# taz.de -- 100. Geburtstag von Patricia Highsmith: Mit Dämonen spielen | |
> Am 19. Januar wäre Patricia Highsmith 100 Jahre alt geworden. Sie war | |
> eine Autorin, die überzeugt war: Jeder Mensch könnte zum Mörder werden. | |
Bild: Patricia Highsmith im Oktober 1989 in ihrem Haus im schweizerischen Locar… | |
Sie nahm sich die Freiheit, böse zu sein, wenn sie es wollte. In ihren | |
Werken sowieso, aber auch, wie viele Menschen erzählt haben, im echten | |
Leben. Bereits mit acht Jahren soll Patricia Highsmith Pläne geschmiedet | |
haben, ihren Stiefvater zu ermorden. Auch als Erwachsene machte sie keinen | |
Hehl aus ihren obsessiven Aversionen gegen alles Mögliche und vor allem | |
gegen viele Menschen. | |
Obwohl politisch links orientiert, war sie doch gleichzeitig Antisemitin | |
und Rassistin. Sie mochte keine Hunde, keine Blumen und keine Kinder. | |
Frauen hielt sie Männern gegenüber für minderwertig – begehrte sie aber | |
sexuell. Männer probierte sie ebenfalls aus, hätte im Prinzip gern einen | |
geheiratet und war sogar einmal verlobt. | |
Der Konformitätsdruck der Zeit muss eine enorme Rolle gespielt haben bei | |
dieser qualvollen Selbst- und Partnersuche. Ein Versuch, sich mithilfe | |
einer Psychoanalyse sexuell zu „normalisieren“, misslang. Kein Wunder, denn | |
eigentlich fühlte sich bereits die 12-jährige Patricia als Junge im Körper | |
eines Mädchens. | |
Liebesbeziehungen – meist zu Frauen – hatte Highsmith im Laufe ihres Lebens | |
viele, von denen etliche wohl obsessive Züge annahmen. Auch Stalking | |
gehörte zu ihren schlechten Angewohnheiten. Eine Begegnung mit einer | |
faszinierenden Frau, der sie im echten Leben lange (und wahrscheinlich | |
vergeblich) nachstellte, inspirierte den Roman „The Price of Salt“, den sie | |
1952 unter Pseudonym veröffentlichte. Erst 1990 ließ sie eine Wiederauflage | |
unter ihrem eigenen Namen zu. | |
## Hassliebe auf Gegenseitigkeit | |
Das war zwar immer noch kein direktes Bekenntnis zu ihrem Lesbischsein; | |
aber näher ist Patricia Highsmith einem offiziellen Coming-out nie | |
gekommen. | |
Ihre Kindheit war nicht einfach. Zunächst überwiegend bei der Großmutter | |
aufgewachsen, zog das Kind Patricia im Alter von sechs Jahren mit Mutter | |
und Stiefvater (ihre Eltern hatten sich noch vor ihrer Geburt scheiden | |
lassen) von Texas nach New York um. Auch dort kam die Mutter, die von eher | |
rastloser Persönlichkeitsstruktur gewesen sein muss, nicht zur Ruhe. | |
Häufige Umzüge und Partnerwechsel wirkten sich auch auf das Leben der | |
Tochter aus, die zeitlebens eine heftige Hassliebe zur Mutter pflegte. Das | |
beruhte auf Gegenseitigkeit: Beide Frauen sollen Listen über die | |
Verfehlungen der jeweils anderen geführt haben. | |
Bereits in der Highschool begann Patricia Highsmith zu schreiben, zeigte | |
aber auch früh Talent in den bildenden Künsten. Am renommierten Barnard | |
College studierte sie englische Literatur sowie das Fach „English | |
composition“, also Creative Writing, und ernährte sich anschließend viele | |
Jahre mithilfe der regelmäßigen Arbeit als Comicautorin. | |
## Hitchcock verfilmt „Fremde im Zug“ | |
Diesen Broterwerb hatte sie nicht mehr nötig, als 1950 endlich, nachdem sie | |
schon zwei andere Romane geschrieben und nie beendet hatte, ihr erster | |
Roman erschien. „Strangers on a Train“ (dt. „Zwei Fremde im Zug“) wurde… | |
einem großen Erfolg. Dass [1][Alfred Hitchcock] sogleich beschloss, den | |
Stoff zu verfilmen (wobei ein fürstlich dafür entlohnter Raymond Chandler | |
an der Aufgabe scheiterte, ein Drehbuch daraus zu machen), sorgte dafür, | |
dass Highsmith berühmt wurde. | |
Anhaltend großer Ruhm als Autorin wurde ihr aber mehr in Europa als in den | |
USA zuteil. In ihrem Heimatland nahm man sie stärker als Genreautorin wahr; | |
und da es in Highsmiths Romanen trotz aller Morde, die darin geschehen, | |
