# taz.de -- Regisseur Miguel Gomes über „Grand Tour“: „Für mich bedeute… | |
> Der neuste Film des Regisseurs Miguel Gomes „Grand Tour“ läuft nun auf | |
> Mubi. Ein Gespräch über eine Grenzwanderung zwischen Raum, Zeit und | |
> Genre. | |
Bild: Die Anmut der menschlichen Gesten: Cláudio da Silva als Timothy Sanders … | |
Eine vielschichtige Reise inszeniert der portugiesische Regisseurs Miguel | |
Gomes in seinem sechsten Film „Grand Tour“, in dem er die fiktive | |
Geschichte eines Kolonialbeamten im Jahr 1918 auf der Flucht vor seiner | |
Verlobten quer durch Asien mit aktuellen dokumentarischen Aufnahmen der | |
Region verbindet. Mit diesem wurde der 1972 geborene Gomes im vergangenen | |
Jahr erstmals in den Wettbewerb von Cannes eingeladen und erhielt prompt | |
den Regiepreis. „Grand Tour“ gibt es ab 18. April auf der | |
Streaming-Plattform Mubi zu sehen. Ein Gespräch über unerwartete | |
Entdeckungen und die Anmut menschlicher Gesten. | |
taz: Herr Gomes, wie kamen Sie auf den Begriff „Grand Tour“, der sich auf | |
eine Reiseroute durch Asien bezieht, die im frühen 20. Jahrhundert populär | |
war? | |
Miguel Gomes: Ich habe von dieser Route durch William Somerset Maughams | |
Reisebuch „The Gentleman in the Parlour“ aus dem Jahr 1930 erfahren, das | |
mich dann zu dem Film inspiriert hat. Zur Zeit des britischen Empire | |
reisten viele Schriftsteller auf dieser Route, die im alten Burma oder | |
Indien begann und meist in China endete. | |
taz: Was hat Sie daran interessiert? | |
Gomes: Für mich bedeutet Filmemachen, meinen Alltag zu verlassen und mich | |
auf ein Abenteuer einzulassen. Ich versuche, etwas einzufangen, das mich | |
überrascht, bewegt und auf eine andere Art und Weise berührt. Bevor wir das | |
Drehbuch zu „Grand Tour“ schrieben, machten wir uns selbst auf | |
Entdeckungstour. Mit einem kleinen Team reisten wir durch Myanmar und | |
Japan, arbeiteten in jedem Land mit kleinen Produktionsfirmen vor Ort. Das | |
Schreiben kam als Reaktion auf die Erfahrungen dieser Reise, auf das | |
Material, das wir dort aufgenommen haben. | |
taz: Wie gut kannten Sie die unterschiedlichen Gegenden Asiens? | |
Gomes: Im Grunde gar nicht, deswegen war es wichtig, zuerst selbst dorthin | |
zu reisen. Wir haben einen Großteil selbst gedreht, [1][nur in China waren | |
wir nicht]. Im Februar 2020 waren wir gerade in Japan und planten den | |
nächsten Trip, da sagten unsere chinesischen Partner, es gäbe ein Problem, | |
wir könnten wegen des Covid-Ausbruchs nicht einreisen. Wir dachten | |
zunächst, das wird in wenigen Monaten wieder vorbei sein. Am Ende waren es | |
fast zwei Jahre. 2022 beschlossen wir dann, aus der Ferne zu drehen. Wir | |
hatten eine chinesische Crew vor Ort, ich war in Lissabon in einem Haus mit | |
zwei, drei anderen Leuten, umgeben von Monitoren. Auf einem sah ich, was | |
das Handy des Regieassistenten zeigte, um eine Vorstellung der Umgebung zu | |
haben, ein anderer zeigte die Perspektive der 16-Millimeter-Kamera. | |
taz: Wie kann man sich die Kommunikation vorstellen? | |
Gomes: Ich flüsterte dem Kameramann virtuell Anweisungen zu, etwa auf etwas | |
zu schwenken, das ich auf dem Handy sah, das aber außerhalb des Blickfelds | |
seiner Kamera war. Obwohl ich ihm noch nie persönlich begegnet war, | |
funktionierte es überraschend gut, ich konnte fast so Regie führen, als | |
würde ich direkt neben ihm sitzen. | |
taz: Wie lässt sich ein Land aus der Ferne entdecken? | |
Gomes: Es schränkt natürlich extrem ein, nicht physisch anwesend zu sein | |
und mit eigenen Augen wahrnehmen zu können. Hauptkriterium, um zu | |
entscheiden, wo wir drehen und welche Art von Ereignissen wir filmen, war | |
immer mein eigenes Interesse. Was fasziniert mich, welche Bilder finde ich | |
reizvoll? Die Männer, die am Jangtse-Fluss Boote stromaufwärts ziehen, das | |
Riesenrad von Rangun, das Pflücken der Lotusblumen in Thailand. Ich wollte | |
die reale Welt festhalten, die aus höchst unterschiedlichen Dingen besteht, | |
