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# taz.de -- Abschied von Berlin: Aus der Entfernung am schönsten
> Alle reden sich die Hauptstadt schön. Die Abneigung gegen „die Provinz“
> ist Produkt einer tiefen Sehnsucht nach genau diesen kleinen Orten.
Bild: Aus der Distanz am schönsten? Die Großstadt Berlin
Von Berlin aus betrachtet ist alles Provinz, nichts kommt an die einzige
wirkliche Metropole Deutschlands heran. Alles andere – Dörfer, Kleinstädte,
Mittelstädte sowieso, aber auch Großstädte und selbst Städte wie München,
Hamburg und Köln – wird belächelt. Menschen von dort haftet das Miefige,
Spießige, Engstirnige an, all das, was der Provinz als charakterprägend
zugewiesen wird.
Nach jahrelangem Studium bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass dieser
Blick auf die Provinz – der aber in Wahrheit ein Blick auf Berlin ist –
geprägt ist von permanenter Autosuggestion, stetiger Selbsteinredung, dass
Berlin der einzige lebenswerte Ort dieses Landes ist, the coolest place to
be, vielleicht sogar on earth, um es auf Berlinerisch zu sagen.
Selbsteinredung, weil eigentlich niemand wirklich gern dort leben möchte,
man ist halt aus diversen Gründen mal in die Stadt gekommen, und nun lässt
sie einen nicht mehr los. Das kann man nur ertragen, indem man es sich
schönredet.
Halt, sagte eine kluge Kollegin, als wir im Ressort darüber sprachen, es
gibt Menschen, die gern in Berlin leben, das sind die gebürtigen Berliner
und Berlinerinnen, und damit hat sie vermutlich Recht.
Grundlage für die ansonsten vielleicht zunächst harsch anmutende These,
dass alle sich Berlin schönreden, ist das folgende Studiendesign:
beobachtende Teilnahme als Einwohner Berlins seit nunmehr neun Jahren, dazu
addiert zwei weitere Jahre in den frühen Nullerjahren. Als Gegenprobe aber
auch immer wieder Ausflüge in eine nordwestdeutsche kleine Großstadt, die
man in Berlin a) nur kennt, weil sie einmal jährlich ein in
Regierungskreisen beliebtes regionalspezifisch verankertes Gröönkohl-Äten
veranstaltet, bei dem es jede Menge Grünkohl, Kassler, eine Wurst namens
Pinkel, Kartoffeln natürlich und Bier und Schnaps gibt – das ist so sehr
Provinz, mehr geht ja nicht –, von der man b) aber ansonsten kaum etwas
weiß.
## Eine Stadt voller Hängengebliebener
Die Abneigung gegen „die Provinz“ ist in Wahrheit Produkt einer tiefen
Sehnsucht nach genau diesen kleineren Orten, aus denen die, die nicht in
Berlin geboren sind, einst in die Stadt kamen – junge Männer in Zeiten der
alten Bundesrepublik, die der Wehrpflicht entgehen wollten, die dann hier
hängen geblieben sind; heutzutage eher die, die auf der Suche nach
irgendeiner Form von Freiheit sind, die sie dann in Berlin nicht finden,
die aber auch hängen bleiben, weil sie sich eingeredet haben, anderswo sei
es ihnen zu eng, zu piefig, zu klein.
Es gibt keinen Weg mehr zurück für sie, außer an den Feiertagen, wenn sie –
vorgeblich unwillig – mal wieder in ihre Herkunftsprovinz fahren und das in
Wahrheit sehr genießen. Eine Stadt – abgesehen von den dort Geborenen –
voller Hängengebliebener, oh weh, oh weh.
Das ist aber auch ein bisschen lustig, weil diese Großstädter in Berlin
tatsächlich in einem viel engeren Radius und auf einem viel kleineren
soziokulturellen Feld leben als dort, von wo sie kamen. Sie
verkleinstädtern ihr riesiges Berlin, oder es ist die Metropole mit all
ihren Möglichkeiten, Freiräumen, Brüchen, die die Menschen enger macht.
Es wäre ja auch viel zu anstrengend, all das, was Berlin zu Berlin macht,
wahrzunehmen und in sein Leben zu integrieren. Davon hat zu Beginn des 20.
Jahrhunderts der Soziologe Georg Simmel geschrieben. Der Großstadtmensch
muss sich von vielem abwenden, sonst erträgt er es nicht, und wird, so kann
man es heute beobachten, zum kleinstädtischen oder gar dörflichen Typus.
