| # taz.de -- Demokratiebildung an Schulen: Jung und kämpferisch | |
| > Die Bundestagswahl hat gezeigt: Junge Menschen fühlen sich von der | |
| > Politik nicht gehört. Ein Bremer Gymnasium zeigt, wie man Jugendliche | |
| > ernst nimmt. | |
| Bild: Erst schüchtern, dann Gewinner bei „Jugend debattiert“: der Bremer A… | |
| Bremen taz | Drei Tage nach der Bundestagswahl sitzen 21 Schüler:innen | |
| zwischen 14 und 18 Jahren in einem hellen Klassenzimmer am nördlichen | |
| Bremer Stadtrand. Manche kauen an der Pizza, die sie aus der Mensa | |
| mitgebracht haben. | |
| Während ihre Mitschüler:innen jetzt Mittagspause haben, trifft sich | |
| hier die freiwillige AG „Demokratisch Handeln, Partizipation und Resilienz“ | |
| des Gymnasiums Horn. In der Runde diskutieren sie, was es braucht, [1][um | |
| die Demokratie zu retten]. Erstens eine Lehrerin, die bereit ist, auch in | |
| ihrer Freizeit für die Schule zu arbeiten und zweitens … eigentlich nichts. | |
| Das ist ein nicht ganz unerheblicher Befund in einer Zeit, in der [2][21 | |
| Prozent der 18- bis 24-jährigen Wähler:innen für die AfD] gestimmt | |
| haben, eine extrem rechte Partei, die einigen Bevölkerungsgruppen weniger | |
| Rechte als anderen zuspricht, damit den demokratischen Grundsatz von | |
| Gleichheit und Freiheit verletzt und außerdem regelmäßig die Presse- und | |
| Meinungsfreiheit beschneidet, ebenfalls ein Grundpfeiler der Demokratie. | |
| Zum Vergleich: Einen noch höheren Stimmanteil bei den Jungwähler:innen | |
| bekam bei dieser Bundestagswahl mit 25 Prozent nur die Linke. Für Grüne, | |
| CDU und SPD entschieden sich nur zwischen 10 und 13 Prozent. | |
| ## Wichtiger als Medienkompetenz | |
| „Junge Menschen fühlen sich von den etablierten demokratischen Parteien | |
| nicht mehr angesprochen und ernst genommen“, [3][folgert daraus die | |
| Deutsche Kinder- und Jugendstiftung], die vergangene Woche dazu eine | |
| Pressemitteilung veröffentlichte. „Sie fühlen sich machtlos und nicht | |
| gehört“, heißt es weiter darin. Um dem entgegenzuwirken, müssten Kinder und | |
| Jugendliche an Schulen lernen, wie sie Gesellschaft aktiv mitgestalten | |
| können. Es brauche dort eine „qualitätsvolle Demokratiebildung“. | |
| Die ehemalige Digital-Politikerin und heutige Beteiligungspädagogin Marina | |
| Weisband hält das für wichtiger als ein Schulfach Medienkompetenz, [4][das | |
| oft gefordert wird] und in Thüringen vergangenes Jahr eingeführt wurde, wie | |
| sie in einem [5][Interview für die Robert Bosch Stiftung] sagte. „Das | |
| Problem an Fake News ist ja nicht, dass wir nicht in der Lage sind, sie zu | |
| erkennen, sondern dass wir ein emotionales Bedürfnis haben, sie zu glauben. | |
| Dann, wenn ich mich ohnmächtig fühle und jemanden suche, der für mein | |
| Unglück verantwortlich ist.“ | |
| Am Gymnasium Horn in Bremen hat sich Anne Kroh für die Demokratiebildung | |
| eingesetzt. Die promovierte Politikwissenschaftlerin, Lehrbeauftragte an | |
| der Universität Bremen und Politik- und Deutschlehrerin hat die AG | |
| gemeinsam mit einer Kollegin vor dreieinhalb Jahren ins Leben gerufen, nach | |
| dem Ende des zweiten Corona-Lockdowns. Ursprünglich sei es darum gegangen, | |
| Schüler:innen zu helfen, denen es sehr schwerfiel, vor anderen zu reden. | |
| Aus diesem Training gegen Sprechängste habe sich dann etwas entwickelt, was | |
| auf die Stärkung der Gesamtkonstitution zielte. | |
| In einem Artikel für einen Schulbuchverlag beschreibt sie die | |
| Wechselwirkung zwischen demokratischem Handeln und Resilienz. Wer innerlich | |
| stark und widerstandsfähig sei, könne dem aktuellen Forschungsstand nach | |
| Herausforderungen besser bewältigen, was zu demokratischem Handeln | |
| befähige. Umgekehrt stärke letzteres die Resilienz, wenn Schüler:innen | |
| anhand praktischer Erfahrungen ihre Selbstwirksamkeit als politische | |
| Subjekte erleben. | |
| ## Fokus auf kleinen Projekten | |
| Der 18-jährige Abiturient Levin Meyer hat das erlebt. „Bis zur 9. Klasse | |
