| # taz.de -- Migrationsdebatten: Deutschland, dein Stadtbild | |
| > Mit einem Satz entfacht Kanzler Merz eine Debatte. Und erinnert Ibrahim | |
| > Arslan an düstere Zeiten, die nie wirklich vorbei waren. Was er | |
| > dagegenhält. | |
| Bild: „Und pass ich hier rein?“, fragt Ibrahim Arslan in Möllns Fachwerkid… | |
| Es ist ein grauer Vormittag in Mölln. Das Kopfsteinpflaster glänzt nass vom | |
| Regen, der Wind pfeift durch die Mühlenstraße. Sonst ist es still. Alles | |
| wirkt friedlich. Eine kleine Stadt, saubere Fassaden. Vor einem Fenster | |
| hängt eine durchnässte Deutschlandfahne. Nur einige Meter entfernt brannte | |
| in der Nacht vom 23. November 1992 ein Haus. Ibrahim Arslan war sieben | |
| Jahre alt, [1][als zwei Neonazis Molotowcocktails durch das Fenster | |
| warfen.] Seine Großmutter Bahide Arslan, seine Cousine Ayşe, seine | |
| Schwester Yeliz – sie starben im Feuer. Er selbst überlebte, auch weitere | |
| Familienmitglieder. | |
| Nach dem Anschlag wollte Mölln schnell weitermachen: keine Schlagzeilen | |
| mehr, kein Streit, keine Schuld. Doch für Familie Arslan war ein | |
| Weiterleben hier unmöglich. „Wir wurden angesehen wie Schandflecke, nicht | |
| wie Betroffene“, sagt er. Nach der Tat habe man sie gemieden. Auf der | |
| Straße blieben Blicke aus, in der Schule wurde geschwiegen, Nachbarn | |
| wechselten die Straßenseite. „Wir waren immer nur die aus dem brennenden | |
| Haus“, sagt er. Für die Familie gab es kaum eine Wahl: Entweder zurück in | |
| die Türkei oder fort aus Mölln. Im Jahr 2000 zogen sie in eine deutsche | |
| Großstadt. Dort lebt Arslan bis heute. | |
| Der Wind wird stärker. Er blickt auf die nasse Straße, als suche er nach | |
| Spuren, die längst verschwunden sind. „Der Geist der 90er Jahre kehrt | |
| förmlich zurück““, sagt er schließlich. „Nur verändert. Und heute ist… | |
| gefährlicher.“ | |
| Seit Mitte Oktober läuft die Debatte darum wieder heiß, wer zu Deutschland | |
| gehört und wer nicht. Wer hier willkommen ist und wer nicht. Und wer sich | |
| hier sicher fühlen darf, oder eben nicht. [2][Erneut entfacht hatte sie | |
| Bundeskanzler Friedrich Merz] bei einem Termin am 14. Oktober in Potsdam, | |
| als er sagte: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses | |
| Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in | |
| sehr großem Umfang Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen“. Was … | |
| einem vagen Satz des Kanzlers begann, ist in wenigen Tagen zu einem | |
| wirkmächtigen Schlagwort geworden. „Das Stadtbild“: zwei Worte, die durch | |
| Talkshows und Kommentarspalten geistern, als wären sie neu erfunden. | |
| Was mit einem Satz des Kanzlers begann – vage, aber wirkmächtig –, ist in | |
| wenigen Tagen zu einem Schlagwort geworden. „Das Stadtbild“: zwei Worte, | |
| die durch Talkshows und Kommentarspalten geistern, als wären sie neu | |
| erfunden. „Das ist dieselbe Sprache wie damals“, sagt Arslan. Der Spiegel | |
| titelte damals: Das Boot ist voll – eine Schlagzeile, die zur Mentalität | |
| wurde. „Und kurz darauf brannten Häuser.“ Als nach dem Anschlag von Mölln | |
| gefragt wurde, warum Helmut Kohl nicht zu den Trauerfeiern fahre, ließ sein | |
| Sprecher mitteilen, der Kanzler habe „wichtige Termine“ – und die | |
| Bundesregierung wolle nicht „in einen Beileidstourismus verfallen“. Worte, | |
| die blieben. | |
| Arslan spricht ruhig, fast sachlich, während er die Ratzeburger Straße | |
| hinuntergeht. Auch hier wurde 1992 ein Haus angezündet – in derselben Nacht | |
