| # taz.de -- Sommer vorm Balkon: Viel mehr als bloß Bäume | |
| > Der Grunewald, oft unterschätztes Naherholungsgebiet der Berliner, bietet | |
| > auch Pflanzfrauen, Teilkreisregner und sogar das Auge des Teufels. | |
| Bild: Der Wald muss die Menschen auch aushalten können | |
| Grunewald, ja klar, Instagram-Hotspot Teufelsberg und der Teufelssee, eine | |
| Oase für Nudist_innen, Hunde und Expats. Der Rest vom Wald: nur Bäume? Ja, | |
| unbedingt, und nein, nicht mal annähernd. Die Bäume machen den Wald erst | |
| zum Wald, aber dennoch ist es erstaunlich, wie viele interessante Orte der | |
| Grunewald noch bereithält, wie viele Wunden er durch Menschenhand erlitten | |
| hat, rechteckig am Reißbrett hineingefräste Versehrungen, Munitionsdepot, | |
| Schießplatz, Kleingartenkolonie, Kiesgrube. Vieles davon durfte die Natur | |
| sich zurückholen oder ist noch dabei, das zu tun, ermuntert von den | |
| Berliner Forsten. | |
| Und auch wenn der Wald heute auf die Städter wild und echt und tief wirkt – | |
| das ist er nicht. | |
| Zwar gab es ihn schon vor den Weltkriegen: 1915 kaufte die Stadt Berlin im | |
| Dauerwaldvertrag erhebliche Waldflächen vom preußischen Staat, darunter | |
| auch Teile des Grunewalds. So sollte der vor Spekulation und Rodung bewahrt | |
| werden und den Berliner_innen als Freizeitfläche erhalten bleiben. Angeregt | |
| wurde der Kauf von der sich formierenden ersten deutschen Umweltbewegung. | |
| Doch der heutige Grunewald ist ein Nachkriegswald. „Vor 70 Jahren war der | |
| Grunewald fast eine Kahlfläche“, erzählt Marc Franusch, Förster und | |
| Pressesprecher der Berliner Forsten. Geplündert hatten den Wald zunächst | |
| die Amerikaner, die nach dem Zweiten Weltkrieg Holz als Kriegsreparation | |
| nahmen und fast 90 Prozent des Baumbestands abholzten. Im bitterkalten | |
| Blockadewinter 1948/49 rückten die frierenden Berliner_innen mit Axt und | |
| Säge an, um Feuerholz zu schlagen. Dann war der Grunewald fast | |
| verschwunden. | |
| Anfang der 1950er begann eine mühsame Aufforstung, „eine große | |
| Kraftanstrengung der Forstleute, unterstützt von sogenannten Pflanzfrauen“, | |
| erzählt Förster Franusch. „Pionierbaum“ war die Kiefer, die mit den | |
| sandigen Böden und den auch damals schon trockenen Sommern gut zurechtkam | |
| und schnell gepflanzt wurde, um Erosion zu verhindern. Erst nach und nach | |
| kamen Laubbäume hinzu – noch heute erkennt das geübte Auge den Unterschied | |
| etwa zum Tegeler Forst, wo die Bäume deutlich älter sind, „Vorkriegswald“ | |
| nennt das Marc Franusch. | |
| Wer mag, kann sich trotzdem der Illusion hingeben, der Grunewald sei wild | |
| und alt, denn tief ist er auf jeden Fall. Wer hineinwill, kann den | |
| schnurgeraden Forstwegen folgen, die gern mal unbarmherzig bergauf oder | |
| bergab gehen (ja, es gibt hier ernst zu nehmende Höhen und Tiefen) – oder | |
| man nimmt einen der alten Pfade, die sich an den Hügeln und Tälern zu den | |
| Vier Eichen oder zur Fischerhütte schlängeln, auf den Spuren | |
| mittelalterlicher Handelsrouten, mindestens. | |
| Wobei der historisch-romantisierende Tagtraum schnell zerplatzt, weil einem | |
| schon der nächste Mountainbiker oder ein Frauchen mit Dackel entgegenkommt: | |
| Der Grunewald wird genutzt, gerade in Coronazeiten haben die Berliner_innen | |
| seinen Freizeitwert erkannt. „Schon im Frühling gab es buchstäblich | |
| Völkerwanderungen in die Berliner Wälder“, erzählt Marc Franusch. „Aber … | |
| zeigt nur, was für einen Schatz wir da haben, der auch von den Menschen als | |
| solcher empfunden wird.“ Für die geplagten Städter sind die Berliner Wälder | |
| wichtige Ausgleichs- und Fluchtorte, in Zeiten der Krise noch mehr als | |
| sonst. | |
| Gleichzeitig stellt der Andrang die Wälder auch vor große | |
| Herausforderungen. Mehr Menschen bedeutet mehr Müll, und gerade jetzt im | |
| Sommer kommen die Berliner Forsten mit dem Leeren der Mülleimer kaum nach, | |
| geschweige denn dem Entfernen von achtlos in die Gegend geworfenem Abfall. | |
| „Wir kommunizieren verzweifelt und unentwegt, damit die Menschen | |
