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# taz.de -- Stummfilm „Die Straße“: Gesenkteres Haupt war noch nie
> Vor mehr als jundert Jahren begründete der Stummfilm „Die Straße“ ein
> ganzes Genre. Ob er auch heutzutage noch zur Furore reicht?
Bild: Szenenbild aus dem Stummfilm „Die Straße“
Als „Die Straße“ vor hundert Jahren in die Kinos kam, machte der Film
Furore, nicht nur in Deutschland, sondern bald darauf auch in Paris oder
London. [1][Siegfried Kracauer], späterer Autor des bis heute kanonischen
Werks „Von Caligari zu Hitler“, lobte ihn in seiner Kritik in der
Frankfurter Zeitung als „eines der wenigen Werke moderner Filmregie, in
denen ein Gegenstand Gestaltung erfährt, den nur der Film so gestalten
kann, und Möglichkeiten verwirklicht werden, die nur für ihn überhaupt
Möglichkeiten sind“.
Er begründete gar ein ganzes Genre, das der „Straßenfilme“: Ein Mann geht
hinaus in die Großstadt, die sich als Moloch erweist, und kehrt gedemütigt,
mindestens ernüchtert zurück. Einen Namen trägt der Held in diesem Film
nicht, im Titel ist er nur als „Der Ehemann“ ausgewiesen. Er liegt zu
Beginn in seinem Bett in kärglicher Stube, die Kamera blickt von noch
tiefer unten: ein Schattenspiel an der Decke, Heim-Kino quasi, lockt den
Mann ans Fenster.
Draußen lebhafter Straßenverkehr, aber vor dem inneren Auge noch viel
wilderes Treiben, das in wilder Überblendung expressionistisch ausgemalt
wird, mit Feuerwerk, Jahrmarkt, rasenden Rädern und Autos, Achterbahn,
Tanz, Clown, dem verführerischen Lächeln einer Frau: Das Vergnügen der
Außenwelt nimmt in dieser Montage zeitgemäß filmische Form an. Da muss der
Ehemann hin, verlässt klammheimlich die Wohnung. Die Suppe, die die Frau in
der Küche gekocht hat, schüttet sie zurück in den Topf.
Die Welt der Straße ist eine der Studiobauten. Und sie ist voller falscher
Versprechen. Eine Frau an der Ecke, die jung scheint, deren Gesicht sich im
nächsten Bild als Totenschädel erweist. Eine aufleuchtende Lichtschlange
auf dem Boden lädt den Mann in ein Etablissement, eine Trickbetrügerin will
ihm ans Portemonnaie, später wird er beim Kartenspiel hinter einem Vorhang
im Tanzlokal ausgenommen. Der Biedermann stakst mit Schirm und Hut als
Fremdelement durch diese nächtliche, ihm fremd bleibende Welt, ein bisschen
wie Jacques Tatis Monsieur Hulot Jahrzehnte später.
## Es gibt keine Dialoge
Gesprochen wird nicht. Das gehörte zu den Dingen, die Kracauer so großartig
fand. Der Film braucht keine Zwischentitel, sondern reimt sich alles ohne
Worte zusammen, Bilder und Gesten genügen. Das Spiel ist deutlich genug:
Wenn Eugen Klöpfer als Ehemann am Ende gesenkten Hauptes zur Gattin
zurückkehren wird, dann ist das ganz wörtlich zu nehmen, gesenkteres Haupt
war noch nie.
Klöpfer war mehr ein Mann des Theaters als des Kinos, mit sehr deutscher
Karriere: Goebbels-Kumpel, Staatsschauspieler, [2][Intendant der Berliner
Volksbühne], wichtige Rolle in [3][Veit Harlans antisemitischem Machwerk
„Jud Süß“], von Hitler als „Gottbegnadeter“ vom Kriegseinsatz befreit…
hatte nach dem Krieg kaum Konsequenzen, er spielte weiter, starb aber bald.
Regisseur Karl Grune dagegen ging 1933 nach England ins Exil, drehte ein
paar erfolglose Filme, dann war es mit seiner Karriere zu Ende.
Der Ausgabe der „Edition Filmmuseum“ ist ein weiterer Stummfilm beigegeben,
„Gefahren der Großstadt“, 1924 in München gedreht, der in didaktischen
Szenen vor Bananenschalen und Trickdieben warnt, auch vor Müttern mit
Kinderwagen, die den Straßenbahnen und Autos im Weg sind. Filmisch ist das
nicht sehr interessant, immerhin ist eine Szene mal knallrot viragiert.
Eindrucksvoll sind die dokumentarischen Aufnahmen, etwa der enorme Verkehr
auf dem Marienplatz, hier sind es die Fußgänger, die sich störend
verhalten. Ein Glück, dass die Polizei eingreift und alles regelt. Ihr wird
im Vorspann herzlich gedankt. Das verbindet die Filme: Sie sind als
autoritäre Ordnungsrufe gemeint.
28 Apr 2025
## LINKS
[1] /Biografie-von-Siegfried-Kracauer/!5357359
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[3] /Nazi-Hetzfilm-Jud-Suess/!5164257
## AUTOREN
Ekkehard Knörer
## TAGS
DVD
Stummfilm
Film
Film
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau
Film
Spielfilm
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