| # taz.de -- Dokumentarfilm „Das deutsche Volk“: Eiskalte Bürokratie | |
| > Marcin Wierzchowski lässt die Angehörigen der Opfer des Anschlags von | |
| > Hanau zu Wort kommen. Zu sehen ist der Film auf der Hamburger | |
| > Dokfilmwoche. | |
| Bild: Hanaus Lokalpolitik findet, Emiş Gürbüz sollte ihren Zorn für sich be… | |
| Eine Einstellung im Dokumentarfilm „Das deutsche Volk“ von Marcin | |
| Wieszchowski bringt auf den Punkt, wie verheerend die Reaktion des | |
| politischen Apparats des Landes Hessen und der Stadt Hanau auf die | |
| rechtsterroristischen Mordtaten vor fünf Jahren für die Angehörigen der | |
| Opfer ist. Zu sehen ist Cetin Gültekin, dessen Bruder Gökhan 2020 bei dem | |
| rassistischen [1][Anschlag in Hanau] ermordet wurde: „So etwas darf es in | |
| Deutschland nicht geben!“, ruft er einer Gruppe von | |
| Lokalpolitiker*innen und leitenden Beamt*innen zu. Einer von ihnen | |
| steht hinter dem zornigen Angehörigen, schamvoll den Kopf gesenkt. | |
| Nach der Premiere bei der Berlinale im Februar läuft dieser eindringliche | |
| Film nun am Freitag auf der Dokfilm-Woche. Mehr als vier Jahre lang hat | |
| Wierzchowski die Hinterbliebenen von Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, | |
| Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, | |
| Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov und Gökhan Gültekin mit der Kamera | |
| begleitet. Ihre Namen werden im Film immer wieder genannt, ihre Fotos immer | |
| wieder in die Kamera gehalten. | |
| In einem konventionellen Dokumentarfilm wären die meisten dieser Sequenzen | |
| als redundant weggeschnitten worden. Aber Wierzchowski hat seinen Film | |
| radikal aus der Perspektive der Hinterbliebenen gedreht. | |
| Spätestens am Schneidetisch muss er erkannt haben, wie wichtig ihnen solche | |
| Rituale sind: Vom politischen System Deutschlands schmählich im Stich | |
| gelassen, war es ihnen unmöglich, mit Trauerarbeit den Tod ihrer Liebsten | |
| zu verarbeiten, ihrer Kinder, ihrer Geschwister. So zeigt er, wie die | |
| Zimmer der Opfer von ihren Familien als Schreine hergerichtet und geehrt | |
| werden und wie Emiş Gürbüz das Handy ihres toten Sohnes nie abschaltet, | |
| sondern täglich neu auflädt. | |
| Am Anfang des Films schildern die Angehörigen der Opfer sowie die | |
| Überlebenden des Anschlags, wie sie diese Stunden erlebt haben. Schon in | |
| diesen unmittelbaren Berichten wird deutlich, wie vollständig der | |
| Polizeiapparat versagt hatte – so wurden Notrufe nicht weitergeleitet –, | |
| aber keinerlei Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Betroffenen nahm: Ein | |
| Vater stand, ohne dies zu wissen, an einem der Tatorte stundenlang wenige | |
| Meter von der Leiche seines Sohnes entfernt. Von den Polizeikräften wurde | |
| er dann rüde zurückgehalten. | |
| Auch andere Angehörigen wurden viel zu lange über das Schicksal der Opfer | |
| im Unklaren gelassen. Die Zustimmung zu einer Obduktion wurde einfach nicht | |
| eingeholt, angeblich, weil die Familie nicht aufzufinden gewesen wäre. Sie | |
| hätte diesem Eingriff aus religiösen Gründen niemals zugestimmt. | |
| Zudem wurden die Körper der Getöteten wochenlang zurückgehalten. | |
| Angemessene Bestattungen machte man dadurch unmöglich. Zugleich waren die | |