| wie das der Arslans, ebenfalls bewohnt von einer Migrant:innenfamilie. | |
| Niemand starb. Die Tat verschwand aus den Schlagzeilen als wäre sie nie | |
| geschehen. „Schließlich gab’s ja keine Toten“, sagt Arslan sarkastisch. … | |
| bleibt kurz stehen, schaut auf den grauen Parkplatz, der heute an dieser | |
| Stelle liegt – leer, und ohne jeden Hinweis darauf, welches Unrecht hier | |
| einst geschah. Dann sagt er leise: „Auch das ist Teil des problematischen | |
| Stadtbilds – nur spricht keiner darüber.“ | |
| Wenn Arslan von den Neunzigern spricht, meint er die Jahre, in denen auch | |
| Asylbewerberheime in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda brannten – eine | |
| Zeit, in der rechte Gewalt Alltag war und viele wegschauten. Er läuft durch | |
| den Kurpark, der direkt hinter dem Haus beginnt. Ein großer, stiller | |
| Grünstreifen, den Möllner:innen zum Spazieren nutzen. Die Steine des | |
| geschotterten Weges knirschen unter seinen Schuhen. Der Wind rauscht durch | |
| die kahlen Bäume. „Typisch Mölln“, sagt er und lacht. „Hier ist nie gut… | |
| Wetter.“ Doch schnell wird er wieder ernst. | |
| Er sagt, die Gewalt der Neunziger habe nie aufgehört – sie sei kein | |
| Kapitel, das Deutschland wirklich hinter sich lassen konnte. „Die Haltung | |
| ist geblieben“, sagt er, nur äußere sie sich immer wieder „in neuen Worte… | |
| neuen Gesichtern“. Nach Mölln kam Solingen. Nach Solingen Hanau, Halle, der | |
| Mord an Walter Lübcke, Anschläge auf Dönerläden, Synagogen und Shisha-Bars. | |
| Bundeskanzler Merz erklärte kurz nach seiner Stadtbild-Aussage bei einem | |
| Termin in London, er habe „nicht alle Migrant:innen“ gemeint, sondern nur | |
| jene, die „keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben und sich nicht an | |
| unsere Regeln halten“. | |
| Arslan blickt die Straße hinunter, auf die Häuserzeilen, die Regenrinnen, | |
| die vertraute Fassade. „Ich soll nicht das Stadtbild sein?“, fragt er | |
| schließlich. Merz’ Rechtfertigung klingt für Arslan wie eine altbekannte | |
| Unterscheidung – zwischen den „guten“ und den „anderen“. Für ihn abe… | |
| die Frage nach dem „Stadtbild“ eng mit seiner Familiengeschichte verbunden. | |
| Seine ermordete Großmutter, Bahide Arslan, kam 1967 als sogenannte | |
| Gastarbeiter:in nach Deutschland – nicht nur, um zu arbeiten. Sie | |
| wollte bleiben, ein Zuhause finden, ihre Kinder hier großziehen. In Mölln | |
| eröffnete Sie den ersten türkischen Lebensmittelladen, später einen | |
| deutschen Imbiss – Frikadellen, Kartoffelsalat, Bratwurst. Die Nachbarn | |
| kamen zum Essen, zum Reden, zum Kaffee. „Sie war Teil dieses Ortes, lange | |
| bevor jemand von Integration gesprochen hat“, sagt Ibrahim Arslan. | |
| Er geht ein paar Schritte die Straße hinunter, entlang einiger | |
| Fachwerkhäuser. Eine Frau im Regenponcho und mit Einkaufstasche huscht | |
| vorbei, senkt den Blick, nickt flüchtig. „Das Stadtbild, das Merz meint, | |
| sind wir“, sagt er. „Nur sieht er uns nicht als Teil davon, sondern als | |
| Störung.“ Arslan lacht kurz, trocken. „Meine Großmutter, meine Familie, a… | |
| die, die hierher kamen, um hier zu leben und nicht nur zu schuften. Ohne | |
| sie gäbe es diese Straßen, diese Läden, dieses Land in dieser Form gar | |
| nicht.“ | |
| Er spricht von den Menschen, die in den 1960er und 1970er Jahren aus allen | |
| möglichen Ländern, vor allem aber aus der Türkei und Italien nach | |
| Deutschland gerufen wurden – die Häuser bauten, in Werkhallen schufteten, | |
