| # taz.de -- Biografie von Siegfried Kracauer: Erfahrung des Übergangs | |
| > Freundschaft, Theorie und Exil prägten das Leben des Intellektuellen | |
| > Siegfried Kracauer. Zum 50. Todestag erscheint die erste große Biografie. | |
| Bild: Eine Ausstellung zeigte 2014 die wichtigsten Stationen Kracauers in seine… | |
| Wer war Kracauer? Sein bekanntestes, im New Yorker Exil geschriebenes Buch, | |
| „From Caligari to Hitler“, erschien 1958 auf Deutsch, auf die Hälfte | |
| zusammengekürzt und politisch entschärft. Aber das geistige Klima begann | |
| sich in den frühen sechziger Jahren zu verändern; in kurzer Folge kamen als | |
| Teil der Suhrkamp-Kultur die Essaysammlung „Das Ornament der Masse“ (1963) | |
| und „Theorie des Films“ (1964) auf den deutschen Markt. Man rezipierte den | |
| 1889 geborenen Kracauer wie einen Zeitgenossen. Das ist heute nicht mehr | |
| möglich. | |
| Jörg Später hat zum 50. Todestag Kracauers eine detailreiche, empathische | |
| Biografie veröffentlicht, die einem Regale von Sekundärliteratur erspart. | |
| Zeit und Raum, in denen sich Kracauers Leben bewegte, werden akribisch | |
| ausgeleuchtet. Auch dem Nachleben Kracauers in den Wissenschaften wird | |
| ausführlich nachgegangen. | |
| Später bewegt sich kenntnisreich in dem umfangreichen Material; er schmiegt | |
| sich an den reaktiven Gestus des Biografierten an, der ein Vielleicht dem | |
| bestimmten Urteil vorzog. So fällt ein mildes Licht auf die von Adorno | |
| monierte Theorieschwäche Kracauers, die ein zentraler Konflikt in dieser | |
| „troubled friendship“ (Martin Jay) war. | |
| Adorno betitelte 1964 einen Radioessay zum 75. Geburtstag Kracauers „Der | |
| wunderliche Realist“. Nicht nur deswegen war der Jubilar ziemlich | |
| verstimmt. Er wollte sich nicht in dem Bild wiedererkennen, das Adorno für | |
| ihn vorgesehen hatte. Und er vermied panisch Altersangaben. | |
| ## Eine wunderliche Freundschaft | |
| Kracauers Sehnsucht nach Exterritorialität hat Adorno 1966 in seinem | |
| Nachruf auf den Exilierten, der nur noch zu Besuch nach Deutschland kam, | |
| verraten. Dieser Wunsch, sich jenseits von Raum und Zeit zu bewegen, kann | |
| tatsächlich zum Schlüssel werden, um ein bewegtes Leben zu entziffern. | |
| Kracauer, 14 Jahre älter als das Wunderkind Teddie Wiesengrund, lernte ihn | |
| als Sekundaner am Ende des Ersten Weltkriegs kennen. Zwischen Schüler und | |
| Lehrer entwickelte sich eine innige Nähe, die vielen Zerreißproben | |
| ausgesetzt war. Die Freundschaft dieses ungleichen Paares trug wunderliche | |
| Züge. Ihr philosophisches Lernen war auf existenzielle Weise mit den | |
| Entwürfen eines richtigen Lebens verknüpft. Ihre Beziehung schwankte | |
| zwischen pädagogischem Eros, Verliebtheit, Eifersucht, Gekränktsein und | |
| Konkurrenz. | |
| Adorno hatte Kracauer nicht nur einen intimen Zugang zur Philosophie, | |
| sondern auch zum Schreiben zu verdanken. Kracauer, unglücklich mit seinem | |
| Brotberuf des Architekten, fand 1921 in der Frankfurter Zeitung einen | |
| geistigen Beruf, zunächst als Lokalreporter, dann als Filmkritiker und als | |
| Feuilletonredakteur. Adorno, noch unentschieden zwischen Musik und | |
| Philosophie, suchte noch seinen Weg. Eine Universitätskarriere galt damals | |
| keineswegs als selbstverständlich, für Juden schon gar nicht. | |
| ## Unsichere Leben | |
| Für seine Freunde und Bekannten wurde der Redakteur der Frankfurter Zeitung | |
| eine wichtige Bezugsperson; er verschaffte ihnen Publikations- und | |
| Verdienstmöglichkeiten. Das in jeder Hinsicht unsichere Leben der | |
| Intellektuellen zur Weimarer Zeit führt Später dem Leser eindringlich vor | |
| Augen. So nur lässt sich die Atmosphäre von Eifersucht, Angst vor Plagiaten | |
| und rigorosen moralischen Ansprüchen erfassen. „Karrierist“ hieß das | |
| schlimmste Schimpfwort. | |
| Krac, wie er sich gerne nennen ließ, zog Autoren wie Benjamin und Bloch in | |
| seine Zeitung. Aber der umworbene Redakteur konnte es nicht allen recht | |
| machen. Der aufstrebende Star der Frankfurter Universität, Max Horkheimer, | |
| Direktor des gerade gegründeten Instituts für Sozialforschung, fühlte sich | |
| von Krac schlecht behandelt. Die Annäherung seiner jungen Freunde Adorno | |
