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# taz.de -- Wanderweg von NRW nach Hessen: Die Sauerlandidylle
> Spätestens seit der Coronapandemie ist Urlaub in Deutschland angesagt.
> Eine Wanderung auf dem Fernwanderweg Höhenflug.
Bild: Dürre und Börkenkäfer beunruhigen den Förster beim Waldbaden
Es scheint das Paradies auf Erden zu sein. Von seinem großen Garten mit
selbst gezimmerter Holzschaukel für zwei sieht Waldbauer Friedrich Nagel,
50, wie Rehe und ihre Kitze über das Land nebenan stapfen, wie sie
neugierig den Kopf heben und sich dann weiter am Gras laben oder im Wald
verschwinden. Lange ist es her, dass das Gasthaus von Nagels Hof in
Weuspert, ein Stück unterhalb des Örtchens Faulebutter, mit Leben gefüllt
war. Heute steht das für eine Großfamilie gedachte Gebäude, in dem Nagel
aufgewachsen ist, fast leer. Zurückgeblieben sind er und zwei ältere Hunde.
Wir sind mit Nagel in der Natur des Hochsauerlands unterwegs auf einem Teil
des Höhenflugs, einem beliebten Fernwanderweg von insgesamt 250 Kilometern,
von Meinerzhagen bis nach Korbach.
„In letzter Zeit macht mir die Arbeit keine Freude mehr“, gesteht Nagel.
„Seit etwa 2017 haben wir ein riesiges [1][Fichtensterben] wegen des
Borkenkäfers.“ Er und seine Kollegen müssten mittlerweile an die 120 Bäume
am Tag fällen. „Wenn das so weitergeht, werden hier in einem Jahr keine
Fichten mehr stehen.“ Warum? Weil die Nadelbäume durch den Klimawandel mit
anhaltender Dürre und Hitze anfälliger geworden seien. Ein Wettlauf gegen
die Zeit, den Waldbesitzer wie er schon verloren hätten – denn wird ein
befallener Baum nicht sofort entfernt, befallen die gerade mal zwei bis
acht Millimeter großen dunkelbraunen Käfer in rasanter Geschwindigkeit auch
die umstehenden Bäume.
Den Besuchern, die gerade am Wochenende gern in die Natur ausströmen, den
Duft von frisch geschlagenem Holz aufsaugen und beim Waldbaden allen Stress
abschütteln, mögen die lichter werdenden Stellen kaum auffallen. Doch das
könnte sich schon bald ändern, denn bis die anstelle der Fichten
gepflanzten, resistenteren Douglasien nachwachsen, werden Jahrzehnte
vergehen.
Für ein wenig Leichtigkeit und Landidylle nach dem schwer verdaulichen
Umweltszenario Nagels sorgt zumindest mancher Ortsname im Sauerland:
Faulebutter, Wildewiese oder Kuhschisshagen – der Fantasie der Sauerländer
ist bei den Ortsnamen keine Grenze gesetzt. Wer Faulebutter streift und im
einzigen Restaurant in dem Weiler mit elf Einwohnern einkehren möchte, mag
dies mit einem unguten Gefühl tun. Dabei entstammt der Name offiziell von
dem Ausdruck „fuhle Botte“, was auf den früheren morastigen Boden vor Ort
anspielt.
## Viele Kahlstellen
Von Faulebutter führt der Höhenflug auf etwa 13 Kilometern in Richtung
Wildewiese, ein Dorf mit immerhin 90 Einwohnern, das über fünf Skilifte für
Wintersportler verfügt. Wir stehen in Wildewiese auf dem 648 Meter hohen
Schomberger Aussichtsturm mit Besucherplattform in 30 Metern Höhe und
schauen, wie Wälder und Wiesen sich in alle Richtungen dem Horizont
entgegenrollen.
Unvorstellbar, dass wir uns in unmittelbarer Nähe des Ruhrgebiets befinden,
einer der am dichtesten besiedelten Regionen Deutschlands. Dass ein
unscheinbarer Käfer den Wald bedroht. Nagel hingegen deutet auf [2][viele
riesige Kahlstellen] inmitten der Wälder und auf noch mehr vollkommen
braune Fichten – stehende tote, seine Aufgabe der kommenden Wochen.