| das Land am Laufen hielten und blieben, obwohl sie nie wirklich willkommen | |
| waren. Leute, die das deutsche Stadtbild über Jahrzehnte geprägt haben, | |
| über das heute so so feindselig diskutiert wird. | |
| Arslan glaubt, dass die Bedrohung heute tiefer sitzt, breiter wirkt als in | |
| den Neunzigern. „Heute ist es gefährlicher – nicht, weil mehr Häuser | |
| brennen, sondern weil der Hass leiser geworden ist, aber intensiver und | |
| alltäglicher.“ | |
| 1992 zählten die Behörden mehrere tausend rechtsextreme Gewalttaten. Laut | |
| Verfassungsschutz wurden seit 1990 über 80 Menschen durch rechte Gewalt | |
| getötet. 2024 registrierten die Behörden 37.835 rechtsextremistische | |
| Straftaten – fast 50 Prozent mehr als im Jahr davor. [3][Auch die Zahl | |
| derer, die dem rechtsextremen Spektrum zugerechnet werden, steigt]: über | |
| 50.000 Menschen bundesweit. | |
| Zudem sei früher klarer gewesen, „wer Täter war und wer Opfer“, sagt | |
| Arslan. „Damals hieß es: Kanake oder Nazi. Heute ist es komplexer und | |
| undurchsichtiger.“ Früher haben sich Neonazis und Menschen mit | |
| internationaler Familiengeschichte gegenüber gestanden. Heute verlaufen | |
| würden die Linien quer durch die Gesellschaft – und manchmal auch durch die | |
| Minderheiten selbst. | |
| Gefährlich sei zudem, dass Menschen mit internationaler Familiengeschichte, | |
| die aufgestiegen sind – ins Bildungssystem, in die Politik, in die | |
| Redaktionen – sich in rassistisch gefärbten Debatten nicht mehr gemeint | |
| fühlten. „Sie sagen: ‚Merz redet ja nur über die arbeitslosen Flüchtling… | |
| Und solange sie selbst in Sicherheit leben, sagen sie nichts.“ | |
| Arslan arbeitet im öffentlichen Dienst – auch ein sicherer Job, wie er | |
| sagt. Den Rest seiner Zeit widmet er der Bildungsarbeit. Mit seiner | |
| Initiative „Reclaim and Remember“ geht er in Schulen, spricht mit | |
| Jugendlichen über Rassismus, Gewalt, Erinnerung und Empowerment. | |
| Aufklärungsarbeit – ganz ohne Fördergelder, selten finanziell honoriert, | |
| meist ehrenamtlich. „Wir mussten die Gedenkkultur selbst in die Hand | |
| nehmen“, sagt er. | |
| Jahrelang fanden die offiziellen Reden in Gedenken an die Brandanschläge in | |
| Mölln ohne seine Familie statt. Die Stadt erinnerte – aber ohne den | |
| Betroffenen ein Rederecht zu geben. Also gründeten sie ihre eigene | |
| Initiative: ein Gedenken aus der Perspektive der Überlebenden, nicht der | |
| Verwaltenden. | |
| „Wir haben wohl das Stadtbild gestört“, sagt Arslan und lacht. „Die | |
| harmonische Gedenkkultur der weißen Mehrheitsgesellschaft unterbrochen und | |
| dadurch durchbrochen.“ Heute gilt Mölln als Synonym für partizipatives | |
| Erinnern – weil die Familie Arslan es erkämpft hat. Dabei störe eigentlich | |
| genau das im Stadtbild: „Dass wir Betroffenen bis heute die Bildungsarbeit | |
| übernehmen müssen“, sagt Arslan. | |
| In seinen Workshops spricht er über Vorurteile, Gewalt und Verantwortung. | |
| Nach dem Kölner Silvester 2015, als tagelang über „arabische Männer“ und | |
| Geflüchtete diskutiert wurde, erklärte er immer wieder, dass das Problem | |
| nicht „der syrische oder muslimische Mann“ sei, „sondern das Patriarchat … | |
| in jeder Kultur“. | |
| Und auch um Angst dreht sich Arslans Bildungsarbeit – seiner eigenen: der | |
| Angst um seine Kinder. Ob sie allein zur Schule gehen können, ob sie auf | |
| dem Spielplatz beleidigt oder bedroht werden, ob ein falsches Wort wieder | |
| etwas auslöst. Es ist die alltägliche Angst, über die kaum jemand Spricht, | |