Wer bewegt sich denn wirklich mal raus aus seinem Kiez (ehrliche Frage an
alle gebürtigen Berliner: Benutzt man dieses Wort „Kiez“ überhaupt? Erbit…
kundige Leserbriefe an fezÄTtazPunktde)? Raus also aus seinem Stadtteil, in
dem man es so wunderbar kuschelig hat mit genau dem einen Café, das so
einen sensationellen Hafermilch-Latte macht, dem einen Späti, bei dem man
sich abends noch ein Gösser zischt, dem einen Dönertypen, den man sehr
kumpelig Ali nennt, den paar Straßenzügen, die einem vorspiegeln, in der
großen, weiten Welt zu sein – bisschen Graffiti, bisschen ranzig, das
übliche Stillleben aus alter Matratze, marodem Röhrenfernseher und paar
Regalbretterresten am Straßenrand.
Raus aus dem Kiez, raus aus dem Viertel, das heißt dann immer auch: Raus
aus der Blase, in der man sich so wohlfühlt, und Blasen gibt es in Berlin
durch ungebremste Segregationsprozesse viele. Berlin, das ist viele
Kleinstädte, Dörfer sogar.
Lustig auch, weil viele hinzugezogene Berliner jede Gelegenheit nutzen, um
diese Stadt zu verlassen, um ein an sich trostloses Brandenburger Dorf
[1][temporär übers Wochenende zu bevölkern], da ist es dann herrlich ruhig,
da sieht man Natur, da hat man Platz – und sieht generös über den Nachbarn
hinweg, der komische Fahnen im Garten hisst, im Flecktarn rumläuft und eine
Partei wählt, die am liebsten den freiheitlich-demokratischen Charakter der
Bundesrepublik zurückdrehen würde. Man kann ja eine Hainbuchenhecke
anpflanzen am Grundstücksrand, dann kriegt man von dem nichts mit.
Diese permanente [2][Stadtflucht aus Berlin] hinaus ist teuer erkauft, so
ein Häuschen dort im weithin abgegrasten Umland kostet inzwischen einiges,
und man braucht Zeit, denn man muss den Stau beim Hinausfahren und bei der
sonntagabendlichen Rückkehr einkalkulieren, der dann auch jeden
Erholungswert verpuffen lässt.
## Wie irgendeine Durchschnittsstadt
Kundige Leserinnen und Leser merken schon, dass auch ich hier aus einer
Blase heraus schreibe, nämlich der Blase derer, die in den am meisten
sozial durchgerüttelten Stadtvierteln wohnen, durchgerüttelt durch
Zugezogene vor allem aus Westdeutschland: Kreuzberg, Neukölln, Teile von
Schöneberg, Prenzlauer Berg natürlich, neuerdings das Fliegerviertel
gegenüber vom alten Tempelhofer Flughafen und Wedding.
Mitte nicht so sehr, weil das längst ein Kosmos für sich ist. Über die
anderen Teile Berlins – grob gesagt jenseits des S-Bahnrings – schreibe ich
nicht, weil diese Teile der Stadt eh wie Hannover sind oder Recklinghausen
oder irgendeine Durchschnittsstadt. Das ist übrigens jener Teil der Stadt,
in dem die piefige Berliner SPD bei der nächsten Abgeordnetenhauswahl
punkten will. Keine schlechte Strategie, und wenn die Grünen nicht
aufpassen, wird sie aufgehen.
Zwischen den Zeilen Lesende werden gemerkt haben, dass auch dieser Text
eine einzige Selbsteinredung ist. Ein Abschiedstext, weil wir nach neun
Jahren Berlin verlassen und in jene nordwestdeutsche Stadt zurückkehren,
von der oben schon die Rede war. Und damit es nicht so schmerzt, fällt die
These vielleicht wirklich etwas hart aus.
Berlin zerrt an mir und zehrt von mir. Es ist anstrengend, in so einer
Metropole zu leben, die weiten Wege, der Lärm, die oft schlechte Stimmung,
das Genörgel, das kostet Kraft. Aber da ist auch der Italiener gegenüber,
den es in seiner Einfachheit und Echtheit eben nur hier gibt (auch noch in
Köln, München, Hamburg), der vielen Gästen, die aus der Provinz nach Berlin
kamen, immer noch erklären muss, dass seine Carbonara die echte ist, also
wirklich ohne Sahne und Schinken, sondern mit Guanciale und Ei; da ist das
Raue, in dem das Schöne verborgen liegt – was für ein Glück, wenn man es
gefunden hat; da ist überall Geschichte, die die Brüche dieses Landes
bewusst werden lässt; da ist das Foyer der [3][Philharmonie] – der schönste
Raum, den man sich vorstellen kann. Da ist sehr vieles, was man in der
kleinen Großstadt wirklich vermissen wird.
Berlin wird, so schwer es einem die Stadt manchmal macht, von dort aus
wieder Sehnsuchtsort sein.
29 May 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Felix Zimmermann
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