Doch rund um Wildewiese gibt es auch Beispiele dafür, wie die Einheimischen
ihre Landidylle und Natur schützen: Ein großes, künstlich angelegtes
Wasserbecken auf einem Hügel gegenüber, das vom Aussichtsturm sofort ins
Auge fällt, gehört zu einem Pumpspeicherwerk und ist auch als Oberbecken
bekannt. Es ist nicht nur praktisch, sondern veranschaulicht Besuchern auf
Infotafeln entlang eines etwa ein Kilometer langen Spazierwegs rund ums
Becken, worum es eigentlich geht. Das 1969 erbaute Werk reguliert nämlich
auf natürliche Weise die Stromerzeugung der Region und gilt damit als
technische Pionierleistung und absolut nachhaltig.
Schon die erste Tafel beschreibt, dass das Werk den schwankenden
Strombedarf von Industrie und Bevölkerung ausgleiche. Es agiere wie ein
riesiger Akku und pumpe Wasser aus dem 300 Meter tiefer liegenden, unter
Bäumen verborgenen Unter- ins Oberbecken, wenn das Stromnetz wenig Energie
benötige. Wird hingegen mehr gebraucht, kann der Strom mit ans Unterbecken
gekoppelten Generatoren erzeugt werden.
Auf Naturschutz setzt auch Steinbergs Naturhotel unterhalb des
Aussichtsturms, das, so Inhaberin Marion Steinberg, einen „strengen grünen
Faden verfolgt“. „Wir stehen seit Jahren für eine Rückbesinnung zur Natur
am Ende der Welt“, lacht sie, denn dort, wo das Hotel steht, endet sogar
die Dorfstraße, und es geht direkt hinaus in die Natur. Unter dem Motto
„Gastlichkeit am Ende der Welt“ gibt es Regionales und Essen für jedermann,
sei es der Opa mit Vorliebe für Schnitzel oder die Enkelin mit veganen
Ansprüchen.
## Kaffe trinken in Kuhschisshagen
Wer Örtlichkeiten wie Faulebutter, Wildewiese und Kuhschisshagen
vorzuweisen hat, ziert sich natürlich auch nicht, Besucher mit dem
angeblich „inspirierendsten Arsch der Welt“ anzulocken. Unter diesem Motto
betreiben Michaela Pielsticker und ihr Mann seit 2013 das Café Das
Knallharte Landleben unweit von Kuhschisshagen – eigentlich nur Hagen, aber
aufgrund seiner Agrarstruktur wurde der Ortsteil von Sundern von den
Einwohnern liebevoll umbenannt.
Die Grafikdesignerin berichtet, sie habe die Nase voll gehabt von nervigen
Kunden und mit ihrem Mann entschieden, dass sie ganz einsam leben wollten.
Werbung machen sie nicht für ihr Café, doch Mund-zu-Mund-Propaganda und die
Lage an dem attraktiven Wanderweg führen dazu, dass das Café während seiner
Öffnungszeiten von freitags bis sonntags meist voll ist.
Im Inneren des Cafés hängen von ihr selbst gemalte Bilder, die zum Verkauf
stehen – meistens kuschelige Tiere –, oder sie hält mit ihren Gästen ein
Kaffee-Kritzel-Kränzchen ab, wobei Kaffee als Farbe dient, um
Fantasiebilder auf Aquarellkarton zu zaubern. Der perfekte Ort zum
Abschalten, ein Paradies?
Pielsticker lacht. „Wenn ihr wüsstet, mit wie viel Bürokratie wir uns
rumschlagen müssen, auch auf dem Land ist alles reglementiert. Wir dürfen
nichts, ohne strenge Regeln zu befolgen, das fängt schon bei der
Wasserversorgung und -aufbereitung an.“ Es gehe wie in der Natur stets um
Fressen oder Gefressenwerden – was Pielsticker schon früh in ihren Bildern
festgehalten hat, denn den plüschigen Kuscheltieren gegenüber hängen Füchse
und andere Wildtiere, die es auf die niedlichen Tierchen abgesehen haben.
Doch Pielsticker und ihr Mann lassen sich nicht beirren. Auch Waldbauer
Nagel entspannt sich im Knallharten Landleben bei einem leckeren Stück
Kuchen unter der Ulme. Denn in einem sind sich er und die Pielstickers
einig: Borkenkäfer und andere Landlebenprobleme hin oder her, sie würden
ihr Dasein inmitten der Natur für nichts hergeben. Denn an Orten, wo man
bei tief fliegenden weißen Wolken behauptet, dass die Füchse rauchten, muss
doch noch irgendetwas zu retten sein.
15 Sep 2020
## LINKS
[1] /Waldschaeden-im-Harz/!5702305&s=waldsterben/
[2] /Baeume-und-Waelder-in-der-Duerre/!5610554&s=waldbaden/
## AUTOREN
Bernadette Olderdissen
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