| obwohl sie so viele Menschen mit internationaler Familiengeschichte in | |
| Deutschland bedrückt – während die Angst vor dem „fremden Flüchtling“,… | |
| „den Migranten“ politisch aufgebauscht und ausgeschlachtet wird. Merz’ | |
| Worte zum Stadtbild treffen deshalb doppelt: Sie verschweigen eine | |
| Bedrohung, während sie eine andere heraufbeschwören. | |
| In Potsdam dominiert Ende Oktober ebenfalls der Regen das Stadtbild. In der | |
| Fußgängerzone spritzen die Pfützen, Touristen hasten mit Regenschirmen | |
| Richtung Schloss Sanssouci. Englische und spanische Wortfetzen mischen sich | |
| mit dem Klang der Straßenbahn. Dass Friedrich Merz seine Aussage über das | |
| „Stadtbild“ ausgerechnet hier machte, ist kein Zufall. Brandenburg gilt | |
| seit Jahren als politisches Pulverfass: In aktuellen Umfragen liegt die AfD | |
| mit rund dreißig Prozent vorn, die SPD folgt knapp dahinter, die CDU liegt | |
| auf Platz drei. Die Stimmung ist aufgeheizt. In vielen Orten wächst das | |
| Misstrauen, die Gespräche werden härter, die Grenzen zwischen konservativ | |
| und rechts verschwimmen. Merz’ Worte fielen hier auf fruchtbaren Boden. | |
| Seitdem ist „das Stadtbild“ zum Schlagwort geworden – nicht mehr nur in d… | |
| Politik, sondern in Alltagsgesprächen, auf Marktplätzen und Schulhöfen. | |
| Eine Gruppe Jugendlicher steht unter einem Vordach, lacht laut, klatscht | |
| sich ab. Als sie gefragt werden, was sie von der Aussage des Kanzlers | |
| halten, werden sie plötzlich still. Einer zuckt mit den Schultern, eine | |
| andere verdreht die Augen. „Einfach nur nichts“, sagt einer aus der Gruppe, | |
| erklären möchte er das nicht und auch anonym bleiben, das sei wichtig für | |
| ihn. „Wir würden uns sicherer fühlen ohne den Merz“, sagt schließlich die | |
| 17-jährige Steph. Sie ist noch Schülerin und sie will ihren echten Namen | |
| nicht in der Zeitung lesen. Aus Angst, die Eltern könnten Ärger machen. | |
| Denn zu Hause sei diese Debatte ein Thema: ihre Mutter habe Angst, sie | |
| könnte „von einem dieser arbeitslosen Flüchtlinge“ angegriffen werden. | |
| Steph schüttelt den Kopf. „Das ist doch eine dumme Aussage“, sagt sie. „… | |
| von einem arbeitslosen Deutschen werde ich dann nicht vergewaltigt, oder | |
| was?“ | |
| ## Eine Sprache, die verunsichert | |
| Nicht alle denken so. Am Straßenrand bleibt Petra S., 65, stehen, den | |
| Regenschirm fest in der Hand. Sie sagt, sie fühle sich „bedroht“, weil sie | |
| in der Stadt „so viele Migranten“ sehe und höre. „Man versteht ja gar | |
| nicht, was die reden“, sagt sie. „Als Deutsche sollte man sich doch sicher | |
| fühlen, oder?“ Auf die Frage, wo genau sie diese Migranten sehe, schaut sie | |
| sich suchend um, deutet auf die leere Straße und sagt schließlich: „Heute | |
| sieht man sie nicht.“ Für sie sei das, sagt sie, kein AfD-Narrativ, sondern | |
| „eine reale Veränderung im deutschen Stadtbild“. | |
| Merz’ Worte wirken weit über Potsdam hinaus. Sie markieren eine Linie, | |
| entlang derer sich das politische Klima verschiebt – weg vom Versuch, zu | |
| beruhigen, hin zu einer Sprache, die verunsichert. Blickt man auf die | |
| Laufbahn des Bundeskanzlers, wird klar, dass solche Töne kein Zufall sind. | |
| Ob in den Debatten um die „deutsche Leitkultur“ in den 1990er Jahren, um | |
| Abtreibungsrechte in den 2000ern oder mit seinen Aussagen über „kleine | |
| Paschas“: die Grenze zum rechten Rand hat Merz immer wieder überschritten – | |
| nicht aus Versehen, sondern mit Kalkül. | |
| Für Ibrahim Arslan ist das keine akademische Debatte, sondern eine Frage | |
