| # taz.de -- Erziehungsforscherin über Teilhabe: „Verhältnis von Schule und … | |
| > An den Schulen gehe es immer noch autoritär zu, sagt | |
| > Erziehungswissenschaftlerin Katjuscha von Werthern. Sie erklärt, wie mehr | |
| > Mitbestimmung gelingt. | |
| Bild: Die Schule bleibt autoritär geprägt, Blick in ein Klassenzimmer in Berl… | |
| taz: [1][Das deutsche Schulsystem] hat antidemokratische Wurzeln, seit der | |
| Kaiserzeit standen Kreidetafel und Schlagstock für Gehorsamkeit und | |
| Untertanendenken. Diese Dinge sind aus den Klassenräumen verschwunden – ist | |
| Schule trotzdem noch undemokratisch? | |
| Katjuscha von Werthern: Vieles ist zum Glück anders, aber die Schule bleibt | |
| autoritär geprägt. Das fängt bei der Schulpflicht an, Kinder und | |
| Jugendliche sind ja nicht aus freien Stücken dort. Der Ablauf eines | |
| Schultags ist von Erwachsenen vorgegeben, die Schüler:innen haben sich | |
| dem unterzuordnen. Die Sozialpädagogin Manuela Ritz bezeichnet das als | |
| „Adultismus“. | |
| taz: Können Schulen denn wirklich demokratisch sein? Kritiker:innen | |
| wenden ein, dass Kinder und Jugendliche erst mit der Zeit lernen, | |
| Verantwortung für das große Ganze zu übernehmen. | |
| Von Werthern: Das Verhältnis von Schule und Demokratie ist kompliziert. | |
| Lehrkräfte sollen vor allem Wissen vermitteln und haben zudem eine | |
| Fürsorgepflicht – das steht einem demokratischen Miteinander mitunter im | |
| Weg. Ein drastisches Beispiel: 2016 wollten sich Schüler:innen aus | |
| Berlin einem Schul- und Unistreik anschließen und während der | |
| Unterrichtszeiten bei einer Demo gegen Rassismus mitlaufen. Ihre Schule, | |
| ein Gymnasium am Prenzlauer Berg, verriegelte daraufhin das Schultor und | |
| schloss die Schüler:innen ein. Weil Schule aber der einzige Ort ist, den | |
| alle Kinder und Jugendlichen besuchen, können auch nur dort alle Demokratie | |
| erfahren. | |
| taz: Ein Balanceakt … | |
| Von Werthern: … zu dem die Schulen auch verpflichtet sind. Die | |
| Bundesrepublik hat die [2][UN-Kinderrechte] ratifiziert, darunter das Recht | |
| auf Beteiligung. In ihren Schulgesetzen verpflichten sich sämtliche | |
| Bundesländer auf eine Erziehung zur Mündigkeit. Es wird übrigens häufig | |
| unterschätzt, was schon Grundschüler:innen auf die Beine stellen | |
| können. | |
| taz: Zum Beispiel? | |
| Von Werthern: Ich habe Grundschüler:innen begleitet, die sich im | |
| Stadtteil umgesehen haben, mit der Frage: Wo fühlen wir uns wohl, was macht | |
| uns vielleicht Angst? Weil ihr Spielplatz häufig als Toilette missbraucht | |
| wurde, wünschten sie sich ein öffentliches Klo an dem Ort. Mich haben auch | |
| Gymnasiast:innen aus der Nähe von Hanau beeindruckt. Bekannte der | |
| Jugendlichen waren von den [3][rechtsextremen Anschlägen im Jahr 2020] | |
| betroffen. Sie bauten eine eigene Bibliothek auf, erstellten Plakate und | |
| boten ihre Expertise den teils überforderten Lehrkräften an. Sie gingen | |
| auch in die Klassen, um dort mit den anderen Schüler:innen über das | |
| Attentat und über Diskriminierung zu sprechen. Weil unser Schulsystem sehr | |
| hierarchisch geprägt ist, sind solche Impulse aber auf Unterstützung von | |
| Erwachsenen angewiesen. Und die bleibt oft aus. | |
| taz: Was ist mit den gewählten Klassen- und Schulsprecher:innen? Die sollen | |
| die Schüler:innen vertreten. Ist das nicht demokratisch? | |
| Von Werthern: Diese Gremien sind stark durchorganisiert: in allen Klassen, | |
| Schulen, Ländern und im Bund. Wenn die Vertreter:innen ihre eigenen | |
| Rechte kennen, können sie auch einiges bewegen. Beispielsweise dürfen sie | |
| alle Schüler:innen zu einer Vollversammlung rufen. Aber die Rechte sind | |
| oft nicht bekannt. Es kommt vor, dass die Vertreter:innen vor allem | |
