# taz.de -- 10 Jahre #Aufschrei: „Eine Form der Unterdrückung“ | |
> Mit dem Hashtag #Aufschrei trat Anne Wizorek eine Debatte über Sexismus | |
> im Alltag los. Wo steht der Feminismus zehn Jahre später? Ein Gespräch. | |
Bild: Anne Wizorek bei einer Solidaritätskundgebung für die Rechte polnischer… | |
taz: Frau Wizorek, Sie haben vor genau zehn Jahren [1][den Hashtag | |
#Aufschrei auf Twitter initiiert], um damit Erfahrungen von Alltagssexismus | |
zu sammeln. Die [2][überwältigenden Reaktionen] führten zu einer | |
[3][öffentlichen Diskussion] über das Thema in ganz Deutschland. Hat sich | |
in den letzten zehn Jahren auf dieser Ebene etwas verändert? | |
Anne Wizorek: Das Thema bekommt mehr Raum, das ist positiv. | |
Nichtsdestotrotz sehen wir einen ganz klaren Backlash. Der hat auch mit dem | |
Erstarken von Parteien wie der AfD und rechten Ideologien zu tun. Wir | |
bewegen uns nach vorne, sollen aber gleichzeitig direkt wieder | |
zurückgedrängt werden. | |
Feminismus wird seit jeher von Antifeminismus begleitet, auch im Digitalen | |
– das ist mit #Aufschrei sichtbar geworden. Sie haben sich damals auch für | |
mehr Aufmerksamkeit für dieses Thema eingesetzt. Erfolgreich? | |
Definitiv. Ich habe damals im Netz viele Drohungen sexualisierter Gewalt | |
erhalten und musste zur Bewältigung Menschen suchen, die schon Erfahrung | |
damit gemacht hatten. Ich und andere Betroffene hatten sonst keine | |
Hilfsstrukturen, keine Beratung, das öffentliche Bewusstsein fehlte auch. | |
In den letzten zehn Jahren habe ich selbst durch meine öffentliche | |
Aufklärungsarbeit dazu beigetragen, dass sich das ändert. Digitale Gewalt | |
wird allerdings noch nicht ausreichend geahndet. | |
Im Jahr [4][2014 erschien Ihr Buch „Weil ein #Aufschrei nicht reicht“]. | |
Darin fordern Sie etwa die Rezeptfreiheit der Pille danach oder eine Reform | |
des Sexualstrafrechts. Beides ist tatsächlich eingetreten. Sind Sie | |
zufrieden? | |
Ich freue mich natürlich, dass die [5][Pille danach seit 2015 rezeptfrei] | |
zu haben ist, allerdings basiert das auf einer Entscheidung der | |
EU-Kommission und ist nicht der ehemaligen Bundesregierung zu verdanken. | |
Die wollten das nicht und ich werde [6][Jens Spahns unterirdischen | |
Kommentar] niemals vergessen, dass Frauen die Pille danach wie Smarties | |
essen würden, wäre sie rezeptfrei. Bei der Reform des Sexualstrafrechts war | |
und bin ich für eine Implementierung von „Ja heißt Ja“ im Gesetz. Wir hab… | |
stattdessen [7][den Grundsatz „Nein heißt Nein“ bekommen]. Das war schon | |
ein extrem großer Schritt. Wir sehen seit der Reform, dass bereits diese | |
Veränderung etwas bringt: Die Bereitschaft, sexualisierte Gewalt zur | |
Anzeige zu bringen, ist dadurch gestiegen. Aber wir haben immer noch eine | |
zu geringe Verurteilungsquote, weil sich zum Beispiel in der Justiz | |
Vergewaltigungsmythen hartnäckig halten. | |
Was würde „Ja heißt Ja“ ändern? | |
Das würde von allen beteiligten Parteien die Verantwortung bedeuten, | |
sexuelle Handlungen nur mit eindeutigem Einverständnis vorzunehmen. Ein | |
enthusiastisches „Ja!“ eben, selbstverständlich ohne Zwang und Nötigung. | |
Die Bundesfamilienministerin Lisa Paus scheint an der [8][Abschaffung von | |
Paragraf 218] zu arbeiten, also jenem Paragrafen, der | |
Schwangerschaftsabbruch nach wie vor illegalisiert. Bayern droht schon | |
einmal mit Verfassungsklage und in der Welt kommentierte ein Kollege, man | |
solle den Kompromiss von 1993 bloß nicht aufkündigen. Ist jetzt trotzdem | |
der richtige Zeitpunkt? | |
Ja. [9][Gerade wurde Paragraf 219 a abgeschafft], der nur funktionierte, | |
weil in Paragraf 218 steht, dass Schwangerschaftsabbrüche illegal sind. Im | |
Grunde sind sie das durch die Straffreiheit nicht, deshalb brauchen wir | |
Paragraf 219 a nicht mehr – warum sollten wir dann aber 218 behalten? | |