| seines Alltags. In Mölln, sagt er, habe die Stadt seiner Familie nach dem | |
| Anschlag keine Perspektive geboten; die Gewalt sei nicht nur Geschichte, | |
| sie wirke weiter in ihren Beziehungen, im Vertrauen, in der Art, wie | |
| Nachbarn einander begegnen – oder nicht begegnen. „Ob AfD oder CDU – beide | |
| nutzen die gleiche rassistische Rhetorik“, sagt er, kurz, wie ein Urteil. | |
| Seine Wut mündet in eine Idee. Er stellt sich vor, was passieren würde, | |
| wenn die Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte, die das Land am | |
| Laufen halten, für einen Tag die Arbeit niederlegten: Kitas blieben zu, | |
| Busse fuhren nicht, Kliniken würden knapper besetzt sein. „Vielleicht | |
| schaffen wir es, dass alle 25 Millionen die Arbeit liegen lassen“, sagt er. | |
| „So wie wir das aufgebaut haben, so können wir es auch zerstören.“ | |
| Was erst mal klingt wie eine Drohung, ist für Arslan eine Forderung nach | |
| Solidarität: kein Aufruf zum Chaos, sondern ein Versuch, sichtbar zu | |
| machen, was sonst unsichtbar bleibt – wer die Arbeit leistet und wer davon | |
| profitiert. Es ist eine taktische Idee, ein Hebel: Macht demonstrieren, | |
| damit Anerkennung nicht länger nur ein Wort bleibt. Und doch ist da auch | |
| der Zorn, die klare Botschaft an jene, die mit Ausschlussrhetorik Wahlkampf | |
| betreiben: Vergesst nicht, wer dieses Land trägt. | |
| Diese Vorstellung greift Jennifer Follmann auf. Als Merz in die Kameras | |
| sagte, man solle „mal die Töchter fragen“, musste sie etwas dagegen tun, | |
| [4][denn auch sie war ja schließlich als Tochter gemeint]. „Ich wollte mich | |
| eigentlich weiter verstecken“, nicht aus Angst wie sie sagt, sondern auch | |
| um ihre Kinder zu schützen. „Aber irgendwann war klar: Es gibt keinen Raum | |
| mehr, um unsichtbar zu sein.“ Follmann ist 38 Jahre alt, geboren in | |
| Luxemburg. Ihre Eltern kamen nach Deutschland als sie vier Jahre alt war. | |
| Später floh sie aus einem streng jüdisch-orthodoxen Elternhaus. Heute lebt | |
| sie in Chemnitz – einer Stadt, die sich gern weltoffen nennt und doch immer | |
| wieder wegen rechter Gewalt Schlagzeilen macht. Dort gründete sie Safe | |
| Space Chemnitz, eine Initiative für Betroffene von Rassismus, | |
| Antisemitismus und rechter Gewalt. | |
| Sie hat hellblondes Haar, wache, grüne Augen, ein Gesicht, das Ruhe | |
| ausstrahlt, selbst wenn sie über Angst spricht. Wer sie sieht, erkennt | |
| keine Aktivistin auf einer Bühne, sondern eine Frau, die gelernt hat, | |
| Haltung zu bewahren. Follmann kennt die Erfahrung von Hass auch persönlich | |
| – als Jüdin, als Frau. Seit Jahren engagiert sie sich in der | |
| Flüchtlingshilfe und in der politischen Bildung, spricht an Schulen, | |
| organisiert Workshops. Nach mehreren Angriffen steht sie unter | |
| Personenschutz. Trotzdem entschied sie sich, sichtbar zu bleiben. „Ich | |
| wollte nicht, dass Angst das letzte Wort hat“, sagt sie. In einer Stadt wie | |
| Chemnitz ist das mehr als Haltung – es ist Mut. | |
| In jener Nacht von Merz’ Töchter-These gründet sie den Instagram-Account | |
| „Töchter gegen Merz“. Sie schreibt den ersten Post, wählt den Namen, | |
| entwickelt die Inhalte, formuliert den Aufruf. Binnen Stunden folgen | |
| Tausende, heute sind es rund 30.000. „Ich wollte eine Plattform schaffen | |
| für die, über die sonst nur gesprochen wird“, sagt sie. [5][Aus ihrem | |
| Impuls wird eine Bewegung] – kein Verein, keine Kampagne, sondern ein | |