| Verantwortung übernehmen“, sagt Marc Franusch. Besondere Hotspots seien die | |
| Stellen, wo sich Wald und Wasser begegnen. „Das sind magische Orte, an der | |
| Havel, am Schlachtensee, an der Krummen Lanke, die ziehen die Menschen | |
| besonders an.“ Zweiter wichtiger Punkt ist die Waldbrandgefahr, die zurzeit | |
| dramatisch hoch ist. „Es gibt immer noch Leute, die sich im Wald eine | |
| Zigarette anzünden oder sogar grillen wollen“, erzählt Marc Franusch. „Das | |
| Risiko ist gerade bei der derzeitigen Trockenheit enorm.“ | |
| Nicht nur die Trockenheit des Sommers 2020 setzt dem Wald zu – er leidet | |
| auch noch unter den Spätfolgen der besonders trockenen Sommer 2018 und | |
| 2019. „Aktuell geht es dem Grunewald nicht besonders gut“, sagt Marc | |
| Franusch. „Es sind strapaziöse Zeiten für alle Berliner Wälder.“ Die Dü… | |
| der vergangenen beiden Jahre erwischte den Wald mitten in der | |
| Vegetationszeit, auch der Frühling 2020 hatte zu viele trockene Phasen – | |
| genau die Zeit, in der die Bäume austreiben. Es gibt noch keine Bilanz für | |
| das aktuelle Jahr, „aber ein Blick in die Baumkronen zeigt deutliche | |
| Trocken- und Absterbeerscheinungen“, sagt Franusch. Entwarnung sei nicht | |
| angesagt, leider: „Regentänze helfen nicht.“ | |
| All das und noch viel mehr erklärt auch eine Freiluft-Ausstellung, die seit | |
| zwei 2017 durch den Grunewald führt: [1][„Wald.Berlin.Klima“] ist ein vier | |
| Kilometer langer Rundweg, der den Grunewaldturm (Busverbindung und | |
| Gastronomie) und ins Herz des Grunewalds führt. | |
| Die Aufmachung der Ausstellung ist modern und gelungen, sie wurde sogar mit | |
| dem German Design Award 2020 ausgezeichnet. Anderswo im Grunewald hängen | |
| Erklärtafeln in Schriftgröße 10 in zwei Metern Höhe, es scheint dabei die | |
| bloße Existenz der Infotafeln wichtiger als deren Lesbarkeit. Nicht so bei | |
| „Wald.Berlin.Klima“. Die elf Infoinseln sind clever designt, es gibt Texte, | |
| Grafiken und betretbare Installationen, Jung und Alt werden angesprochen. | |
| „Ein schön gemachter Lehrpfad, der das Bewusstsein für den Klimawandel | |
| schärft“, lobt der German Design Award zu Recht. Die Signalfarben Orange | |
| und Türkis machen die Ausstellung sichtbar, aber nicht aufdringlich. | |
| Es geht um die Bedeutung von Wald für das Klima allgemein, und im | |
| Speziellen um die Bedeutung des Grunewalds für Berlin. Kleine Infotafeln | |
| geben am Wegesrand Auskunft über Flora, Fauna und Holznutzung. Wussten Sie, | |
| dass es in den Wäldern „Rückegassen“ gibt, in denen vollautomatisierte | |
| Maschinen Bäume fällen? Diese Wege ins Nichts nannte man früher „Holzweg�… | |
| daher auch die Redensart. Und wussten Sie, wie viele Bäume es braucht, um | |
| die Kohlendioxid-Produktion eines Menschen aus Berlin aufzufangen? | |
| Vorsicht, die Antwort könnte deprimierend sein. | |
| Die Route der Ausstellung führt zu den kleinen Geschwistern des bekannten | |
| Teufelssees, Pechsee und Barssee, beide als Naturschutzgebiet ausgewiesen | |
| und streng genommen auch keine Seen mehr, sondern Moore: Weil der | |
| Grundwasserspiegel von Berlin sinkt, seit vor über 100 Jahren immer mehr | |
| Trinkwasser entnommen wird, verlanden sie langsam. Der Pechsee war in den | |
| 50ern noch ein beliebter Badesee, heute ist bei beiden höchstens noch eine | |
| Pfütze in der Mitte, der Rest ist Moor (was sich übrigens von Sumpf | |
| unterscheidet: ein Moor ist immer feucht und bildet Torf, ein Sumpf | |
| trocknet zwischendurch mal aus und bildet daher keinen Torf). Umso | |
| wichtiger sind sie als ökologische Nischen. Hier laichen Amphibien, hier | |
| wohnt der Rundhals-Grabläufer, eine Laubkäferart, und die Libellen-Fauna | |
| ist besonders artenreich. 2015 zeichnete der Bund der deutschen Forstleute | |
| den Grunewald als Wald des Jahres aus – wegen seiner Vielfalt an | |
| Waldbiotopen. | |
| Um ein komplettes Austrocknen zu verhindern, wurde am Barssee kürzlich eine | |
| künstliche Regenanlage installiert. Im Rahmen eines Pilotprojekts, das bis | |
| 2022 läuft, versprühen vier Teilkreisregner pro Nacht jeweils bis zu 6.000 | |