Körperliche und sexuelle Selbstbestimmung darf kein Straftatbestand sein, | |
den man nach Mord und Totschlag regelt. Es wird zum Glück an einem | |
Selbstbestimmungsgesetz zur geschlechtlichen Identität gearbeitet, dann | |
sollten wir Selbstbestimmung auch überall stärken. | |
[10][Wobei das Selbstbestimmungsgesetz gerade eher auf Eis liegt.] Zuletzt | |
sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann, Saunabesuche müssten sicher | |
sein. Das bezieht sich auf das immer wieder vorgebrachte Beispiel, dass | |
sich durch das Selbstbestimmungsgesetz plötzlich beliebige cis Männer als | |
Frauen ausgeben und in die Frauensauna gehen könnten. Kann es für dieses | |
Thema eine Lösung geben? | |
Kein cis Mann wartet auf das Selbstbestimmungsgesetz, um einen | |
sexualisierten Übergriff zu begehen. Das sind Horrorszenarien, die mich an | |
die Schreckbilder vor der Änderung des Sexualstrafrechts erinnern, als die | |
Formel „Nein heißt Nein“ ins Gesetz kam. Es wurde so getan, als kämen dann | |
alle Männer durch rachsüchtige Frauen in den Knast, in der Zeit beschwor | |
man die „Verrechtlichung des Intimlebens“. Das ist natürlich alles nicht | |
passiert. | |
Was sind die drei großen feministischen Aufgaben unserer Zeit, die drei | |
großen Nüsse, die noch zu knacken sind? | |
Um sowohl Sexismus als auch Queerfeindlichkeit zu bekämpfen, müssen wir | |
unter anderem die Ideologie der Zweigeschlechtlichkeit angehen. | |
Zweigeschlechtlichkeit entspricht nicht der Realität, in der wir leben. | |
Dass wir andere Geschlechter gar nicht erst mitdenken, ist eine Form von | |
Unterdrückung. Der wieder zunehmende Biologismus ist eine Rückentwicklung | |
und hat sehr gefährliche Auswüchse. Der Kampf gegen die Klimakrise ist das | |
andere absolut feministische Thema, denn es geht um die Frage, wie wir mit | |
unseren Ressourcen, unserer Lebensgrundlage umgehen. Das dritte große | |
feministische Thema ist die Carekrise. Wie sorgen wir am besten | |
füreinander? In der sogenannten Leistungsgesellschaft müssen wir immer | |
gesund sein, Menschen mit chronischer Erkrankung und mit Behinderung | |
fliegen da schon mal gesellschaftlich raus. Vierzig Stunden die Woche | |
ackern – da bleiben dann gerade Fürsorgeaufgaben auf der Strecke – für | |
Kinder, Beziehungen, Angehörigenpflege, für sich selbst. | |
Im Jahr 2013 war es noch sensationell, dass Sie Feministin waren. | |
Feminismus war noch ein bisschen kurios und jede wurde nach einem | |
Bekenntnis dazu oder dagegen gefragt. Jetzt gibt es junge, starke | |
Klimaaktivistinnen und Aktivistinnen gegen Rassismus – aber keine neuen | |
Feminist*innen, oder? | |
Was Sie beschreiben, ist doch ein Erfolg des intersektionalen Feminismus. | |
Da geht es nicht nur um den Aspekt Geschlecht oder | |
Geschlechtergerechtigkeit, sondern das ist verwoben mit Klimagerechtigkeit, | |
mit Antirassismus und anderen Themen. [11][Luisa Neubauer] etwa hebt auch | |
immer wieder Geschlechteraspekte der Klimakrise hervor. Das ist eine gute | |
Entwicklung. Für die jüngeren Generationen gehört Feminismus eher zum | |
großen Ganzen dazu. Da haben wir offensichtlich gute Vorarbeit geleistet | |
und können uns vielleicht auch ein bisschen auf die Schulter klopfen. | |
25 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/marthadear/status/294586884540223488 | |
[2] /Sexismus-Debatte-um-Bruederle/!5074552 | |
[3] /Sexismus-Aufschrei/!5074391 | |
[4] /Buch-Weil-ein-Aufschrei-nicht-reicht/!5031906 | |
[5] /Beschluss-der-EU-Kommission/!5017759 | |
[6] /Kolumne-Luft-und-Liebe/!5050223 | |
[7] /Neues-Sexualstrafrecht-verabschiedet/!5320253 | |
[8] /Reaktion-auf-moegliches-Ende-von-218/!5905125 | |
[9] /Abschaffung-von-Paragraf-219a/!5863365 | |
[10] /Verzoegerung-von-Selbstbestimmungsgesetz/!5904850 | |
[11] /Fridays-for-Future-ueber-Luetzerath/!5903446 | |
## AUTOREN | |
Katrin Gottschalk | |
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