
„eine Unverschämtheit“. | |
Başay-Yıldız schrieb selbst in dem Sammelband „[4][Extreme Sicherheit] – | |
Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz“ einen | |
Beitrag, der sich auch wie ein Kommentar zur aktuellen Situation lesen | |
lässt: | |
„Die meisten Menschen in diesem Land werden nie Opfer eines rassistischen | |
Anschlages sein. Sie werden nie in die Situation kommen, dass das Haus oder | |
die Wohnung, wo sie mit ihrer Familie und ihren Kindern leben, in Brand | |
gesteckt werden. Sie werden nicht in die Situation kommen, den Namen auf | |
ihrem Briefkasten oder Klingel entfernen zu müssen, damit von außen nicht | |
erkennbar ist, dass hier eine ausländischstämmige Familie wohnt … wer | |
schützt unsere Würde vor dem Staat und seinen Repräsentanten in einer Zeit, | |
in der Rechtsextremismus im öffentlichen Dienst kleingeredet wird?“ | |
Die Netzwerke hinter dem NSU-Kerntrio wurden nach Aktenvernichtungen und | |
Lügen des Verfassungsschutzes weder von Gerichten noch von | |
Untersuchungsausschüssen hinreichend aufgeklärt, kritisiert Başay-Yıldız | |
dort. Ihre eigene Adresse wurde hingegen schon mehrfach von Behörden | |
abgefragt und offenbar direkt an Rechtsradikale weitergeleitet. | |
Noch immer befinden sich die Adressen ungeschwärzt in den Unterlagen des | |
Ausschusses und noch immer ist nicht klar, wieso die Adresse überhaupt in | |
den Akten auftaucht. Die Behörden sind sich keiner Schuld bewusst: | |
Bouffiers Staatskanzlei sagt, man lege in vollem Umfang Akten vor. Um die | |
Daten zurückzuziehen oder zu schwärzen, brauche es einen Beschluss des | |
Ausschusses. Die AfD darf also mitentscheiden über die Privatsphäre und | |
Menschenwürde einer Betroffenen von jahrelangen rassistischen | |
Morddrohungen. Gleichzeitig bleiben die NSU-Akten unter Verschluss – mit | |
[5][tatkräftiger Unterstützung der mitregierenden Grünen]. | |
27 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.fr.de/rhein-main/landespolitik/gesperrte-anschrift-ging-an-die-… | |
[2] /Verhaftung-nach-NSU-20-Drohserie/!5765449 | |
[3] /Festnahme-im-NSU-20-Fall/!5770359 | |
[4] https://www.herder.de/geschichte-politik-shop/extreme-sicherheit-kartoniert… | |
[5] /NSU-Akten-und-die-Gruenen-in-Hessen/!5773750 | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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