| war ich sehr schüchtern und habe im Unterricht so gut wie nie etwas | |
| gesagt.“ Die kleinen Erfolge des Sprechtrainings hätten ihn selbstbewusster | |
| gemacht, sagt er. Er wurde gemeinsam mit anderen aus der AG | |
| Schülersprecher, sprach vor Dutzenden Erwachsenen bei der Einweihung des | |
| Arisierungsmahnmals und gewann im vergangenen Jahr den Landeswettbewerb | |
| Jugend debattiert. Das zu hören, mache ihr Mut, sagt später in kleinerer | |
| Runde in der Mensa eine 14-Jährige. „Ich habe oft noch Angst, etwas | |
| Falsches zu sagen.“ | |
| Es gehe darum, den Fokus auf kleinere Projekte zu richten, bei denen die | |
| Erfahrung gemacht werden könne, etwas positiv zu beeinflussen, erklärt | |
| Levin Meyer. „Wenn man nur diese großen, abstrakt wirkenden Themen wie | |
| Klimawandel betrachtet, fühlt man sich hilflos und geht daran kaputt.“ | |
| Weder er noch die anderen wirken angesichts des Wahlergebnisses besonders | |
| niedergeschlagen – eher kämpferisch. | |
| „Viele begreifen nicht, was die AfD will, weil sie die genauen | |
| Ausformulierungen auslässt“, sagt der 18-jährige Erik Wolters, und der | |
| 15-jährige Nicolas Binns seziert, wie die AfD vordergründig einen | |
| Minimalkonsens vertrete, hinter dem sich viele versammeln können, etwa dass | |
| Migration die Ursache aller Probleme wäre. Dabei ist er der Einzige in der | |
| Runde, der sich offensiv als links bezeichnet und auch so aussieht. Die | |
| Schule liegt in einem wohlhabenden Stadtteil, mit 25 Prozent war die CDU | |
| hier stärkste Partei bei der Bundestagswahl. Die aktuelle Vorsitzende der | |
| Schüler Union ist ebenfalls Mitglied der AG. | |
| Parteipolitik spiele keine Rolle in der AG, sagt Levin Meyer, „es geht um | |
| die eigene Perspektive.“ Dabei lernen sie, mit unterschiedlichen Meinungen | |
| umzugehen. Als sie zum Beispiel dem Westermann Verlag einen Brief | |
| schrieben, in dem sie den Umgang mit dem N-Wort in einem Schulbuch | |
| kritisierten, hätten sie diskutiert, was sie vom Verlag verlangen sollen, | |
| sagt sein Mitschüler Erik Wolters. Einig seien sie sich allerdings, wie | |
| wichtig der Kampf gegen Rechtsextremismus ist. Alle Projekte des | |
| vergangenen Jahres hätten damit zu tun gehabt. | |
| ## „Vorsicht an der Bahnsteigkante“ | |
| Ihre Lehrerin Anne Kroh schickt später eine lange Liste, auf welchen | |
| politischen Veranstaltungen Mitglieder der AG ihre Forderungen vorgestellt | |
| haben, in Berlin und Bremen. Für ihr Engagement ist die AG von der | |
| Vereinigung für politische Bildung ausgezeichnet worden, sie war Ehrengast | |
| beim Neujahrsempfang der Bremischen Bürgerschaft. Es sind nette, kluge | |
| Jugendliche, angenehme, überlegte Gesprächspartner:innen, die man gerne | |
| einlädt. | |
| Aber wer als Erwachsener glaubt, sie nicht ernst nehmen zu müssen, irrt. | |
| Auf einer Podiumsdiskussion vor der Wahl Anfang Januar stellen sie ihr | |
| politisches Verständnis unter Beweis. Den CDU-Landesvorsitzenden nehmen die | |
| drei 15-jährigen Moderator:innen mehrfach so in die Mangel, dass der | |
| sich nur noch damit zu helfen weiß, sie als ahnungslose Jugendliche | |
| herunterzumachen. „Vorsicht an der Bahnsteigkante“, sagt er und: „Den | |
| Nahostkonflikt versteht man nicht, wenn man TikTok guckt.“ Drei Mal | |
| erinnern ihn die Moderator:innen freundlich an die Regel des | |
| respektvollen Umgangs. | |
| Diskussionen mit Erwachsenen auf Augenhöhe sind ein Kernelement der AG. | |
| Aber die Schüler:innen handeln auch: Gründen eine Schülerzeitung und | |
| [6][einen Instagram-Blog], vertreten Interessen der Schüler:innen in der | |
| SV, sorgen für die Einführung eines digitalen Schülerausweises. Ein Schüler | |
| hat in seinem Stadtteil ein kommunalpolitisches Jugendforum gegründet und | |
| streitet sich mit Lokalpolitikern um Mitspracherechte. | |
| Und dann ist da noch der Brief an die Bremer SPD-Bildungssenatorin Sascha | |