ganz und gar nicht genrekonform zugeht, stand das Krimi-Lesepublikum ihren | |
psychologisch abgründigen Geschichten skeptischer gegenüber. Für „Ediths | |
Tagebuch“, das nicht einmal einen Mord aufweisen kann, fand Highsmith erst | |
dann einen amerikanischen Verleger, als der Roman in Europa schon | |
erschienen war. | |
Ab 1963 lebte die Autorin in Europa, zog allerdings alle paar Jahre um. Auf | |
eine Zeit in Italien folgten vier Jahre England, dann 14 Jahre Frankreich, | |
Anfang der achtziger Jahre zog sie in die Schweiz. Im Tessin ließ sie sich | |
ein Haus bauen, das nach außen so abweisend wirkte, dass eine Freundin es | |
„Hitlers Bunker“ taufte. 1995 starb sie in ihrer Schweizer Wahlheimat. | |
## Fünf Ripley-Romane schrieb sie | |
Auch die berühmteste von Highsmith’ Romanfiguren ist Amerikaner in Europa: | |
Mit keinem anderen der von ihr erdachten Charaktere ist der Name Patricia | |
Highsmith so eng verknüpft wie mit Tom Ripley, dem Vielfachmörder ohne | |
Moral, der seine Autorin nicht mehr loslassen sollte. Fünf Ripley-Romane | |
schrieb sie insgesamt, wobei die schockierende Kaltblütigkeit des jungen | |
Tom, der einen Freund tötet, um dessen Identität annehmen zu können, im | |
Zuge der anderen Romane überlagert wird von der Mühsal, die Ripley als | |
arrivierter Killer sowie Kunstfälscher mittleren Alters aufwenden muss, um | |
sein sorgfältig aufgebautes Doppelleben zu verteidigen. | |
Sie finde Ripley „amusing“, sagte seine Erfinderin, und fand seine | |
Popularität (der Stoff wurde bereits mehrfach verfilmt und soll jetzt auch | |
noch zur Serie werden) ganz leicht zu erklären: Ripley, der im ersten Teil | |
erst 26 sei, träume doch nur von denselben Dingen wie andere junge Leute | |
auch: reichlich Geld zu haben, ein bisschen Glamour und Dolce Vita. Nur | |
zögerten andere Menschen eben, über Leichen zu gehen, um diese Ziele zu | |
erreichen. Die Autorin soll sich gern einen Spaß daraus gemacht haben, | |
mitunter als „Tom Ripley“ zu unterschreiben. | |
Im Züricher [2][Diogenes Verlag,] wo seit vielen Jahren die deutschen | |
Übersetzungen von Highsmith’ Büchern erscheinen, hat man zum 100. | |
Geburtstag nicht nur Neuausgaben mehrerer Romane herausgebracht, sondern | |
plant zum Herbst dieses Jahres, als besonderen Coup, eine deutsche | |
Erstausgabe von Tagebüchern der Autorin. Außerdem ist soeben unter dem | |
Titel „Ladies“ ein Band mit frühen Erzählungen erschienen, etliche davon | |
ebenfalls zum ersten Mal auf Deutsch. | |
## Schriftstellerische Grausamkeit | |
Wenn man all diese Geschichten hintereinander liest, die Patricia Highsmith | |
als sehr junge Frau schrieb (im Alter zwischen 15 und 27 Jahren), so ist | |
die spätere Erschafferin des psychopathischen Tom Ripley in den meisten | |
davon noch nicht wirklich erkennbar. Es fehlt die konsequente | |
schriftstellerische Grausamkeit, die Highsmith in ihren Romanen an den Tag | |
legte und die nicht zuletzt darin besteht, dass sie ihren LeserInnen | |
jegliche Wohlfühl-Identifikationsmöglichkeit mit ihren wenig sympathischen | |
Protagonisten verwehrt. | |
Die HeldInnen dieser frühen Erzählungen sind noch anders. Es sind nicht nur | |
„Ladies“, sondern auch ein paar Männer darunter, aber dennoch stellt auch | |
diese Gender-Verteilung etwas Besonderes dar, denn in ihren Romanen | |
verwendet Highsmith mit Ausnahme von „Ediths Tagebuch“ durchweg männliche | |
Hauptfiguren. In diesen Erzählungen dagegen darf eine Frau sogar zur | |
Mörderin werden (oder zumindest echte mörderische Absichten hegen) und | |
damit immerhin vorübergehend aus der Funktion als weibliches Anhängsel an | |
einen Mann aussteigen. Eine andere ist ein liebevolles Kindermädchen und | |
gleichzeitig gefährliche Pyromanin. | |
Viele der Erzählungen handeln aber eher von Wendepunkten im unauffälligen | |
Dasein ihrer ProtagonistInnen, wie zum Beispiel jene über eine tüchtige | |