| Aufschrei. Der Hashtag #TöchtergegenMerz wurde tausendfach geteilt: | |
| Schwarze, Jüdinnen, Muslimas, alleinerziehende Mütter, Transfrauen – | |
| Frauen, die von Gewalt und Ausgrenzung erzählten, aber nicht von den | |
| Männern, über die Merz sprach. | |
| Einen Tag später fragt sie Selda Kaya, ob sie mitmachen möchte. Kaya, 49, | |
| Schauspielerin und Aktivistin aus Berlin-Schöneberg, stimmt sofort zu. Sie | |
| wuchs auf zwischen Hausbesetzer:innen, Gastarbeiterfamilien und queeren | |
| Communities – ein Viertel, laut, solidarisch, politisch. Sie nennt es ihre | |
| Schule des Widerstands. Selda Kaya hat dunkle Locken, eine klare Stimme und | |
| eine Körperhaltung, die keine Zweifel vermuten lässt. Seit den Neunzigern | |
| steht sie auf Bühnen und Straßen, kämpft gegen Sexismus und gegen das, was | |
| sie „verkleideten Rassismus im Anzug“ nennt. | |
| Anfang November veröffentlichten Follmann und Kaya auf dem Account einen | |
| Aufruf: Am 9. März 2026, dem Montag nach dem Frauentag, soll das Land für | |
| einen Tag innehalten. Kein verbotener Generalstreik, sondern ein | |
| freiwilliger, bundesweiter Aktionstag – ein Tag des Protests, der | |
| Solidarität, der Unterbrechung. Ein Frauenstreik, so wie es Follmann nennt. | |
| „Wir wollen zeigen, auf wessen Schultern dieses Land ruht“, postet sie. | |
| Politische Arbeitsniederlegungen sind in Deutschland rechtlich heikel; | |
| erlaubt sind nur Streiks, die sich auf tarifliche Ziele beziehen. Follmann | |
| weiß das, betont die Freiwilligkeit – legale Formen des Protests, stille | |
| Pausen, kollektive Auszeiten, Absprache mit Gewerkschaften, gegenseitigen | |
| Schutz. | |
| Im Gespräch mit ihnen wird klar, wie sehr die Wut der Betroffenen eine | |
| andere Tonlage hat als die Empörung der Mehrheitsgesellschaft. Follmann | |
| spricht leise, aber mit einer Schärfe, die hängen bleibt: „Wenn Menschen | |
| wie wir nicht mehr sprechen, übernehmen wieder andere das Wort.“ Gemeint | |
| sind jene, die ohnehin das Wort haben – Politiker, Männer, die seit | |
| Jahrzehnten den Diskurs bestimmen. Es geht ihr nicht um Kontrolle, sondern | |
| um Stimme. Darum, wer sprechen darf – und wer immer nur Thema bleibt. Kaya | |
| nickt. „Wir haben genug von dieser symbolischen Solidarität. Heute gegen | |
| rechts, morgen wieder still. Wir brauchen Strukturen, keine Statements.“ | |
| Sie spricht von Frauenhäusern, die längst am Limit arbeiten – überfüllt, | |
| unterfinanziert, übersehen. Nur ein Beispiel von vielen. | |
| Zurück in Mölln hat der Regen endlich aufgehört. Arslan steht an der | |
| Promenade, der Himmel noch grau, ein Boot zieht langsam über den Kanal. | |
| Hinter ihm die Kirche, davor Fachwerkhäuser – das Idyll bleibt stehen, als | |
| wäre nie etwas passiert. Arslan zeigt hinter sich, lacht kurz. „Und pass | |
| ich da rein?“, fragt er scherzend. Dann wird er ernst: „Heute passt der | |
| Flüchtling nicht ins Bild, morgen die Queeren, dann die Frauen – und | |
| irgendwann kommt jeder dran.“ | |
| Transparenzhinweis: In einer früheren Version des Textes wurden die Namen | |
| von Ibrahim Arslans Cousine Ayşe und seiner Schwester Yeliz vertauscht. | |
| Diesen Fehler haben wir korrigiert. | |
| 4 Nov 2025 | |
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| [3] https://www.verfassungsschutz.de/DE/themen/rechtsextremismus/zahlen-und-fak… | |
| [4] /Friedrich-Merz-ist-kein-Feminist/!6122098 | |
| [5] /Stadtbild-Debatte/!6119202 | |
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| Derya Türkmen | |
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