# taz.de -- Achtes Pop-Kultur-Festival in Berlin: Produktive Verwirrung | |
> Das Berliner Festival „Pop-Kultur“ vereint Lokalkolorit mit Sound aus | |
> aller Welt. Diskutiert wurde auch, unter anderem über kulturelle | |
> Reizthemen. | |
Bild: Arooj Aftab erhielt als erste pakistanische Sängerin einen Grammy | |
Das Nervtötende vorweg: They did it again. Die transnationale, vor allem | |
aus Großbritannien heraus agierende Politsekte BDS – sie will Israel nicht | |
nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch kulturell isolieren – blies | |
kurz vor Start am Mittwoch erneut zum Boykott des Berliner Musikfestivals | |
„Pop-Kultur“. | |
Stein des Anstoßes: Die Produktion des Tel Aviver Rave-Punk-Trios BĘÃTFÓØT | |
mit der queeren Tanztruppe Kunty Klub war von der israelischen Botschaft | |
bezuschusst wurden – gängige Praxis im internationalen Kulturbetrieb. | |
Insgesamt vier Künstler:innen sagten ihre Teilnahme daraufhin ab. Die | |
Veranstalter quittierten das mit Schulterzucken, schließlich grüßte dieses | |
verstunkene Murmeltier seit 2017 immer wieder. | |
Und Bundeskulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) merkte bei der | |
Eröffnung eher kühl an, dass sie „Absagen und Boykotte überhaupt nicht | |
bedauern kann“ – denn „wer den Dialog verweigert, wird nicht dazu | |
gezwungen. Er muss sich dann allerdings damit abfinden, nicht gehört zu | |
werden.“ | |
## BDS-Kampagne ist verpufft | |
Letztlich haben die ferngebliebenen Künstler:innen vor allem sich selbst | |
gecancelt. Die BDS-Kampagne darf man also als verpufft bezeichnen, das | |
erstmals wieder ohne pandemiebedingte Einschränkungen stattfindende | |
Festival dagegen als recht gelungen. Ein inklusives Booking gab den | |
kleinteiligen Verästelungen ebenso Raum wie große Gesten. | |
Das tolle Auftaktkonzert bestritt das Berliner Avant-Pop-Trio Painting, es | |
steht in gewisser Weise paradigmatisch für die postpandemische Ausrichtung | |
des gesamten Festivals. Diesmal lag der Fokus – neben dem internationalen | |
Booking abseits ausgelatschter angloamerikanischer Pfade – nämlich wieder | |
stärker auf lokalen Künstler:innen. | |
Der Painting-Auftritt wird zum Feuerwerk der Synergie. | |
[1][Multiinstrumentalistin Theresa Stroetges (alias Golden Diskó Ship)], | |
der Schlagzeuger Christian Hohenbild und die Saxofonistin Sophia Trollmann | |
spielen so euphorische wie treibende Musik, vor digitalen Projektionen, die | |
dem Kesselhaus die Anmutung eines Computerspiels verleihen; entworfen | |
wurden sie von der Medienkünstlerin Paula Reissig. | |
Seit Release des Debütalbums der Band sind sie auch online abrufbar, doch | |
erst in dieser weitläufigen Halle entfalten sie ihre Wirkung. | |
## Wechselbad der Gefühle in schwüler Hitze | |
Die schwüle Berliner Augusthitze hilft dabei, trotz des dichten Programms | |
nicht FOMO-mäßig zu hyperventilieren. In der entspannten Atmosphäre auf dem | |
Hof der Kulturbrauerei können sich auch Leute ohne Ticket ihre Dosis | |
Pop-Kultur abholen, etwa beim „Karaokee Xpress“ und den Live-Acts auf der | |
„Çaystube“ genannten Freiluftbühne. | |
Besser also: Sich über das Gelände treiben lassen und das sich dabei | |
einstellende Wechselbad der Gefühle genießen. Die sakrale-meditative | |
Anmutung der „Songs of Attunement“ etwa (eines der sogenannten | |
„Commissioned Works“, die ein Alleinstellungsmerkmal des Festivals sind): | |
Die Stücke basieren auf Polari, einer von der Schwulen-Szene und anderen | |
Subkulturen im Großbritannien des mittleren 20. Jahrhundert genutzten | |
Geheimsprache. | |
Zusammen mit einer Sängerin und einem Sänger hat der US-Komponist und | |
Performer Colin Self daraus eine entschleunigte Bühnenshow entwickelt, die | |
gerne doppelt so lange hätte dauern dürfen. | |
Für ein anderes Energielevel sorgt [2][die Afro-Techno-Sause der FOKN Bois | |
aus Ghana.] Wanlov the Kubolor, Rapper des Trios, hatte zur digitalen | |
Festivalausgabe 2020 ein Videoessay über den Umgang mit der queeren | |
Community und den Obdachlosen in seiner Heimatstadt Accra beigesteuert. | |
Aktuell ist im gerne Vorzeigedemokratie genannten Ghana ein extrem | |
repressives Anti-LGBTQ+-Gesetz in Planung. Schön, dass die FOKN Bois | |
religiösen Fanatismus und dergleichen nun auch live wenigstens ironisch | |
abwatschen konnten. | |
## Diskussionen über kulturelle Aneignung | |
Vorher ließ sich Arooj Aftab, die erste pakistanische Grammy-Gewinnerin, | |
für ihre soulige Stimme feiern; unter anderem bringt die in den USA lebende | |
Musikerin in minimalistischen Kompositionen Folk mit klassischer | |
Hindustani-Musik zusammen. | |
Und natürlich wurde bei diesem diskursfreudigen Festival auch diskutiert: | |
etwa über das Reizthema der kulturellen Aneignung. Der Berliner Autor Jens | |
Balzer stellte am Donnerstag seine Studie zu „Ethik der Appropriation“ vor: | |
nicht als Lesung, sondern im kurzweiligen, aber auch etwas zerfaserten | |
Gespräch mit Journalistin und Moderatorin Aida Baghernejad und dem per | |
Video zugeschalteten Kulturanthropologen, Kurator und Musiker Julian | |
Warner. | |
Schnell landet man beim Urschlamm, also der Frage, wie kulturelle Identität | |
überhaupt entsteht. Am Ende konstatiert Balzer, viel gelernt zu haben, | |
Baghernejad dagegen spricht von Verwirrung und Warner hält fest: „Ich check | |
überhaupt nichts mehr“. [3][Als Fehler Kuti und mit einer sehr | |
musikalischen Band Die Polizei] spielt Warner am darauffolgenden Abend dann | |
ein Konzert, das so manchen gefühlten Widerspruch flirrend zum Schweben | |
bringt. Mal wieder erwies sich Pop-Kultur als Fest der produktiven | |
Verwirrung. | |
28 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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