| Aufgaben der Lehrkraft übernehmen sollen. Nach dem Motto: Du bist | |
| Klassensprecherin, du passt auf, dass die Klasse ruhig ist, wenn ich am | |
| Kopierer stehe. | |
| taz: Florian Fabricius, der damals bei der Bundesschülerkonferenz war, | |
| [4][hat das in der taz „Youthwashing“ genannt]: Die Vertreter:innen | |
| sollten den nächsten Nikolaustag gestalten, bildungspolitisch traue man | |
| ihnen aber wenig zu. | |
| Von Werthern: Das Phänomen betrifft nicht nur die Gremien. Ich habe erlebt, | |
| wie eine Schule nach einem schlechten Ergebnis in der Schulinspektion Geld | |
| in Demokratisierungsprozesse gesteckt hat. Die Veränderung, die dadurch | |
| möglich wurde, hat sie dann sabotiert. Hinzu kommt: Kleine Veränderungen, | |
| ein Morgenkreis oder Klassenrat etwa, in dem sich alle frei äußern und | |
| beteiligen sollen, bleiben ein leeres Versprechen, solange der Rest des | |
| Schultags in autoritären Bahnen läuft. Die Kinder im Morgenkreis werden | |
| sehr vorsichtig sein, was sie den Personen gegenüber äußern, die sie später | |
| benoten. Die sind ja nicht blöd. | |
| taz: Wo müsste man denn ansetzen – im Politikunterricht? | |
| Von Werthern: Was viel zu kurz kommt, ist das Erfahren von Demokratie, von | |
| Selbstwirksamkeit und Beteiligung. Es ist zweifellos wichtig, über das | |
| demokratische System in Deutschland Bescheid zu wissen. Aber wer Demokratie | |
| lernen will, muss auch die eigene Fähigkeit wahrnehmen, Dinge zu verändern. | |
| taz: Wie kann das aussehen? Sie haben viele Schulen beim Aufbau | |
| demokratischer Strukturen begleitet. | |
| Von Werthern: Wenn es um eine größere Veränderung an einer Schule geht, | |
| beteiligen wir in dem Prozess verschiedene Gruppen, die vom Schulalltag | |
| betroffen sind. Alle Schüler:innen, Eltern und das Kollegium versammeln | |
| sich in eigenen Runden und formulieren gemeinsame Anliegen, die sie dann im | |
| großen Kreis aushandeln. Schüler:innen fordern vielleicht längere Pausen | |
| oder Lernzeiten, Eltern mehr Einblick in schulische Abläufe. Am Ende stehen | |
| verbindliche Entscheidungen. So oder so müssen Lehrer:innen Macht | |
| teilen, der Autoritätsverlust fällt vielen schwer. | |
| taz: Nicht wenige Lehrkräfte wünschen sich eine Arbeit auf Augenhöhe. | |
| Von Werthern: Das stimmt. Aber für ein demokratisches Klima in der Schule | |
| braucht es Lehrer:innen, die konsequent an einem anderen Miteinander | |
| arbeiten. Ein demokratisches Schulklima zeigt sich in vielen kleinen | |
| Dingen: Eine Schulleiterin erklärte mir, sie bespreche mittlerweile mit den | |
| Grundschulkindern, welches Buch sie lesen oder welchen Ausflug sie | |
| unternehmen wollen. So etwas. Wenn dann ein Kind einen Kinofilm ab 18 | |
| vorschlägt, legt sie ein Veto ein, aber erklärt auch, warum. Sie nimmt also | |
| ihre Fürsorgepflicht wahr, erläutert aber die Gründe für ihre Entscheidung. | |
| Das können Kinder in der Regel gut nachvollziehen, sie wurden aber trotzdem | |
| gehört. | |
| taz: Die Politik redet derzeit viel über Schwächen beim Lesen und Rechnen, | |
| [5][auf die Studien hingewiesen haben]. Umfragen zeigen aber auch, dass | |
| rechtsextreme Meinungen unter Schüler:innen zunehmend verbreitet sind. | |
| Setzt die Politik einen falschen Schwerpunkt? | |
| Von Werthern: Die Politik setzt meiner Meinung nach einen falschen | |
| Schwerpunkt, wenn sie diese Dinge gegeneinander ausspielt. Kinder lernen | |
| besser, wenn sie sich in der Schule wohlfühlen, wenn Erwachsene sie ernst | |
| nehmen und Konflikte konstruktiv gelöst werden. Das gehört alles zu einer | |
| demokratischen Schulkultur dazu. | |
| 3 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
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