eine Art Montage der Attraktionen. Die Gegenwart ist oft spektakulärer als | |
das fiktionale Kino, das im Studio entsteht. | |
taz: Würden Sie sich als ethnografischen Filmemacher bezeichnen? | |
Gomes: [2][Chris Marker] ist natürlich ein Bezugspunkt für mich. Und vor | |
ihm Robert Flaherty, der mit Filmen wie „Nanook“ eine lyrische Art erfunden | |
hat, Realität zu inszenieren. Mich interessiert es, Menschen zu filmen, die | |
andere Dinge tun, als ich in Lissabon sehe oder selbst tue. Ich denke, es | |
ist die Aufgabe eines Filmemachers, eine gewisse Anmut in der Welt zu | |
finden und diese einzufangen. Anmut in den Gesten von Menschen, beim Essen, | |
bei der Arbeit, wo auch immer sie etwas tun, ohne dabei an eine Kamera zu | |
denken. Und die Anmut von Dingen, die für sich existieren. | |
taz: Diese Ebene ergänzen Sie dann aber durch eine weitere Dimension, die | |
Welt der Fiktion. Warum? | |
Gomes: Mir gefiel die Idee eines Mannes, der vor seiner Hochzeit in Panik | |
gerät, in die Ferne flieht und dabei von seiner Verlobten verfolgt wird. Er | |
ist ein melancholisch Verlorener, sie eine energisch treibende Kraft mit | |
einem Ziel. Ich versuche in meinen Filmen auf verschiedene Weise diesen | |
Dialog zwischen parallelen Welten zu etablieren, die gleichberechtigt sind. | |
Der existierenden Realität da draußen und der Welt des Kinos, die ich ganz | |
bewusst künstlich halte, weil ich den Betrachtenden nicht vorgaukeln will, | |
die Wirklichkeit zu sehen, ganz im Gegenteil. | |
taz: Diese erfundene Ebene steht im starken Kontrast zu den | |
dokumentarischen Bildern, angesiedelt in einer anderen Epoche und gedreht | |
im Studio, mit Anleihen an Stummfilme und Screwballkomödien. | |
Gomes: Die Welten sollten wie Gegensätze sein, Vergangenheit und Gegenwart, | |
Innen und Außen, künstliches Studiolicht und unwägbare Witterung. Zugleich | |
ergeben sich immer wieder Verbindungen und Überschneidungen auf Bild- und | |
Tonebene. Wenn ich etwa im Studio ein Postamt im Saigon vor 100 Jahren | |
inszeniere, erinnert es an den Exotismus aus einem Hollywoodfilm der 1940er | |
Jahre. Dann schneide ich zu einer Aufnahme eines echten Postamts der Stadt, | |
die heute Ho-Chi-Minh-Stadt heißt. In diesen Bildern schwingt der | |
Zusammenhang von Gegenwart und Kolonialerbe mit und auch, wie sehr unser | |
Blick auf diese Region durch das klassische amerikanische Kino geprägt ist, | |
Filme wie [3][Josef von Sternbergs] „Shanghai Express“ etwa. „Grand Tour�… | |
ist so nicht nur eine geografische Reise, sondern auch durch verschiedene | |
Zeiten und Realitäten. Ich will die Illusion des Kinos als Konstruktion | |
sichtbar machen, das Künstliche daran bewusst werden lassen. Meine Filme | |
sind für ein Publikum, das sich seinen eigenen Reim auf scheinbar | |
Widersprüchliches, Diskontinuierliches macht und nicht einfach nur passiv | |
Bilder auf sich einprasseln lässt. | |
taz: Sie benutzen dabei sowohl Schwarz-Weiß als auch Farbbilder. Warum? | |
Gomes: Aus ganz praktischen Gründen. Wir haben auf analogem | |
16-mm-Filmmaterial in Schwarzweiß gedreht, das aber bei dunklen | |
Lichtverhältnissen nicht empfindlich genug ist. Wenn man nachts filmt, ist | |
es sehr schwierig, dass es gut aussieht oder man überhaupt etwas erkennt. | |
Wir haben solche Szenen dann auf viel lichtempfindlicherem Farbfilm gedreht | |
und wollten sie später in der Postproduktion in Schwarzweiß umwandeln. Im | |
Schnitt langweilte uns diese Homogenität jedoch bald, mein Editor und ich | |
experimentierten dann doch mit den ursprünglichen Farben und fanden den | |
Kontrast sehr schön. Es gab aber kein festes Prinzip, kein strenges | |
Konzept, das Auftauchen von Farbe folgt keiner narrativen oder symbolischen | |
Logik, es war intuitiv und unvorhersehbar. Wir fanden im dunklen | |
Schneideraum wieder zu einem Staunen zurück, wie wir es bei unserer | |
Entdeckungsreise zu Beginn empfanden. | |
18 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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