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# taz.de -- Marta Savinas „Primadonna“: Wider die Wiedergutmachungsehe
> „Primadonna – Das Mädchen von morgen“ ist klassisches Erzählkino. Dar…
> widersetzt sich eine Frau dem sexistischen Strafrecht im Italien der
> 1960er.
Bild: Will beim Plan der Männer nicht mitmachen: Lia (Claudia Gusmano) in „P…
Auch zu Weihnachten 1966 wurde Lia Crimi wieder nicht vom Priester
auserwählt, die heilige Maria in der Kirche zu spielen. Also steht sie kurz
darauf wieder mit der Hacke neben ihrem Vater auf dem Feld und zieht
Saatfurchen. Bei einer Messe sieht sie, dass Lorenzo Musicò, Sohn des
örtlichen Mafioso, aus Deutschland in das Dorf im Osten Siziliens im
Hinterland von Trapani zurückgekehrt ist.
Einige Tage später folgt sie Lorenzo auf eines der Felder – ihre ehemalige
Flamme erweist sich schnell als besitzergreifender übergriffiger Mann, der
ihrer beider Hochzeit für gesetzt hält. Doch Lia kommen Zweifel, und ihr
Vater will mit den örtlichen Honoratioren und Mafiosi nichts zu tun haben.
Derart fädelt die in Florenz geborene Regisseurin Marta Savina in ihr
Langfilmdebüt „Primadonna“ eine Geschichte ein, deren weiterer Verlauf in
Italien bis heute nachhallt.
Weil sich nämlich Lorenzo weder den Widerstand von Lias Vater noch deren
Zögern bieten lassen will, beschließt er, sie zu entführen, zu
vergewaltigen und beides anschließend, wie im italienischen Strafrecht der
Zeit vorgesehen, durch den matrimonio riparatore (Wiedergutmachungsehe)
nachträglich zu legalisieren. Doch Lia weigert sich, bei dem Plan
mitzuspielen. Trotz des Drucks, den [1][das organisierte Verbrechen] und
das organisierte Patriarchat (der Priester und die Carabinieri des Ortes)
auf sie ausüben. Stattdessen bringt sie Lorenzo und seine Helfer vor
Gericht.
Savinas Film beruht auf der wahren Geschichte der Franca Viola. Die
erlangte Mitte der 1960er Jahre in Italien Berühmtheit, als sie sich
weigerte, die sexistische Regelung des Strafrechts zu akzeptieren und ihren
Vergewaltiger Filippo Melodia vor Gericht anklagte. Das Konzept der
„Wiedergutmachungsehe“ gehört zur europäischen Rechtstradition und stammt
aus der Constitutio Criminalis Carolina im 16. Jahrhundert. In Italien
wurde diese Regelung besonders lang noch angewandt.
„Primadonna“ ist klassisches Erzählkino, linear erzählt, scheinbar
naturalistisch inszeniert, aber mit zwei wichtigen filmischen
Entscheidungen. So verzichtet Savina darauf, Sizilien, wie auch im
italienischen Film üblich, als sonnendurchflutetes Klischee zu zeigen.
Dafür ist der Film auf Sizilianisch gedreht, was nicht zuletzt möglich war,
weil die meisten Darsteller_innen von der Insel stammen. Claudia Gusmano
(Lia) und Fabrizio Ferracane (der Lias Vater spielt) stammen beide aus der
Provinz Trapani, Dario Aita (Lorenzo Musicò) aus Palermo, nur Francesco
Colella, der Lias Anwalt spielt, stammt aus Catanzaro in Kalabrien.
## Historisches Vorbild: Das Gerichtsverfahren der Franca Viola
Für etwa das letzte Drittel wird „Primadonna“ zum Gerichtsdrama. Wie
wichtig das Gerichtsverfahren und vor allem Franca Violas Auftritt als
Zeugin für das Italien der 1960er Jahre war, wird in einem zeitgenössischen
Artikel aus Noi donne (Wir Frauen) erkennbar: „Nicht nur hat sie sich der
Wiedergutmachungsehe widersetzt, sondern sie hat auch gesprochen.“ Violas
Aussage vor einem öffentlich tagenden Gericht zu einem tabuisierten Thema
wie sexuelle Gewalt schlug Wellen. Nicht zuletzt, weil ihr Verteidiger,
anders als im Film, kein Unbekannter war, sondern der damalige Abgeordnete
Westsiziliens im italienischen Parlament und spätere Senator Ludovico
Corrao.
Für einen kurzen Moment schien auch die offizielle italienische Politik zu
reagieren. Als Viola zwei Jahre später einen Jugendfreund heiratete,
schickte der italienische Staatspräsident Giuseppe Saragat, erster
Sozialist im Amt, ein Hochzeitsgeschenk. Wichtiger noch: Kurz nach dem
Gerichtsverfahren, in dem Franca Viola über Filippo Melodia und seine
Handlanger obsiegt hatte, schlug der damalige Justizminister Oronzo Reale
vor, die beiden Paragrafen des Strafrechts, die den matrimonio riparatore
und die Strafmilderung von Tötungsdelikten an Ehefrau, Tochter oder
Schwester „im Zustand des Zorns“ vorsahen, abzuschaffen.
Ein Vorschlag der erst 1981, anderthalb Jahrzehnte später, umgesetzt wurde.
Es dauerte weitere 15 Jahre, bevor 1996 Vergewaltigung im italienischen
Strafrecht nicht länger als Verbrechen gegen die Moral, sondern als
Verbrechen an einer Person eingestuft wurde (in der Bundesrepublik war das
auch erst 1973 geschehen) – eine Narbe, die bis heute im Text des
italienischen Strafrecht unübersehbar ist. Diese Neuklassifikation führte
nämlich dazu, dass die Artikel, die Sexualstraftaten behandeln, als Nummern
2 bis 11 an Artikel 609 angehängt sind, der Amtsmissbrauch öffentlicher
Ämter regelt.
Savinas Film feierte 2022 auf dem Filmfestival in Rom Premiere und lief im
Jahr darauf am Feministischen Kampftag, am 8. März 2023, in den
italienischen Kinos an. Der Erfolg war – anders als bei [2][Paola
Cortellesis „C’è ancora domani“], der im Herbst des Jahres startete –
überschaubar. Sehenswert ist „Primadonna“ dennoch, wovon man sich nun auch
in deutschen Kinos überzeugen kann.
9 Apr 2025
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## AUTOREN
Fabian Tietke
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