| Polizeiberichte gespickt mit rassistischen Begriffen. Diese Mängel wurden | |
| schon früh nach dem Anschlag öffentlich gemacht, aber offiziell bestritten. | |
| Und dann begannen die Mühlen der Bürokratie zu mahlen. | |
| Da der Täter beim Anschlag selbst auch ums Leben kam, gab es keinen | |
| Strafprozess gegen ihn. In dessen Rahmen wären auch die Versäumnisse der | |
| Polizei untersucht worden. | |
| Offiziell wurden die Einsatzkräfte jedoch gelobt. Dabei mussten die | |
| Betroffenen die Beweise sammeln. Ihre Initiative regte Recherchen auch des | |
| englischen Künstler*innenkollektiv Forensic Architecture an. Diese | |
| brachten zutage, dass ein verschlossener Notausgang an einem der Tatorte | |
| das Entkommen von vielen Opfern verhindert hatte. | |
| Die Hinterbliebenen waren es auch, die durch öffentlichen Druck die | |
| Einsetzung eines Untersuchungsausschusses erreichten, der ein vernichtendes | |
| Urteil über die [2][Versäumnisse von Polizei und Justiz] fällte. Anderthalb | |
| Jahre nach der Tat stellte sich schließlich heraus, dass 13 Mitglieder des | |
| Spezialeinsatzkommandos, das in der Tatnacht im Einsatz war, zu einem | |
| rechtsradikalen Netzwerk innerhalb der hessischen Polizei gehörten. | |
| Indem Wierzchowski konsequent aus der subjektiven Perspektive der | |
| Angehörigen erzählt, macht er deutlich, wie diskriminierend der Blick der | |
| Mehrheitsgesellschaft auf diese deutschen Staatsbürger*innen ist. Er | |
| gibt ihnen Zeit und Raum dafür, ihre Enttäuschung über die deutsche | |
| Mehrheitsgesellschaft auszudrücken. Indem er Trauer- und Gedenkfeiern, | |
| religiöse Rituale und Gebete in langen Einstellungen dokumentiert, | |
| behandelt er auch die Toten mit der Würde und Menschlichkeit, die ihnen | |
| angemessen ist. | |
| ## Der Konflikt schwelt weiter | |
| Und er zeigt, wie konstruktiv die Aktivitäten der Betroffenen sind: So hat | |
| Niculescu Păun durchgesetzt, dass in seinem rumänischen Heimatdorf eine | |
| Straße nach seinem Sohn Vili Viorel benannt wurde. Armin Kurtović stiftete | |
| den nach seinem Sohn benannten „Hamza-Kurtović-Award gegen Rassismus“. Eine | |
| groß angelegte Initiative der Betroffenen für ein Mahnmal scheiterte am | |
| Widerstand der Stadt-Offiziellen, die so etwas nicht auf ihrem schönen | |
| Marktplatz haben wollten. Der Film macht die bürokratische Kälte der | |
| Planungssitzungen deutlich, indem er einen Einwurf von [3][Emiş Gürbüz] | |
| dokumentiert, bei dem ihre Wut regelrecht aus ihr herausbricht. | |
| Der Konflikt schwelt weiter. Bei der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des | |
| Anschlags am 19. Februar 2025 war die Hanau regierende Deutschlandkoalition | |
| aus CDU, SPD und FDP so empört über die Rede von Emiş Gürbüz, dass sie die | |
| Mutter schriftlich aufforderte, ihres Sohns künftig [4][nur mit dem | |
| gebotenen Respekt gegenüber Bund, Land, Stadt zu gedenken habe]. | |
| Den Hanauer Marktplatz beherrscht das Denkmal der berühmten Söhne der Stadt | |
| Jacob und Wilhelm Grimm. Auf dessen Sockel wird als Stifter „Das deutsche | |
| Volk“ genannt. Marcin Wierzchowski macht mit seinem Film deutlich, wie | |
| widersprüchlich diese Widmung ist. | |
| 22 Apr 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Wilfried Hippen | |
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