Bürodame mittleren Alters, die der Nachbarfamilie in einer Krise helfen | |
muss und tagelang nicht zur Arbeit gehen kann, was ihrem Chef aber endlich | |
die Gelegenheit gibt zu begreifen, wie viel sie ihm bedeutet. | |
## Das Unheimliche schleicht sich ein | |
Man möchte kaum glauben, dass dieses romantische Sekretärinnenmärchen von | |
Patricia Highsmith stammt – ebenso wenig wie die Erzählung von einem | |
heimlichen Liebespaar, das sich mittags zum innigen Händchenhalten auf | |
einer Bank trifft und dabei misstrauisch von einer Frau aus besseren | |
Kreisen beobachtet wird. Beide Texte verraten aber einen sehr genauen Blick | |
für die Eigenheiten der amerikanischen Gesellschaft der vierziger Jahre. | |
In andere Geschichten wiederum hat sich bereits das Unheimliche | |
eingeschlichen: Etwa wenn die Freundschaft zwischen einem Mann und einem | |
kleinen Mädchen beschrieben wird, die urplötzlich jede Unschuld verliert, | |
als dem Mann klar wird, was die anderen Menschen über ihn denken könnten. | |
Und in „Der Schneckenforscher“ ist (in sehr unappetitlichen Bildern) zu | |
erfahren, wohin es führen kann, wenn man zu Hause eine Schneckenzucht | |
betreibt und diese zu lange unbeaufsichtigt lässt. | |
Das Hobby der Schneckenzucht betrieb Patricia Highsmith im Übrigen selbst | |
– und teilt es auch mit dem Protagonisten ihres Romans „Tiefe Wasser“, der | |
demnächst sicherlich noch einmal besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen | |
wird, denn auch davon gibt es eine Neuverfilmung (mit Ben Affleck in der | |
Hauptrolle), die dieses Jahr in die Kinos kommen soll. „Tiefe Wasser“ | |
handelt von der Hölle, zu der eine Ehe werden kann – und von den Monstern, | |
die vielleicht in scheinbar kultivierten Menschen schlummern. | |
## Morden ohne Skrupel | |
Auch der Protagonist dieser Geschichte mordet (und zwar die Liebhaber | |
seiner Frau), ohne sich mit moralischen Skrupeln aufzuhalten, und bedauert | |
dabei nur, dass es ihm nicht möglich ist, seiner sechsjährigen Tochter von | |
seinen furchtbaren Taten zu erzählen: Denn das Kind mit seinem noch | |
ungefestigten moralischen Kompass ist sehr enttäuscht, dass sein Vater | |
nicht, wie es von anderen Kindern gehört hat, ein Mörder ist. Für das | |
kleine Mädchen nämlich ist ein Mörder gleichbedeutend mit dem Helden einer | |
Geschichte. | |
Dieses kleine Mädchen heißt nicht Patricia, aber ganz ähnlich: Beatrice. | |
Auch in diese Nebenfigur des von ihrer leichtlebigen Mutter | |
vernachlässigten Einzelkinds sind Züge der Autorin selbst eingegangen. Wie | |
viel von ihr selbst in der Hauptfigur steckt, in dem gebildeten, | |
feingeistigen Verleger und Psychopathen Vic, der nach außen hin die | |
Eskapaden seiner Gattin mit allseits bewundertem Gleichmut erträgt, kann | |
nur Spekulation sein. | |
Aber gerade diesen Roman, der 1957 entstand, im Vergleich mit den frühen | |
Erzählungen zu lesen, macht deutlich, dass Patricia Highsmith einen recht | |
weiten Weg zurückgelegt hat, um ihren konsequent amoralischen Erzählmodus | |
zu entwickeln. | |
## Mit Sexualität hadern | |
Es ist sicher nicht zu weit hergeholt, ein Mitverdienst ihrem | |
Psychoanalytiker (das wird damals, Anfang der 50er Jahre, wohl ein Mann | |
gewesen sein) zuzuschreiben. Zwar mag es ihm nicht gelungen sein, die mit | |
ihrer Sexualität hadernde Jungschriftstellerin zu einer heteronormativen, | |
verheirateten amerikanischen Durchschnittsfrau zu machen. | |
Aber dass die „talentierte Miss Highsmith“ (so der Titel der | |
Highsmith-Biografie von Joan Schenkar) die Dämonen, die in ihr | |
schlummerten, so weit an die Oberfläche brachte, um literarisch damit | |
spielen zu können, war ein möglicherweise unbeabsichtigter, aber im | |
Nachhinein doch ziemlich segensreicher Nebeneffekt jener therapeutischen | |
Behandlung. | |
19 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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