| Aulepp, geschrieben Anfang Januar. Vier Stunden [7][verbindlichen | |
| Politikunterricht] in der Sekundarstufe I fordert die AG darin sowie | |
| Demokratiebeauftragte an den Schulen, die dafür drei Entlastungsstunden | |
| bekommen sollen. | |
| ## Brief an Senatorin | |
| Mittlerweile leite sie die AG nicht mehr komplett in ihrer Freizeit, sagt | |
| Anne Kroh, aber mehr als eine Stunde stehen ihr und ihrer Kollegin jeweils | |
| auch nicht dafür zur Verfügung. „Es ist wichtig, dass eine Lehrkraft die | |
| Verantwortung trägt“, sagt Erik Wolters, „das garantiert die Kontinuität.… | |
| Was vielen nicht bewusst ist: Das Zeitfenster, in dem sich Jugendliche | |
| selbst für ihre Belange einsetzen können, ist verdammt klein. | |
| Die Schüler:innen wissen, dass ihre Voraussetzungen ganz andere sind als | |
| die von Gleichaltrigen in weniger privilegierten Stadtteilen, wo sich | |
| Lehrer:innen um teils existenzielle Probleme ihrer Schüler:innen | |
| kümmern müssen. „Politische Bildung darf kein Privileg für wenige sein“, | |
| heißt es in dem Brief an die Bildungssenatorin, „sie ist ein Grundrecht für | |
| alle und der einzige wirksame Schutz vor Demokratiefeindlichkeit und | |
| politischer Manipulation von Jugendlichen und Kindern“. | |
| Ende März können sie darüber mit der Bildungssenatorin diskutieren. Sie hat | |
| einen Besuch zugesagt. | |
| 9 Mar 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /AfD-mit-Rassismus-zum-Rekord/!6071932 | |
| [2] /Wahl-nach-Altersgruppen/!6071323 | |
| [3] https://www.dkjs.de/publikation/junge-menschen-sind-politisch-interessiert-… | |
| [4] /Strategien-gegen-Fake-News/!6044579 | |
| [5] https://deutsches-schulportal.de/schulkultur/marina-weisband-demokratiebild… | |
| [6] https://www.instagram.com/horndemokratie/ | |
| [7] /Politische-Bildung-an-Schulen/!6013581 | |
| ## AUTOREN | |
| Eiken Bruhn | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Schule | |
| Krise der Demokratie | |
| Politische Bildung | |
| Jugend | |
| Social-Auswahl | |
| Oberschulen | |
| Bildungspolitik | |
| Schule | |
| Podcast-Guide | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Junge Menschen zur Bundestagswahl | |
| Jugend | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Protokolle von Schüler*innen: Alles muss man selber machen | |
| Mitbestimmung an Schulen ist zwar schwierig, aber möglich. Drei | |
| Schüler*innen berichten. | |
| Erziehungsforscherin über Teilhabe: „Verhältnis von Schule und Demokratie i… | |
| An den Schulen gehe es immer noch autoritär zu, sagt | |
| Erziehungswissenschaftlerin Katjuscha von Werthern. Sie erklärt, wie mehr | |
| Mitbestimmung gelingt. | |
| Selbst sind die Schülerinnen: Zwei Elfjährige melden eine Demo an | |
| Eine Schule, auf der Kinder ihre Fähigkeiten entdecken und Politiker, die | |
| viel Geld für Bildung ausgeben: Das fordern zwei Bremer Fünftklässlerinnen. | |
| Podcast „End Zwanni“: Warum es schön ist, älter zu werden | |
| Jeden Dienstag unterhalten sich Gesina und Annika über Fragen wie: „Machen | |
| Beziehungen uns langweiliger?“ und „Wie menstruieren Fledermäuse?“ | |
| Wählen mit Migrationshintergrund: Studie zu Wahlverhalten und Herkunft | |
| Menschen mit Migrationshintergrund wählen anders als der Rest der | |
| Bevölkerung. Eine neue Studie des DeZIM-Instituts zeigt genau, wie. | |
| Wahl nach Altersgruppen: Die Jugend ist links | |
| Ältere Wähler:innen verschafften der Union den Wahlsieg. Die Erst- und | |
| Jungwähler:innen hingegen suchen nach einer linken Alternative. | |
| Erstwähler:innen und Klimakrise: Worauf es für die Jugend bei der Bundestagsw… | |
| Endlich mitbestimmen! Für mehr als zwei Millionen Menschen ist die | |
| Bundestagswahl am 23. Februar eine Premiere. Doch welche Themen sind ihnen | |
| wichtig? | |
| Politische Bildung an Schulen: Es braucht mehr als Youthwashing | |
| Nach dem starken Zulauf zur AfD bei der Europawahl stellt sich auch die | |
| Frage: Haben die Schulen bei der politischen Bildung alles richtig gemacht? |