| und Löwenthal an das Institut beobachtete Krac mit Misstrauen. | |
| Krac selbst hatte früh die Soziologie als Wissenschaft für sich entdeckt. | |
| Scheler und Simmel beschäftigten ihn schon zu Kriegszeiten. Sein eigenes | |
| soziologisches Vermögen erprobte er 1930 in einer kleinen Schrift, „Die | |
| Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland“. Was er schon in vielen | |
| Feuilletons seismografisch aufgezeichnet hatte, die tektonische | |
| Verschiebung der Klassengesellschaft, verdichtete er zu einer genauen | |
| Beschreibung der Angestelltenkultur, weder kleinbürgerlich noch | |
| proletarisch. Zwei Jahre zuvor hatte er anonym seine erstaunlichste | |
| Publikation vorgelegt: „Ginster. Von ihm selbst geschrieben“. | |
| Joseph Roth hatte sofort die Bedeutung dieses Buchs erkannt, das als | |
| schlichte Autobiografie missdeutet würde. Das Individuum Ginster | |
| verschwindet hinter der Erfahrung des Übergangs, zutiefst in die Gegenwart | |
| versenkt und zugleich exterritorial die Gesellschaft abwartend beobachtend. | |
| Der Zeitgeist lässt sich mit Händen greifen. Der Roman „Georg“ sollte | |
| anschließen; aber die Machtübernahme der Nazis kostete Kracauer seinen Job | |
| als Pariser Auslandskorrespondent der Frankfurter Zeitung und raubte dem | |
| Buch den Markt. „Georg“ erschien erst posthum. | |
| ## Der unkittbare Riss | |
| Ohne Einkommen fand sich Kracauer im französischen Exil wieder. Auf keinen | |
| Fall wollte er sich ans Institut für Sozialforschung anbiedern, dessen | |
| Stiftungsvermögen Horkheimer vorausschauend ins Ausland verlagert hatte. | |
| Löwenthal und Adorno versuchten, ihm Aufträge zuzuschanzen. Doch der | |
| redaktionelle Umgang war alles andere als erfreulich; Kracauers Studie über | |
| faschistische Propaganda überarbeitete Adorno bis zur Unkenntlichkeit. Die | |
| theoretischen Differenzen wurden mit Unerbittlichkeit ausgetragen. | |
| Seinen Höhepunkt erreichte der Konflikt mit der Veröffentlichung von | |
| „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“, einer | |
| „Gesellschaftsbiographie“, mit der Kracauer einen finanziellen Erfolg | |
| landen zu können hoffte. Adorno warf ihm „Verrat“ an gemeinsamen | |
| schriftstellerischen Überzeugungen vor. Der Riss in der Freundschaft ließ | |
| sich nie mehr kitten, auch wenn Löwenthal und Adorno sich sehr bemühten, | |
| Kracauer in die USA zu holen. | |
| Nachdem die Kracauers im letzten Augenblick 1941 das lebensrettende Ufer | |
| des East River erreicht hatten, schlug er sich mit Projekten, Gutachten und | |
| Stipendien durch. Seine Frau hangelte sich von einem Job zum anderen. | |
| ## Beobachter des Nebeneinander | |
| Für das Paar ging es um das nackte ökonomische Überleben; kaum vorstellbar | |
| sind die psychischen Belastungen durch die gescheiterten Versuche, engste | |
| Verwandte und Freunde vor der Ermordung in Europa zu retten. Kracauer fand | |
| Unterschlupf im Filmarchiv des MoMA; seine Studien über den deutschen Film | |
| entstanden als Beitrag zum antifaschistischen Kampf. | |
| Es dauerte fast zwei Jahrzehnte, bis sich Kracauer in seinem | |
| Emigrationsland USA so weit etabliert hatte, dass er seine großen | |
| theoretischen Arbeiten, „Theorie des Films“ (1964) und „History. The Last | |
| Things Before the Last“, abschließen konnte. Die Differenz zur Kritischen | |
| Theorie Adornos fällt ins Auge; Kracauer bleibt ein genauer Beobachter des | |
| Nebeneinander von Allgemeinem und Besonderem. Eine dialektische Vermittlung | |
| versucht er nicht. | |
| Deutschland gegenüber blieb Kracauer bis zum Schluss misstrauisch, | |
| enttäuscht auch über das Verhalten alter Bekannter zur Nazizeit. Hinter | |
| jedem Hausmeister und jedem Nachbarn könnte ein alter Nazi stecken, | |
| vermutete er. Kurz vor seinem Tode 1966 war er Gast des Symposions „Poetik | |
| und Hermeneutik“ in Lindau, eingeladen und aufmerksam betreut von Professor | |
| H. R. Jauß. Eine bittere Ironie der Geschichte: Die prominente | |
| SS-Vergangenheit des berühmten Romanisten war damals noch unbekannt. | |
| 29 Nov 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Detlev Claussen | |
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