| Liter entmineralisiertes Wasser. So ist der See vom Grundwasser unabhängig, | |
| und der Torfboden ist vor Austrocknung geschützt. Wenn das Projekt | |
| erfolgreich ist, soll es auch am Pechsee angewendet werden. | |
| Die Ausstellung erläutert die ökologische Rolle der beiden Seen ausführlich | |
| auf Schautafeln. Über Holzstege kann man sich Barssee und Pechsee bis zu | |
| Aussichtsplattformen nähern, ohne sich durchs Unterholz kämpfen zu müssen | |
| oder Schilf zu zertrampeln. | |
| Ein wahres Kleinod findet sich neben dem Weg vom Barssee zum Pechsee, | |
| ungleich verwunschener und sogar echt mit Wasser: das Teufelsauge. Es ist | |
| eine der eingangs erwähnten Wunden, die dem Grunewald geschlagen wurden, | |
| denn eigentlich war hier nur eine Senke, bis die Menschen kamen und am | |
| Barssee zum Kriegsende Munition entsorgten. Mitte der 1980er wurde | |
| aufgeräumt, Kampfmittel und Metallteile wurden in Container geladen und per | |
| Lkw abtransportiert. „Da hat man ’ne Menge gefunden, auch aus dem Ersten | |
| Weltkrieg. Es ist etwas gruselig, dass da so viel lag“, erzählt Marc | |
| Franusch. | |
| Durch die Befahrung wurde der Boden so stark verdichtet, dass das Wasser | |
| aus der Senke nicht mehr abfließen oder versickern konnte, und so entstand | |
| hier ein Teich, Heimat für Molche, Wasserfrösche und Kröten, aber auch | |
| Libellen, Wasserkäfer und Wasserschnecken – laut Erklärtafel ein „kostbar… | |
| Habitat, das zum Artenreichtum im Wald beiträgt“. | |
| Ähnlich ist es mit der Sandgrube abseits der Ausstellungsroute, auf halbem | |
| Weg zwischen S-Bahnhof Grunewald und Teufelssee: einst gewaltvoll | |
| geschlagene Wunde, weil Westberlin im Wiederaufbau nach dem Krieg Sand | |
| brauchte, heute ein Loch im Grunewald mit 15 bis 25 Meter Tiefe und | |
| gleichzeitig Ökonische für die Natur und Anziehungspunkt für Familien mit | |
| Kindern, die im Sand spielen können. Die Sandgrube zeigt damit exemplarisch | |
| die Doppelfunktion des Grunewalds als Ort für die Natur, aber auch für die | |
| Menschen, und beides muss irgendwie ausgewogen sein. | |
| „Der Wald muss uns aushalten, aber wir können ihm auch helfen“, sagt Marc | |
| Franusch. Dabei meint er nicht nur: Müll mit nach Hause nehmen und kein | |
| Feuer anzünden. Sondern vor allem: das Klima schonen, damit nicht noch mehr | |
| Dürresommer den Wald schädigen. Damit er immer weiter für alle da ist. | |
| 12 Sep 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.berlin.de/forsten/walderlebnis/wald-berlin-klima/ | |
| ## AUTOREN | |
| Malte Göbel | |
| ## TAGS | |
| Sommer vorm Balkon | |
| Sommerserie | |
| Grunewald | |
| Wald | |
| Stadtnatur | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Wandern | |
| Soziale Bewegungen | |
| Sommer vorm Balkon | |
| Sommer vorm Balkon | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kampf für Grünflächen in Berlin: Der Baustadtrat erscheint nicht | |
| Eine Initiative versucht vergeblich, Unterschriften für den Erhalt einer | |
| Grünfläche am Kreuzberger Rathaus zu übergeben. | |
| Aufforstung in Deutschland: Der Natur dienen | |
| Drei Millionen Bäume haben Freiwillige in den letzten 30 Jahren für die NGO | |
| Bergwaldprojekt gepflanzt. Unser Autor war im Spätsommer dabei. | |
| Wanderweg von NRW nach Hessen: Die Sauerlandidylle | |
| Spätestens seit der Coronapandemie ist Urlaub in Deutschland angesagt. Eine | |
| Wanderung auf dem Fernwanderweg Höhenflug. | |
| Protestoper in Berlin-Grunewald: Das Vorurteil vom reichen Juden | |
| Nach einer satirischen Enteignungsoper gab es Kritik und NS-Vergleiche. | |
| Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank hält gerade diese für | |
| antisemitisch. | |
| taz-Sommerserie „Sommer vorm Balkon“: Geschichte am See | |
| Der Bogensee ist landschaftlich schön, mit markanter Geschichte: Hier | |
| findet sich eine Goebbels-Villa und die ehemalige FDJ-Jugendhochschule der | |
| DDR. | |
| taz-Sommerserie „Sommer vorm Balkon“: Neu-Jerusalem ist in Staaken | |
| Auf den Spuren seiner Kindheit erkundet unser Autor gemeinsam mit einem | |
| Denkmalschützer eine ganz besondere Siedlung im Westen Spandaus. |